Deutschland und Israel Von Anfang an ein Polit-Spagat
Wie kann sich Deutschland für Palästinenser einsetzen, ohne Zweifel an seiner Solidarität mit Israel zu wecken? Das neue Buch von Historiker Daniel Marwecki zeigt, der Polit-Spagat reicht bis an die Anfänge der deutsch-israelischen Zusammenarbeit.
2008 hat Angela Merkel in der Knesset, dem israelischen Parlament, folgendes formuliert: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt: Die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar." Was die damalige Bundeskanzlerin mit Blick auf die Shoah formulierte, war für ihre Vorgänger keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Erst recht nicht in der frisch gegründeten Bundesrepublik.
Als Kanzler Konrad Adenauer 1952 den ersten „Entschädigungsvertrag“ mit dem jüdischen Staat unterzeichnete, das Luxemburger Abkommen, ging es noch um eine rein pragmatische Politik. Genauer: um Deutschlands Reputation.
Deutsche Israelpolitik als Entlastungspolitik ohne Aufarbeitung
Adenauer erinnert sich später als Ex-Kanzler an die Anfänge der deutsch-israelischen Zusammenarbeit: „Wir hatten den Juden so viel Unrecht getan, wir hatten solche Verbrechen an ihnen begangen, dass sie irgendwie gesühnt werden mussten oder wiedergutgemacht werden mussten, wenn wir überhaupt wieder Ansehen unter den Völkern der Erde gewinnen wollten.“ Wobei der CDU-Chef gleich noch einen Satz hinterherschob, der heute wohl als antisemitische Verschwörungstheorie gelten würde: „Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen.“
Im Luxemburger Abkommen verpflichtete sich die Bundesrepublik, rund drei Milliarden D-Mark an Israel zu zahlen, größtenteils in Form von Waren. In den ersten beiden Jahren des Abkommens habe der Wert der Lieferungen nicht mehr als 0,2 Prozent des deutschen Bruttosozialproduktes betragen, dokumentiert Daniel Marwecki in seinem Buch „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“. Der Historiker führt aus:
Die frühe deutsche Israelpolitik war Entlastungspolitik ohne Aufarbeitung, aber sie bändigte auch den deutschen Antisemitismus, zwang, den Blick auf den jüdischen Staat zu lenken, zwang, den Blick auf das Zentrum des deutschen Vernichtungswerks zu richten, den Holocaust.
Daniel Marwecki
Israel war auf deutsche Waffenlieferungen angewiesen
Marwecki, der in Hongkong Internationale Beziehungen lehrt, hat sein Buch zuerst auf Englisch veröffentlicht, unter dem Titel „Germany and Israel: Whitewashing and Statebuilding“. Seine Bilanz:
Für Deutschland ging es um kostengünstige politische Rehabilitation. Für Israel ging es um den Aufbau und die Verteidigungsfähigkeit des Staates.
Daniel Marwecki
In Israel gab es starken Protest gegen jegliche Zusammenarbeit – und gegen einen Persilschein für das ehemalige Nazi-Deutschland.
Denn bei den Holocaust-Überlebenden und Vertriebenen waren die Wunden noch frisch. Doch der junge jüdische Staat, ständig bedroht von seinen arabischen Nachbarn, war auf deutsche Wirtschafts- und auch Waffenlieferungen angewiesen. „Und dementsprechend", so schreibt Marwecki, "brachten die Befürworter des Abkommens vor allem ein Argument ins Spiel: Wäre nicht ein starker und autonomer jüdischer Staat der größte Sieg über den Nationalsozialismus und den Antisemitismus? Ironie der Geschichte, dass es dazu Aufbauhilfe aus Deutschland brauchte.“
Nach Marweckis Recherchen war Deutschland bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 erste Schutzmacht des jüdischen Staates, erst danach übernahmen die USA diese Rolle. Die Bundesrepublik lieferte und liefert vor allem existentielle Militärgüter nach Israel, bis hin zu hochmodernen U-Booten der Dolphin-Klasse. Marwecki führt aus:
Die speziell nach israelischen Bedürfnissen angefertigten Dolphins sind das Rückgrat der israelischen Marine. Weil sie atomar bestückt werden können, sind sie ein essenzielles Abschreckungsmittel gegenüber einem iranischen Regime, das nach der Atomwaffe strebt.
Daniel Marwecki
Erkaufte Versöhnung
Das Buch zeigt allerdings auch, dass die Bundesrepublik ihre Israel-Unterstützung gern geheim hielt, um ihren Zugang zu den arabischen Staaten - und zu deren Öl - nicht zu verlieren. Ein weiterer Polit-Spagat: Während die deutsche Regierung „auf ritualisierte, formelhafte Weise“ über Israel spreche, so der Autor, teile die Mehrheit der Gesellschaft diese Regierungslinie nicht. Studien belegten: Die deutsche Staatsräson sei im Volk kaum verankert. „Eine ähnliche Kluft zwischen Regierungshandeln und gesellschaftlichen Einstellungen ist jedoch auch in Großbritannien oder den USA zu beobachten“, so Marwecki.
Daniel Marwecki analysiert auch die antisemitischen Untertöne in der deutschen Politik – ob bei den Parteien der politischen Mitte, bei der rechten AfD oder in der linken Israelboykottbewegung BDS. Sein Buch, das vor dem Hamas-Terrorüberfall auf Israel geschrieben wurde, hebt zwar die Bedeutung der jahrzehntelangen deutsch-israelischen Militärkooperation hervor, gibt aber leider keinen Überblick über die geheimdienstliche Zusammenarbeit beider Länder, die einen ähnlichen Stellenwert haben dürfte.
Der renommierte US-Historiker Jeffrey Herf kritisiert zudem in einem Fachbeitrag, Marwecki habe zwar im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin geforscht, aber nicht genug französische oder englischsprachige Akten und Aufsätze einbezogen. So werde etwa die historische Rolle Frankreichs für den Aufbau Israels nicht ausreichend gewürdigt. Dennoch: Marweckis zentraler Beweisführung für eine Absolution, die das Nachkriegsdeutschland vom jüdischen Staat „erkaufte“, tut dies keinen Abbruch. Sein Buch bietet eine differenzierte und flüssig geschriebene Orientierung, um das - bis heute - komplexe deutsch-israelische Verhältnis zu verstehen.
Daniel Marwecki: "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson" Wallstein Verlag, Göttingen 212 Seiten, 22 Euro.