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"Dann wird es weiterhin ein Glaubwürdigkeitsproblem geben"

Nach Recherchen der ARD-Sportredaktion war Biathlon-Bundestrainer Frank Ullrich aktiv in das Dopingsystem der DDR eingebunden. Das bestätigen auch die Ex-Biathleten Jens Steinigen und Jürgen Wirth. Ullrich hingegen bestreitet das weiterhin. Steinigen fordert vom Deutschen Skiverband DSV, offensiv mit dem Thema umzugehen.

Ex-Biathlet Jens Steinigen und ARD-Doping-Experte Hans-Joachim Seppelt im Interview | 28.03.2009
    Jessica Sturmberg: Die Diskussion um Biathlon-Bundestrainer Frank Ullrich und seine Vergangenheit dreht sich um die Frage, inwieweit Ullrich am Dopingsystem in der DDR beteiligt war. Es gibt zwei Zeugenaussagen dazu: zum einen vom Staffel-Olympiasieger von 1992, Jens Steinigen, der bereits 1991 auf die Dopingpraktiken im DDR-Biathlon hinwies. Zum anderen die neuere Aussage von Jürgen Wirth, Staffel-Weltmeister von 1987. Der Deutsche Skiverband hat auf die jüngsten Anschuldigungen mit einem Gegenangriff auf Jürgen Wirth reagiert. Seine Aussagen sind in Zweifel gezogen worden.

    Ich bin jetzt verbunden mit ARD-Dopingexperte Hans-Joachim Seppelt und zugeschaltet ist uns aus Traunstein, Jens Steinigen, guten Abend!

    Hans-Joachim Seppelt: Guten Abend!

    Jens Steinigen: Guten Abend!

    Jessica Sturmberg: Herr Seppelt, haben Sie mit diesem Gegenwind vom Deutschen Skiverband gerechnet?

    Hans-Joachim Seppelt: Na klar ist es ja zu erwarten gewesen, dass der Deutsche Skiverband reagieren würde, es ist schon erstaunlich zu sehen, wie das gelegentlich bei diesem Verband mit einer solchen Heftigkeit immer wieder passiert. Klar ist, dass sie reagieren. Was mich immer wundert beim Deutschen Skiverband ist die Tatsache, dass wir ja von einem historischen Fakt nicht in Bezug auf die Person, aber von der Gesamtthematik ausgehen, nämlich von einem flächendeckenden Doping im DDR-Sport, insbesondere im DDR-Wintersport, so auch im Biathlon, das ist ja durch die Akten und Faktenlage hinlänglich eigentlich bewiesen. Da gibt es zahlreiche Hinweise, auch Zeugen, Dopingopfer und das geht bei der ganzen Diskussion um die Frage, ob Personen denn konkret auch daran beteiligt waren, dann ziemlich unter, und das finde ich eigentlich sehr bedauernswert, also die sportgeschichtliche Sensibilität bei diesem Verband, das ist jedenfalls nach meinem Geschmack so, vermisse ich sehr.

    Jessica Sturmberg: Das Interessante ist ja, Herr Steinigen, dass Sie vor 18 Jahren schon einmal darüber berichtet haben im "Aktuellen Sportstudio", und damals haben Sie auch erzählt, dass die Trainer der DDR-Biathlon-Mannschaft sie versuchten, von der Dopingeinnahme zu überzeugen, inwieweit sind Sie überrascht, dass das jetzt, nach 18 Jahren, wieder ein Thema ist?

    Jens Steinigen: Also das überrascht mich natürlich schon in gewisser Weise, die Fakten liegen ja im Grunde genommen seit 1991 auf dem Tisch, das, was jetzt an Vorwürfen erhoben wird, auch vom Jürgen Wirth, ist also im Grunde genommen nichts neues, für mich stellt sich natürlich schon die Frage, warum es so lange dauert, bis man über diesen Punkt einmal wieder diskutiert.

    Jessica Sturmberg: Ist denn in den vergangenen 18 Jahren zu wenig darüber gesprochen worden nach Ihrer Ansicht?

    Jens Steinigen: Ja gut, nach meiner Sicht muss man nicht 18 Jahre insgesamt darüber sprechen, es wäre sicherlich sinnvoll gewesen, wenn, sagen wir mal, 1991, 1992 alle Verantwortlichen die Karten auf den Tisch gelegt hätten, dann hätte man die Verantwortung des Einzelnen sicherlich besser herausfiltern können, und dann hätte man entscheiden können, war seine Rolle so schwerwiegend im DDR-Sport, dass man ihn überhaupt nicht mehr in der Zukunft beschäftigen kann, oder hatte er keine wesentliche Einflussmöglichkeiten, dass man durchaus sozusagen es für glaubwürdig halten kann, wenn er Abstand von Dopingpraktiken nimmt und ihn auch weiter einsetzt.

    Jessica Sturmberg: Herr Seppelt, was ist nach Ihren Erkenntnissen im DDR-Biathlon damals los gewesen?

    Hans-Joachim Seppelt: Nun, es gibt Untersuchungen des Landeskriminalamtes Thüringen aus dem Jahre 1999, das war im Zuge der Ermittlungen rund um die Gesamtthematik, den Gesamtkomplex Doping im DDR-Sport, und diese Untersuchungen des LKA haben damals erbracht, dass rund 700 Sportler aus dem DDR-Wintersport eben in diese Dopingpraktiken involviert gewesen seien in gewissen Zeiträumen, es gab darunter zahlreiche Opfer, das ist also alles aktenkundig hinlänglich bekannt. Es gab zahlreiche Zeugeneinvernahmen und es gibt natürlich unglaublich viele Akten, viele Dokumente aus dem DDR-Sport, die darüber Aufschluss geben, dass eben im Wintersport, aber auch speziell im Biathlon gedopt worden ist, Medikationspläne, Anwendungskonzeptionen für unterstützende Mittel, es gibt sogar Milligrammangaben von Sportlern, die da konkret benannt werden, sowohl, was die bereits erfolgte Verabreichung betrifft, oder auch die Planung von Dopingmittelvergaben, da kann es eigentlich gar keinen Zweifel geben, und immer wieder schimmert nicht nur durch, sondern wird geradezu prägnant deutlich, dass natürlich fast alle Beteiligten - und Jens Steinigen hat das im Prinzip ja auch relativ deutlich auch benannt -, dass die Beteiligten darüber Bescheid wussten, was dort abgeht, dass eben der Gebrauch unterstützender Mittel Usus gewesen ist und genau das ist der Knackpunkt der ganzen Geschichte. Es geht eben nicht nur um Vorfälle, die 20 Jahre her sind, sondern es geht um die Frage der Glaubwürdigkeit von Menschen, die heute im deutschen Sport tätig sind, und da gehört zum Beispiel auch Frank Ullrich dazu, der ja vorgegeben hat, das immer wieder sagt, dass er mit Doping nie zu tun gehabt habe, dass er nichts von Dopingpraktiken gewusst habe oder wisse, im Biathlon der DDR weder als Athlet noch als Trainer, und wenn man eben diese ganzen Fakten benennt und die klaren Hinweise auch noch die Aussagen von Jürgen Wirth dazu zählt, dann kann man eigentlich nur zu dem Eindruck kommen, wenn man das Ganze eben ordentlich summiert und anguckt, das hier doch ein Glaubwürdigkeitsproblem besteht.

    Jessica Sturmberg: Herr Steinigen, wie realistisch ist es denn, dass Ullrich nie etwas von Doping im DDR-Biathlon gewusst hat?

    Jens Steinigen: Aus meiner Sicht ist das völlig unrealistisch. Wenn Frank Ullrich das System nicht mitgetragen hätte, dann wäre er gar nicht in die Position gekommen, Trainer der Nationalmannschaft zu sein. Also die Fälle, die mir bekannt sind von Trainern, die diese Konzeptionen nicht mitgetragen haben, die sind alle ganz, ganz schnell in der damaligen DDR entfernt worden.

    Jessica Sturmberg: Nach ihren Beobachtungen: Stand er schon 1986 mit der DDR-Auswahl in Verbindung?

    Jens Steinigen: Frank Ullrich verteidigt sich ja im Wesentlichen damit, dass er erst seit 1987 Trainer der Nationalmannschaft gewesen wäre, und dass er in diesem Rahmen überhaupt keine Einflussmöglichkeit gehabt hatte auf die Konzeptionen und auf die Anwendung unterstützender Mittel. Letzteres mag ich ihm noch zugestehen, aber ersteres ist nach meinem Dafürhalten ganz klar falsch. Ich habe natürlich auch meine Erinnerungen sozusagen selber noch mal überprüfen müssen, weil ich ja davon berichtet habe, dass Frank Ullrich 1986 im September in einer Besprechung zusammen mit dem damaligen Cheftrainer Bock versucht hat, mich zu überzeugen, die Mittel einzunehmen, und es gibt jetzt im Grunde genommen auch einen ganz klaren Hinweis, das wird auch von anderen damaligen Mannschaftskollegen unterstützt: Frank Ullrich war der Nachfolger als Lauftrainer in der Nationalmannschaft von Wolfgang Filbrich, hat diesen im April oder Mai 1986 abgelöst in dieser Position.

    Jessica Sturmberg: Nun gibt es also diese Berichte, die wir jetzt wieder vorliegen haben, wir haben das Ganze bereits vor 18 Jahren schon mal diskutiert. Und das Ganze läuft darauf hinaus, dass der Deutsche Skiverband an den Aussagen von Jürgen Wirth zweifelt, was denken Sie darüber, Herr Steinigen?

    Jens Steinigen: Ich wundere mich da schon. Warum stellt sich der Skiverband nicht die entscheidende Frage: War Frank Ullrich an dem System beteiligt, hat er davon gewusst, und hat er möglicherweise sogar die Einnahme von Mitteln gegenüber Sportlern angeordnet?
    Das ist doch hier die einzige, entscheidende Frage, und nicht die Frage, ob irgendwelche Worte in dem einen oder anderen Kontext zu verstehen sind; und ich verstehe dann den DSV wirklich nicht, aber ich kann aus meiner Sicht nur Parallelen zu den Vorgängen 1991 ziehen, da hat man im Grunde genommen genau das Gleiche gemacht, hat man auch geleugnet, hat man gesagt, das kann nicht sein, hat damals Kurt Hinze aufgefordert, gegen mich einen Prozess zu führen aufgrund meiner Aussagen im "Aktuellen Sportstudio", und war somit zumindest mal in der Lage noch die Zeit bis zur Olympiade 1992 zu überbrücken, und bis dann der Kurt Hinze nach der Olympiade zurückgetreten ist. Und dieses Verhalten aus meiner Sicht schadet dem Sport mehr als dass es ihm dient.

    Jessica Sturmberg: Welchen Umgang mit dem Thema würden Sie als sinnvoll erachten?

    Jens Steinigen: Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, jeden DDR-Trainer, der irgendwann einmal mit Doping gekommen ist, auf Lebzeit von seinem Beruf auszusperren, das kann sicherlich nicht der richtige Weg sein, aber klar ist doch, die Fakten müssen auf den Tisch und die Fakten liegen ja auch in weiten Teilen auf dem Tisch und die, die daran beteiligt waren, müssen selber ihre eigene Beteiligung zugestehen und wenn das der Fall ist, dann kann man aufgrund der Beteiligung feststellen, sind diese Leute überhaupt noch tragbar oder nicht? Das hängt vom Maß der Beteiligung ab und dann sind die Leute auch glaubwürdig, wenn sie sich hinstellen und sagen, für mich wird es im Sport nie wieder Doping geben. Aber solange gelogen und verdrängt wird, fehlt ja dann diese Glaubwürdigkeit und die braucht der Sportler ganz dringend.

    Jessica Sturmberg: Herr Seppelt, wie ist mit dem Thema in der Vergangenheit umgegangen worden und wie sollte in der Zukunft damit umgegangen werden? Es gibt ja aus der Politik auch die Hinweise darauf, dass das Ganze bereits verjährt sei?

    Hans-Joachim Seppelt: Ich glaube, dass der richtige Umgang mit der Geschichte eine offensive Haltung wäre, nicht nur in diesem Fall des Deutschen Skiverbandes, sondern aller deutschen Sportfachverbände. Denn diese Doping-Belastung, unter anderem ja auch eine Stasi-Belastung, die ja im Fall des zweiten Trainers Wilfried Bock jetzt auch eine Rolle spielen dürfte beim DSV. All diese Geschichten müssten anders angegangen werden, es wird ja immer das große Wort der Generalamnestie im Mund geführt. Ich glaube, da schließe ich mich den Worten von Jens Steinigen an, nur wer ehrlich erstmal die Karten auf den Tisch legt, der kann auch erwarten, dass danach in einer entsprechenden Art und Weise damit umgegangen wird, und ich glaube, auch im Fall Frank Ullrich würde ich an den DSV appellieren, auch eine sporthistorische Sensibilität viel stärker kennen zu lassen, auch in der Öffentlichkeit, denn wie gesagt, die Aktenlage, die Faktenlage, die Indizien, die zahlreichen, sind so eindeutig, und da wundert es mich immer, dass die hier auf Einzelfälle rekurriert wird anstatt das große Ganze, Problematische, Belastete, die Vergangenheit zu betrachten, und insofern wäre es aus meiner Sicht immer noch nicht zu spät, wenn man öffentlich deutlich machen würde, auch ein Frank Ullrich deutlich machen würde, dass er sicherlich an diesem System beteiligt gewesen ist, dafür gibt es eben doch zahlreiche Anhaltspunkte. Und dass er auch erklärt, in welchen Systemzwängen Sportler, aber auch Trainer und auch andere früher in der DDR gesteckt haben. Ich glaube, dass der DDR-Sport ein hochkomplexes System gewesen, das hat mit Doping zu tun, das hat auch mit Stasi-Verstrickungen zu tun, der ganze Bespitzelungsapparat, der dahinter steckte. All das ist eben hoch differenziert zu betrachten und ich glaube, wenn da ein Stück weit auch ein Weg nach vorne gegangen würde, dann würde man der Sportgeschichte und der Aufarbeitung der Sportgeschichte einen großen Gefallen tun, anstatt jetzt hier in Einzelkämpfen zu verharren und wieder an Rechtspositionen festzuhalten, die sich eben über kurz oder lang nicht aufrecht erhalten lassen. Ansonsten: Wenn man weiterhin leugnet, wenn man noch so tut, dass das, was vor 20 Jahren passiert ist, alles nicht wahr ist, dann wird man dieses Problem weiterhaben, dann wird es weiterhin ein Glaubwürdigkeitsproblem geben, auch für die deutschen Trainer. In diesem Fall ist es Frank Ullrich, es wird auch noch andere betreffen irgendwann, ich glaube, wir müssen hier einen Weg wählen, in die Offensive zu gehen, und da sind die Sportfachverbände, in diesem Fall der DSV, gefordert.

    Jessica Sturmberg: Hans-Joachim Seppelt, ARD-Doping-Experte und Jens Steinigen, ehemaliger Biathlet, vielen Dank für Ihre Einschätzungen!

    (Sport am Samstag)