Danilo Kiš war 25 Jahre alt, ein beginnender Schriftsteller, als er 1960 an einem Schreibwettbewerb der Vereinigung Jüdischer Gemeinden im damals noch jugoslawischen Belgrad teilnahm: Seinen Beitrag schrieb er, wie dem unbedingt empfehlenswerten Nachwort von Ilma Rakusa zu entnehmen ist, in nur einem Monat. Es war sein zweiter Roman, der Titel: "Psalm 44". In zweifacher Hinsicht ist der Text einzigartig in Danilo Kišs Werk - nie wieder wird er aus der Perspektive einer Frau erzählen und nie wieder wird er die Gräueltaten der Nationalsozialisten und ihrer Helfershelfer in einer so schonungslosen Weise schildern.
Zugleich aber setzt er mit "Psalm 44" das Thema, dessen literarische Darstellung ihn sein Leben lang herausfordern wird: der Holocaust auf dem Balkan, zu dessen Opfern auch Mitglieder seiner Familie zählen. Seine große Romantrilogie sei hier erwähnt, ein Kosmos aus Familien- und Weltgeschichte: "Frühe Leiden", eine Kindheitsrecherche, "Garten, Asche", die bewegende Suche nach dem Vater, der in Auschwitz ermordet wurde, und "Sanduhr", der literarische Versuch, einen zufällig erhaltenen Brief eben dieses Vaters auszudeuten.
Holocaust auf dem Balkan
"Psalm 44" erzählt von Flucht und Rettung einer jungen Mutter mit ihrem sieben Wochen alten Säugling aus Ausschwitz-Birkenau im November 1944. Die eigentliche Handlung erstreckt sich über wenige Stunden - die Zeit, bevor die geplante Flucht beginnt: Die Mutter trocknet die Windeln des Kindes am eigenen Körper, sie lauscht dem "babylonischen Phantasieren", wie Kiš schreibt, einer sterbenden Mitgefangenen. Sie wechselt einige wenige Sätze mit einer zweiten Frau, sie heißt Jeanne, ist aus politischen Gründen interniert und die kühle, überlegte Organisatorin der gefährlichen Aktion.
Die Stunden, in denen die junge Mutter versucht, etwas Schlaf zu bekommen, dehnen sich: Alles geschieht wie in Trance oder Zeitlupe und ist Ausdruck und zugleich Steigerung der unerträglichen Spannung und Angst vor dem gewagten Schritt. Doch immer wieder zieht sich die gedehnte Zeit blitzartig zusammen und gibt Erinnerungen der jungen Mutter frei: Die ersten antisemitischen Anfeindungen von Mitschülerinnen nach dem deutschen Überfall auf Jugoslawien im April 1941, die bald danach erlassenen diskriminierenden antijüdischen Gesetze, der Vater, der über dem Verlust seiner Arbeit und seiner Bürgerrechte aus Verzweiflung zum Trinker wird.
Schließlich das von den ungarischen Besatzern Nordserbiens verübte Massaker an Juden und Serben in Novi Sad, das als "Razzia" traumatisch in die Geschichte der Stadt eingegangen ist: Im klirrend kalten Januar 1942 treiben Soldaten und Polizisten die Menschen aus den Häusern, um sie grausam zu quälen, zu töten und mit Stangen unter das Eis der Donau zu stoßen. 800 Opfer sind zu beklagen. Als Vierzehnjährige erlebte die junge Frau das schreckliche Geschehen aus nächster Nähe. Wie durch ein Wunder blieb sie verschont.
Razzia in Novi Sad
Seiner Heldin leiht der Autor hier das Schicksal seines eigenen Vaters, der die "Razzia" in Novi Sad im letzten Augenblick überlebte, weil sie auf Geheiß einer höheren Dienststelle abgebrochen wurde. Dem Leid seines Vaters, den schweren psychischen Folgen dieses Erlebnisses hat Danilo Kiš später mehr als ein literarisches Denkmal gesetzt.
Den Lesern des Romans sei vorab die Lektüre des titelgebenden Psalms 44 ans Herz gelegt. Dieser Bibeltext und die Bibel überhaupt, das Alte wie das Neue Testament, spiegeln sich auf intensive und vielfältige Weise im Roman. Sie erzeugen Tiefe und ein reiches Geflecht von Bezügen und Motiven, das Danilo Kišs zukünftige Meisterschaft erkennen lässt. Der Psalm 44 ist eine an Gott gerichtete Klage, warum er seinem Volk nicht helfe in der Not - schließlich habe er Jakob Hilfe verheißen: "Warum verstößt du uns denn nun und lässt uns zuschanden werden? ... du lässt uns fliehen vor unserem Feind, dass uns berauben, die uns hassen. Du gibst uns dahin wie Schlachtschafe ..." Der Psalm endet mit einem Appell: "Mache dich auf, hilf uns und erlöse uns um deiner Güte willen!"
Deus ex machina
Auf der Folie des Psalmentextes gelesen, erscheint der Roman wie eine beglaubigte Ausgestaltung der uralten Worte: Not und Elend, Flucht und Rettung mit Gottes Hilfe, wobei die Rolle Gottes in Ausschwitz-Birkenau ein allgegenwärtiger Helfer namens Max spielt: Die Frauen haben ihn noch nie zu Gesicht bekommen, aber in brenzligen Situationen tut er immer genau das Richtige.
Sie bezeichnen ihn mehrfach als Deus ex machina, als unsichtbaren starken Dritten, der Wunder vollbringt. Die pragmatische Jeanne nennt ihn handfest einfach einen "verdammt geschickten Kerl". Er sorgt dafür, dass die verbotene Liebesnacht zwischen den beiden Häftlingen, in der das Kind gezeugt wird, unentdeckt bleibt. Er hilft bei der Flucht.
Auf die Bibel verweisen auch die Namen der Liebenden, Jakob und Maria. Das Kind ist natürlich ein Sohn, der seiner Mutter den Status einer Madonna verleiht. Als Jakob, der Vater des Kindes, nach dem Krieg erfährt, dass Maria lebt und sie einen Sohn haben, spricht er euphorisch von seiner "Auferstehung".
Der 25-jährige Danilo Kiš nahm sich im kommunistischen Jugoslawien die Freiheit, der Bibel eine zentrale Bedeutung in seinem Roman einzuräumen und trotz der Abfassung für einen Wettbewerb der Jüdischen Gemeinden auf christliche Motive nicht zu verzichten. Die Auseinandersetzung mit Gott, dem Glauben und der Hoffnung durchzieht den Roman wie ein roter Faden.
Danilo Kiš wird seiner Unabhängigkeit treu bleiben, sie ist Teil seiner kompromisslosen Poetik. Dass einige wenige Details des Lagers Auschwitz-Birkenau in seinem Roman der Wirklichkeit nicht entsprechen, mag er entweder nicht gewusst oder ignoriert haben:
"Wenn eine Erzählung die Gnade der Form erlangt", sagte er, "ist sie nicht länger Träger einer expliziten Idee oder Botschaft, eine Erzählung ist keine Nachricht und überbringt keine Nachrichten, weder falsche noch wahre (eine Erzählung ist keine Zeitung): eine Erzählung ist eine mögliche Art, die Welt zu sehen und zu spüren und diese Möglichkeit [...] ist die elementarste Form schöpferischer Freiheit."
Danilo Kiš: "Psalm 44"
Aus dem Serbokroatischen von Katharina Wolf-Griesshaber
Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa.
Hanser Verlag, München. 135 Seiten, 20 Euro.
Aus dem Serbokroatischen von Katharina Wolf-Griesshaber
Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa.
Hanser Verlag, München. 135 Seiten, 20 Euro.