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Daniela Krien: "Die Liebe im Ernstfall"
Irgendjemand kommt immer zu kurz

Fünf Frauen Mitte 40 stehen im Zentrum von Daniela Kriens Roman "Die Liebe im Ernstfall". So unterschiedlich ihre Leben auch sind, so sehr eint sie die Erfahrung, dass jede Lebensentscheidung ihren Preis hat. Krien schreibt eindringlich, mit großer Genauigkeit und ohne ideologischen Furor.

Von Julia Schröder |
Zu sehen ist die Autroin Daniela Krien und das Cover ihres Romans "Die Liebe im Ernstfall".
Die Liebe in postpatriarchalen Zeiten ist für Frauen nicht unbedingt einfacher, schreibt Daniela Krien (Autorenfoto: Maurice Haas, Cover: Diogenes Verlag)
Der Mensch ist, wie Ian McEwan es formulierte, neben vielem anderen ein materielles Ding: leicht zu zerstören und gar nicht so leicht wieder zu heilen. Was für den Körper gilt, das gilt auch für die menschliche Seele. Und Daniela Krien erzählt davon in ihrem neuen Roman auf einprägsame, schmerzhafte, lange nachklingende Weise.
Fünf miteinander verwobene Frauenschicksale
Um fünf Frauen dreht sich das Buch, alle fünf geboren Mitte der Siebziger wie die Autorin. Frauen mit einander berührenden Lebensgeschichten, die wir an unterschiedlichen Punkten dieser Lebensgeschichten kennen lernen.

Paula, mit der dieser Erzählreigen beginnt, ist eine alleinerziehende Buchhändlerin und arbeitet sich, auch dank einer neuen Liebe, aus einer schweren Depression heraus. Ihre Jugendfreundin Judith, erfolgreiche Ärztin, organisiert ihr Geschlechtsleben mit Hilfe der effektiven Algorithmen einer Datingplattform; für zartere Bedürfnisse hat sie ihr Pferd.
Judiths Patientin Brida wiederum ist Schriftstellerin, kommt aber wegen ihrer Pflichten als Familienfrau nicht zum Schreiben. Vor vielen Jahren hat Brida der Geigenlehrerin Malika – der vierten Heldin in diesem Buch – deren Geliebten Götz abspenstig gemacht und geheiratet. Die lange Einsamkeit der einst verlassenen Malika hat überraschend ein Ende, als Malikas schöne Schwester, die Schauspielerin Jorinde, mit einem Mal auf ihre Hilfe angewiesen ist.
Spagat zwischen Liebe und Selbstverwirklichung
So unterschiedlich diese fünf Frauen sind, so typisch für ihre Generation sind die Dinge des Lebens, mit denen sie irgendwie klarkommen müssen – etwa, als Brida sich für das Schreiben und gegen ihre Ehe entschieden hat:

"Zwar lebten Götz und sie nicht mehr zusammen und teilten keinen Alltag mehr, aber sie schliefen noch miteinander, und immer hatte sie das Gefühl gehabt, ein einziges deutliches Zeichen genügte für einen Neuanfang. Sie hatten sich auf das Nestmodell geeinigt – die Kinder blieben in der Wohnung, und die Eltern wechselten sich ab. (…) Regelmäßig besprachen sie äußerst vernünftig die Belange der Kinder."

Die Folgen dieses Arrangements – geschiedene Eltern, die weiterhin heimlich Sex haben – sind einschneidend für Brida. Ebenso einschneidend, wie es für Paula ist, als ihr Kind stirbt und ihr Mann ihr die Schuld gibt:

"Der Tod ihres Babys entfernte sie vom Durchschnitt. Ihr Schmerz blieb ungeteilt. Es war wie ein nachwachsender Kuchen, von dem sie aß und aß, ohne dass er je kleiner wurde. An ihrem Leid mussten sich alle messen lassen. Kaum jemand bestand."

Was in Daniela Kriens Roman die Leben dieser fünf Frauen beschädigt oder bricht, sind allerdings nicht immer die großen Katastrophen, nicht einfach überforderte oder selbstgerechte Männer oder auch die Hypotheken der Kindheit. Es sind, müssen sie feststellen, die eigenen Entscheidungen, aus denen sich das Schicksal formt. Sie alle erleben Augenblicke, in denen sie sich wie die trauernde Paula zu erinnern versuchen, wann "die Dinge außer Kontrolle geraten" oder dem Glück am ähnlichsten gewesen waren.
Entscheidungen werden plötzlich irreparabel
Hinter diesen Schlaglichtern auf Momente von Verlust oder Verirrung schimmern dann auch die großen Fragen auf, die sich Frauen im Postpatriarchat stellen, die nach Kindern und Karriere beispielsweise, nach Freiheit und Verantwortung, nach Selbstbestimmung und Hingabe - und nach dem Preis, den nicht nur Daniela Kriens fünf Frauen für jede Entscheidung, wie sie auch ausfallen mag, zu zahlen haben.

Die Liebe, so geht der weiterhin an ihren geschiedenen Mann gefesselten Schriftstellerin Brida irgendwann auf, die Liebe ist vom titelgebenden Ernstfall aus zu betrachten. Denn, wie sie sagt: "Liebe ist eine Tat". Doch wie lebt es sich nach dem Ende der Liebe? Oder noch schlimmer: Wie lebt es sich, wenn die Liebe zwar andauert, aber beim anderen kein Echo mehr findet? Bridas Fazit, so einfach es lautet, trifft ziemlich genau den Nagel gegenwärtiger Beziehungsfragen auf den Kopf:

"Die Liebe ist nicht das Miteinander zweier unabhängiger Individuen, die sich jederzeit wieder auf die eigene Selbstständigkeit zurückziehen können. Der geschützte Raum einer friedlichen Welt, in der Mann und Frau tagtäglich entscheiden, was es heißt, ein Mann oder eine Frau zu sein, hat sie vergessen lassen, dass es darunter etwas anderes gibt. Eine alte Ordnung, deren Notwendigkeit nur vorübergehend außer Kraft gesetzt ist."
Was, wenn die Liebe aufgebraucht ist?
In dieser düsteren Diagnose spricht eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Doch die 1975 geborene Daniela Krien legt auch in der Rollenprosa einen Finger in den neuralgischen Punkt gegenwärtiger Lebensentwürfe. Irgendwer kommt immer zu kurz. Das liest sich eindringlich und berührend, ohne ideologischen Furor, aber mit unglaublich genauem Blick auf alltägliche Erfahrungen.

Die Qualitäten von Daniela Kriens Prosa erschöpfen sich jedoch nicht in treffenden Zustandsbeschreibungen. Krien hat "Die Liebe im Ernstfall" in Leipzig angesiedelt, wo sie selbst seit langem lebt. Das verortet die mit sehr feinen zeitlichen Versetzungen erzählten Biografien nicht nur in bestimmten Landschaften, sondern stellt sie auch in den Lauf der Zeitgeschichte. Besonders gut gelingt ihr das in den Passagen über die Eltern von Malika und Jorinde, zu DDR-Zeiten ein gefragtes Intellektuellenpaar im exemplarischen Schillern zwischen bohemiger Dissidenz und unvermeidlicher Anpassung, die den neuen Verhältnissen mit zunehmender Verbitterung begegnen.

Mit vergleichbarer Souveränität handhabt Daniela Krien die Form ihrer Versuchsanordnung. Die wechselnden Perspektiven dieses Erzählreigens setzen sich immer neu zusammen und fügen sich am Ende zu einem Bild von der Mitte des Lebens, nach der es trotz der Beschädigungen keinen Anlass gibt, alle Hoffnung auf Heilung fahren zu lassen.
Daniela Krien: "Die Liebe im Ernstfall"
Diogenes Verlag, Zürich. 288 Seiten, 22 Euro