Tanya Lieske: Uns hat heute die traurige Nachricht erreicht, dass der russische Schriftsteller Daniil Granin im Alter von 98 Jahren in seiner Heimatstadt St. Petersburg gestorben ist. Granin war Ingenieur und Schriftsteller und ein Jahrhundertzeuge. Als die deutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion angriffen hatte und die Stadt Leningrad eingekesselt war, da meldete Granin sich als Freiwilliger für die Rote Armee und kämpfte an der Leningrader Front. Die Erinnerung an die fast drei Jahre währende Belagerung der Stadt, an das Leid der Zivilbevölkerung und an die mehr als eine Million Toten prägte Granins Leben und sein Werk. Vor drei Jahren war Daniil Granin zu Gast im Bundestag, er nahm als Ehrengast teil an einer Feierstunde zum Gedenken der Blockade.
"Das prägende Ereignis in seinem Leben"
Daniil Granin begann sein Leben als Schriftsteller 1949 nach dem Krieg, er hat Erzählungen, Reiseberichte und Romane geschrieben. 2011 erschien der stark autobiografisch gefärbte Roman Mein Leutnant, übersetzt hat Jekatherina Lebedewa, der Verlag ist der Aufbau Verlag, und mit dessen Leiter Gunnar Cynybulk habe ich vor der Sendung gesprochen und ihn gefragt, wie die Blockade von Leningrad sein Leben und sein Werk beeinflusst hat?
Gunnar Cynybulk: Ich glaube, dass es das überhaupt prägende Ereignis in seinem Leben war. Das hat ihn verpflichtet zur pazifistischen Arbeit, zur Versöhnungsarbeit, aber auch zur Erinnerungsarbeit. Seine wichtigen Werke, aus meiner Sicht, der ich nicht komplett mit dem gesamten Werk vertraut bin, aber das sehe ich doch sehr deutlich, und seine wichtigsten Werke sind "Das Blockadebuch", in dem er zusammen mit Adamowitsch Dokumente sammelt zur Blockade, zur Leningrader Blockade. Ein sehr wichtiges, umfangreiches Buch, das wir im Aufbau-Verlag wieder auflegen, und dann das andere Werk "Mein Leutnant", sein später Roman. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen, und er fühlte sich verpflichtet, davon zu künden, Zeugnis abzulegen und auch Versöhnungsarbeit zu betreiben zwischen den Deutschen und den Russen.
Unzensierte Neuausgabe von "Der Leutnant"
Lieske: Kann man sich dieses "Blockadebuch" aus den 70er-Jahren ein bisschen so vorstellen, wie Walter Kempowskis "Echolot", ist das eine ähnlich gelagerte Tätigkeit gewesen?
Cynybulk: Das ist ein ganz guter Vergleich, finde ich. Es ist in den 80er-Jahren zum ersten Mal erschienen, '84 der zweite Band, '87 der erste Band in sonderbarer Reihenfolge im Verlag Volk und Welt. Es ist aber zensiert erschienen, und das ist für uns Verpflichtung und Anlass, das Buch im Herbst 2018 noch mal komplett unzensiert und vollständig vorzulegen, aber der Vergleich ist sehr gut. Die Methode ist vergleichbar.
"Auch einer ironischen Erzähltradition verpflichtet"
Lieske: Lässt sich darauf schließen, dass er ein realistischer Erzähler war oder hat er noch ganz andere Stilmittel und Formen beherrscht und gepflegt?
Cynybulk: Er hat ganz andere Stilmittel und Formen beherrscht und geprägt. Es gibt eine große russische Tradition des fantastischen und ironischen Erzählens. Der fühlte er sich auch verpflichtet, aber hier als Zeuge und als Zeitzeuge war er natürlich dem Realismus verpflichtet, der lange Jahrzehnte verpönt war in der russischen Literatur, muss man sagen, gerade nach der großen Zeitenwende, ist der sozialistische Realismus ein bisschen in Verruf geraten. Granin fühlte sich dem Zeugnisablegen verpflichtet und eben aber auch einer ironischen Erzähltradition. So sehe ich ihn.
Roman mit zwei Perspektiven
Lieske: Bei Ihnen zuletzt erschienen im Aufbau-Verlag, der Roman "Mein Leutnant". "Echte Angst, Angst und Schrecken erfuhr ich", das ist der erste Satz, und dann, ja, einige 80 Seiten später kommt der Satz: "Von mir spaltete sich Leutnant D. ab". Was sagt uns dieser Satz?
Cynybulk: Das ist ganz toll. Es gibt zwei Erzähler, und es gibt zwei Perspektiven im Roman. Wir haben zum einen, zum Auftakt, diese Ich- und Wir-Perspektive, wo sich der Erzähler mit dem Subjekt, das damals in diesem Krieg gestolpert ist und seine Schützengrabenwahrheit, wie Granin sagt, erfährt, der Erzähler identifiziert sich, und er ist immer noch erschreckt und traumatisiert, und dann gibt es aber einen, der diesen jungen Mann, der zum Teil naiv war, der zu patriotisch war und der zu unwissend war, der nicht gesehen hat, dass die Rote Armee nicht ausreichend mit Waffen, Munition und vielleicht auch moralischem Rüstzeug ausgestattet ist, ein Erzähler spaltet sich ab und betrachtet diesen jungen Mann kritisch, und das ist der, der eben später im Buch anfängt zu erzählen, der das jüngere Ich analysiert, und das ist Erinnerungsliteratur der besten Sorte. Wenn wir auf der einen Seite das damalige, Wahrheit erlebende Ich haben und auf der anderen Seite ein korrigierendes und befragendes Erzähler-Ich eher haben, ich finde das ganz hervorragend gelöst.
Das gespaltene Bewusstsein
Lieske: Diese Erinnerungsliteratur trägt natürlich auch dem Umstand Rechnung, dass ein Jahrhundertzeuge wie Granin vielleicht sogar mehrere Ichs brauchte, um diesem Jahrhundert standzuhalten. Er war ja Ingenieur, das war sein gelernter Beruf, er war Infanterist bei der Roten Armee, er war Parteimitglied der KPDSU, er hat, wie gesagt, die Belagerung von Leningrad erlebt, aber auch die Schrecken des Stalinismus in seiner eigenen Familie erfahren. Die vielen Ichs, ist das vielleicht auch ein Stück, ja, Trauerarbeit, sagt man so gerne im Deutschen.
Cynybulk: Ja, ich glaube ja. Das ist es, und ganz interessant ist das, was Helmut Schmidt im Vorwort zum Roman "Mein Leutnant" sagt – die beiden haben sich 2014 zum ersten Mal kenngelernt: Sie standen sich während der Blockade gegenüber, natürlich ohne voneinander zu wissen, sie waren Feinde und wurden spät Freunde, und Helmut Schmidt berichtet genau darüber, über das gespaltene Bewusstsein. Auf der einen Seite, die Pflicht zu haben, dem Land zu dienen, und auf der anderen Seite nicht an die Nazis zu glauben und dann später auch zu sehen, dass sie eben nicht nur Lügner und Scharlatane sind, sondern Verbrecher.
"Er stand doch immer zwischen den Stühlen"
Ich glaube, dass dieses gespaltene Bewusstsein überhaupt die Katastrophe des Jahrhunderts abbildet, weil hätten Menschen wie Helmut Schmidt ihr Bewusstsein zusammenhalten können, wäre es sicherlich zu mehr Widerstand gekommen, hätte mehr Wiederstand ausgeübt werden können, aber das gespaltene Bewusstsein, das wir eben auch bei Granin feststellen, ist, glaube ich, charakterisierend für dieses Jahrhundert, und Granins Leistung ist es, es dann hier eben auch in der Erzählperspektive aufzuzeigen, und, ja, vielleicht muss man verschiedene Bewusstseinsebenen haben, um erstens nicht unterzugehen, zu überleben und zweitens, um nicht verrückt zu werden im wahrsten Sinne des Wortes. Granin war ein Patriot, immer, aber er war gleichzeitig natürlich auch der Wahrheit verpflichtet. Er hat immer kritisch betrachtet, was die Partei getrieben hat, auch später. Er war kein expliziter Gegner Putins und Medwedews, aber er hat es auch nicht völlig abgelehnt, was er da gesehen hat. Er stand doch immer zwischen den Stühlen, und das charakterisiert eben auch sein Bewusstsein.
Lieske: Er sprach Deutsch, hatte die deutsche Sprache in der Schule gelernt, auch wenn wir ihn eben im O-Ton in seiner russischen Muttersprache gehört haben. Granin musste im Krieg auch dolmetschen, und schreibend hat er sich später beschäftigt unter anderem mit der Stadt Wernigerode im Harz, mit der Thomaskirche in Leipzig, also kulturgesättigte Orte. Woher kam denn seine Vorliebe für die deutsche Sprache und Kultur?
Cynybulk: Ich kann es Ihnen nicht genau beantworten. Ich weiß aber, dass in dieser Generation die deutsche Kultur oft die erste fremdsprachige Kultur und Sprache war, die diese Generation in der Schule gelernt hat, neben dem Französischen, das vielleicht im 19. Jahrhundert noch wichtiger war. Seine Bücher sind ja auch dann ins Deutsche übersetzt worden, und er hat als einer der wenigen fremdsprachigen Autoren den Heine-Preis 1983 auch bekommen.
Granin sollte man "fortgesetzt lesen"
Lieske: Genau, hochgeehrt in Ost und West, Granin hat den Verdienstorden für das Vaterland – das ist die russische Seite – und das Bundesverdienstkreuz bekommen. Er war nacheinander natürlich Mitglied der Akademie der Künste in der DDR und in Berlin. Ein Mann, der Grenzen überwunden hat. Woran soll man denken, wenn man seinen Namen künftig hört, Herr Cynybulk?
Cynybulk: Ich denke, dass man ihn fortgesetzt lesen sollte, dass man seine Beschreibung der Blockade, seine Sachbeschreibung und aber auch die literarische Verarbeitung sich immer wieder vor Augen führen muss, um nicht zu vergessen, dass der Krieg eine wahrhaftige Hölle ist, in der wir uns nicht aufhalten dürften, und man soll sich um tiefen Humanismus und Pazifismus und vom Eingeständnis der eigenen Fehler anstecken lassen.
Lieske: Nicht mit Menschen muss man sparsam umgehen, sondern mit Munition. Der sowjetische Schriftsteller Daniil Granin hat das geschrieben, er ist im Alter von 98 Jahren in seiner Heimatstadt St Petersburg gestorben. Das war sein Verleger Gunnar Cynybulk.
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