Der Wolf und wir
Darf der Jäger zum Gejagten werden?

Wie kein anderes Tier ist der Wolf eine Projektionsfläche für menschliche Ängste einerseits, für die Sehnsucht nach der Natur andererseits. Seit der deutschen Wiedervereinigung ist die Ansiedlung des Wolfs ein gesamtdeutsches Renaturierungsprojekt.

Von Wiebke Hüster |
Wolf im Wildpark Bruderhaus, aufgenommen am Montag, 5. Februar 2024
Der Wolf gefährdet mit seinem jährlichen Zuwachs von 30 Prozent des Bestands die von Weidetierhaltung geprägte Kulturlandschaft (picture alliance / KEYSTONE / MICHAEL BUHOLZER)
Wölfe sind in unseren dicht besiedelten Landschaften zum Symbol eines hoffnungsvollen „Zurück zur Natur" geworden. Etwa 1600 Wölfe gibt es in Deutschland, wahrscheinlich sogar mehr. Die Ausbreitung vor allem in Ostdeutschland zeigt, dass Wölfe keine Wildnis brauchen, um sich gut zu vermehren.
Die für die eigentlich scheuen Wölfe nutzbaren Gebiete in Deutschland sind besetzt, sodass sich die Nachkommen immer stärker in menschlich genutzte Gebiete ausbreiten. Mittlerweile kommt es beispielsweise zu rund 4000 gerissenen oder verletzten Nutztieren pro Jahr.

Natur- und Tierschutz geraten in Konflikt

Wölfe kommen also in unseren unterschiedlich genutzten Kulturlandschaften so gut zurecht, dass der Herdenschutz immer wichtiger wird. Die tierischen Jäger müssen gegebenenfalls selbst bejagt werden. Dabei geraten auch Natur- und Tierschutz miteinander in Konflikt.
Die EU-Mitgliedsstaaten haben mittlerweile beschlossen, den Schutzstatus des Wolfs in der „Berner Konvention“ von „streng geschützt“ auf „geschützt“ herabzustufen. Wie kann es eine sinnvolle Jagd zum Schutz von Menschen und Nutztieren geben, ohne dass der Wolf erneut vertrieben oder gar ausgerottet wird?
Wiebke Hüster ist seit mehr als zwei Jahrzehnten die Tanzkritikerin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Sie berichtet auch im Deutschlandradio über die aktuellen Entwicklungen dieser Kunstform in all ihren Facetten. 2017 hat sie ihre Liebe zur Natur zum neuen Thema in der Zeitung entwickelt. Für das Feuilleton schreibt sie seitdem Essays über Wald, Wild, Landwirtschaft und Jagd. Ihre aktuelle neue Serie heißt „Zurück zur Natur“. Sie verbringt viel Zeit draußen und im Gespräch vor Ort mit den Berufsjägern, Förstern, Landwirten und Wissenschaftlern ihres über die Jahre gewachsenen Expertennetzwerks. Die 59-Jährige ist Mutter von drei Kindern und lebt in Frankfurt am Main.

Der Wolf ist zurück. In der Gegenwartsliteratur ist er jetzt auch angekommen. Er geistert, neben der Nazi-Vergangenheit und dem Verfall der alten Generation, durch die unheimlich gezeichnete Lüneburger Heide. Markus Thielemanns Heide-Roman stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024 und das Grollen des raunenden Titels Von Norden rollt ein Donner ist kein meteorologisches Phänomen. Es ist das laute Echo des Zweiten Weltkriegs, das vom Truppenübungsplatz zu hören ist. Der Großvater des jungen Heideschäfers Jannes spricht seine Angst vor dem Wolf offen aus:
„Wir Halter sind alleine draußen mit unseren Herden, unseren Hunden und wissen nicht, was hinter der nächsten Ecke lauert. Wir kommen morgens auf den Pferch und sehen Blut und Gedärme. Wir können nachts schlecht schlafen. Wir bekommen die Fehlgeburten mit. Das ist erst mal schwer für den Kopf, und als wenn das nicht schlimm genug wäre, ist es auch schwer für den Geldbeutel. Unsere Herden, die sind ja unser ganzes Leben, da hängen unsere Existenzen dran, da hängen Höfe und Familien dran.“
Die Wölfe sind da. In großer Zahl. In den Wäldern, auf den Weiden, im Roman, in den Internetforen und Chats der Pony- und Viehzüchter, der Schwarzwaldbauern und Heideschäfer, in der Politik.
Canis lupus lupus. Alter: Bis zu dreizehn Jahre. Gewicht: 30-50 kg. Höhe: 80 Zentimeter. Ausgezeichneter Geruchssinn. Trotz seiner vergleichsweise kleinen Ohren, die innen dicht behaart sind, kann der Wolf hervorragend hören. Die in Europa vorkommenden Wölfe sind meist grau/bräunlich gefärbt. Die Schwanzspitze ist schwarz. Der Kopf ist dunkel mit hellen bis weißen Partien seitlich des Mauls und an der Kehle. Die Augen des Wolfes sind hellbraun bis gelb und stehen schräg. Der ausgewachsene Wolf hat in Deutschland keine natürlichen Feinde und steht am Ende der Nahrungskette. Ein erwachsener Wolf benötigt täglich etwa 2-3 kg Fleisch, um seinen Energiebedarf zu decken. Wenn er dazu gezwungen ist, kann er aber durchaus bis zu zwei Wochen lang hungern! Umgekehrt ist es ihm auch möglich, bis zu 11 Kilogramm Fleisch auf einmal zu verschlingen.“
(Webseite der Deutschen Wildtierstiftung)
„Wildtiere berühren die meisten Menschen emotional“, so die Psychologin Uta Maria Jürgens. „Deshalb werden sie entweder gefüttert und romantisiert oder verdammt und gefürchtet.“
Uta Maria Jürgens untersucht in ihrem von der Deutschen Wildtierstiftung mit dem Forschungspreis ausgezeichneten Promotionsprojekt „Vom Konflikt zur Koexistenz“ die ambivalenten Beziehungen von Menschen und Wildtieren. Den Wolf zu füttern, gelingt den wenigsten, dazu sind die großen Beutegreifer zu scheu. Um ihrer ansichtig zu werden, sollen Soldaten auf Truppenübungsplätzen sie schon mit Leberwurststullen angelockt haben. Gefüttert werden Wölfe also vielleicht nicht, romantisiert schon: Die Wiederansiedlung des Wolfs in Deutschland ist das große Renaturierungsprojekt nach der Wiedervereinigung. Der Wolf wird dabei zum Symbol für ein hoffnungsvolles „Zurück zur Natur“ inmitten der dicht besiedelten Kulturlandschaft mit ihren Industrien und landschaftszerschneidenden Infrastrukturen. Seine Ausbreitung beweist jedoch schnell, dass der Wolf keine Wildnis braucht, um Nachkommen aufzuziehen und sich erfolgreich zu vermehren. Und doch scheint das in Deutschland mehr als 120 Jahre ausgerottete Tier in der Vorstellung vieler Menschen die Wildnis mit zurückzubringen: Den Traum von einem paradiesischen Naturzustand, in dem der Wolf das Schalenwild dezimiert und aus den sich selbst überlassenen Wäldern die „Urwälder der Zukunft“ werden.
Die Wirklichkeit indes sieht ganz anders aus. Naturschutz- und Tierschutzziele können einander erheblich widersprechen. 35 Jahre nach der Wende und knapp 25 Jahre, nachdem die ersten Wölfe in Deutschland in Freiheit geboren wurden, scheint der faszinierende Prädator aus der Mythologie in die Realität übergesiedelt zu sein. In diesem Herbst nämlich hat die Politik in Europa auf die jedes Jahr um 30 Prozent wachsenden Populationen reagiert. Die 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben im September geschlossen dafür gestimmt, Maßnahmen einzuleiten, damit der Schutzstatus des Wolfs in der Berner Konvention von „streng geschützt“ auf „geschützt“ gesenkt wird.
Da die Berner Konvention ein völkerrechtliches Übereinkommen ist, wird auf den Beschluss der EU-Botschafter ein Ministerratsbeschluss folgen müssen. Dann erst kann die EU-Kommission einen Antrag beim Europarat auf Änderung der Berner Konvention stellen. Diese Abstimmung ist der erste Schritt auf dem Weg ins geordnete Wolfsmanagement.
„Hi liebe Essay & Diskurs-Redaktion, es gibt Neues, das hätte ich auch nicht gedacht, dass das so schnell geht, aber jetzt hat tatsächlich schon der ständige Ausschuss der Berner Konvention den Schutzstatus des Wolfes von ‚streng geschützt‘ auf ‚geschützt‘ heruntergesetzt, weil nämlich eine Zweidrittelmehrheit der 50 vertretenen Staaten dafür gestimmt hat. Jetzt muss aber tatsächlich das noch umgesetzt werden in der EU, also es dauert sicherlich noch ein paar Monate, bis das endgültig auch in den europäischen Ländern umgesetzt werden kann. Die neue EU‑Kommission muss diese FFH-Richtlinie ändern und dann beraten nochmal die 27 Mitgliedsstaaten und das Europaparlament über eine Gesetzesänderung. Schöne Grüße, das war Wiebke Hüster, tschüss.“
Es geht um eine kontrollierte, behördlich genehmigte Bejagung, um sinnvolle Jagd zum Schutz von Nutztieren und Menschen, nicht um den Beginn einer erneuten versuchten Ausrottung des Prädators.
„Im Jahr 1904 wurde der letzte frei lebende Wolf (Canis lupus lupus) in Deutschland geschossen. Nachdem die Wölfe Ende des 20. Jahrhunderts unter internationalen Schutz gestellt wurden, erholten sich die Bestände. Mittlerweile gilt der Wolf in Europa nicht mehr als gefährdet.“
(Webseite Deutsche Wildtierstiftung)
1992 hatten sich die damaligen Mitgliedsstaaten der EU auf die FFH-Richtlinie zum Schutz von Tieren, Pflanzen und Lebensräumen geeinigt. Je nach Erhaltungszustand der Art oder des Habitats erfolgt die Einordnung in verschiedene Anhänge. Der Wolf wird am Ende des Verfahrens aus dem Anhang IV der „streng geschützten Arten“ in den Anhang V der „bedingt geschützten Arten“ kommen.
Damit wird es bald also Jagdquoten für Wölfe geben. Der einzige Protest gegen diese realistische Anpassung an die Konsequenzen für eine Kulturlandschaft, die mit exponentiell wachsenden Wolfspopulationen konfrontiert ist, kommt vom NABU, dem Naturschutzbund Deutschland. Die Bejagung bringe den Weidetierhaltern keine Vorteile, vielmehr sei die Senkung des Schutzstatus ein schlechtes Signal für den Artenschutz allgemein, heißt es von der Organisation, bei der mit sogenannten Patenschaften für einzelne Wildtiere oder Projekte Spendengelder eingeworben werden. Auf der Webseite des NABU steht der Wolf ganz am Anfang der Liste der Fördermöglichkeiten:
„Begeistern Sie sich für wildlebende Wölfe oder vielfältige Moore? (…) Wollen Sie sich für die Urwälder von morgen engagieren?“
Klaus Hackländer, Vorstand der Deutschen Wildtierstiftung und Lehrstuhlinhaber für Wildtierbiologie und Jagdwirtschaft an der Wiener Universität für Bodenkultur, ist erleichtert über den Schritt der Europa-Politik. Seine Forschung über die Entwicklung der Wolfspopulationen in Deutschland zeige, dass 2030 alle günstigen Lebensräume der Wölfe besetzt sein werden. Dann wandere der Nachwuchs in ungünstige Lebensräume aus, und darunter müsse man Lebensräume in größerer Nähe zum Menschen verstehen.
Von da an seien Jagdquoten gerechtfertigt, denn Jagen, so Hackländer, halte den Wolf scheu. Nicht nur findet er Jagd notwendig, der wichtige Herdenschutz sei längst nicht allein mit Technik zu erreichen. Die Deiche des Küstenschutzes oder die Almen seien die einleuchtendsten Beispiele für Gebiete, in denen ein Schutz durch Zäune gar nicht möglich sei. Der Herdenschutz brauche in Zukunft viele neue ausgebildete Schäfer. Zudem müsse man sich in Deutschland auf eine länderübergreifende wildökologische Raumplanung einigen. Am besten sei es, den Wolf aus Küstenregionen und von Almen fernzuhalten.
Mehr als 4.000 gerissene, verletzte und gefressene Nutztiere waren zuletzt pro Jahr auf Wolfsübergriffe zurückzuführen, eine Zahl, die deutlich im Verhältnis zu dem exponentiellen Anstieg der Wolfsbestände steht. 2022/23 wurden 184 Rudel, 47 Paare und 22 einzelne Wölfe in Deutschland gezählt, wahrscheinlich sind es erheblich mehr. Den Verzicht auf Weidewirtschaft und eine entsprechende tiefgreifende Veränderung der Kulturlandschaft kann man nicht wollen. Die Biodiversität des Offenlandes ist absolut schützenswert. Stephan Wiesler vom Andresehof im Münstertal im Schwarzwald hat 2020 den Arbeitskreis „Weidewirtschaft und Wolf“ mitgegründet und begrüßt die geplante Statusänderung des Wolfs vorsichtig optimistisch:
„Grundsätzlich ist das ein gutes Signal für die Weidetierhaltung und die damit einhergehenden Aspekte wie Tierwohl und Artenvielfalt. Ich denke, bis der Wolf ins Jagdrecht überführt ist und ihm durch ein angepasstes Management vor Ort wieder Scheu vor uns Menschen und unseren Nutztieren eingehaucht wird, werden noch viele Jahre vergehen. Und den Herdenschutz brauchen wir natürlich trotzdem.“
Gefüttert und romantisiert wird der Wolf in unserer Zeit auf der einen Seite auch so leidenschaftlich, weil er jahrhundertelang so tief verdammt und gefürchtet war. Da erscheint es fast eine harmlose Nebenbemerkung, dass 1758 einer der Begründer der modernen Wissenschaft der Zoologie, Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, über den Wolf klagt, er rieche schlecht. Wieviel diese frühe Forschung erfindet, wieviel Fantasie und Märchenhaftigkeit in den Anfängen der systematischen Sortierung der Naturphänomene stecken, ist nicht genau zu sagen, aber dass der Comte versichert, der Körpergeruch des Wolfs sei abstoßend, wirft doch die Frage auf, wie er einem lebenden Wolf so nahegekommen sein könnte. Denn ein schlecht riechender toter Wolf wäre keiner Mitteilung wert.
Ein Jahrhundert nach der beleidigten Nase des Comte de Buffon ist die Wissenschaft noch immer dieser anthropozentrischen, aus den Anfängen moderner Forschung stammenden Sicht auf den Prädator verpflichtet. Der Schweizer Zoologe, Naturforscher, Diplomat, Sprachwissenschaftler und Forschungsreisende Johann Jakob von Tschudi bereiste nach Studien in Zürich, Deutschland und Paris in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Brasilien, Bolivien und Chile. Fünf Jahre lang erforschte er Peru, die Landesnatur, Sprache und Kultur, und veröffentlichte seine Erkenntnisse. Den schweizerischen Echsen ist ein anderes seiner Bücher gewidmet. Doch am Fell des Raubtiers Wolf lässt der Weltreisende kein gutes Haar.
„Widerlich und unangenehm in seinen Manieren, gierig, boshaft, verschlagen misstrauisch, gehässig in seinem Naturell, unerträglich durch seinen abscheulichen Geruch, ist er ein Schreck der Thierwelt. (…) Menschen hat er im letzten Jahrhundert in der Schweiz kaum angegriffen; er flieht sie vielmehr und ist sehr feige. (...) Er besucht nachts die einsamen Schlachtfelder, um sich an den Leichen zu sättigen. Auf Menschenfleisch einmal aufmerksam gemacht, zieht er es jedem Thierfleische vor und gräbt selbst nach Leichen. (…) Er liebt es, den halbzerfleischten Hund aufzufressen, während der siegreiche Hund selbst den erlegten Wolf noch verabscheut. (…) in den thierischen Individualitäten nimmt er eine sehr tiefe Stufe ein; selbst unter den Raubthieren ist er eines der widerwärtigsten, (…) während er dabei keine Spur vom Edelmuth des Löwen, von der frischen Tapferkeit des Eisbären, vom Humor des Landbären, von der Anhänglichkeit des Hundes hat. Tölpischer als Fuchs, dabei aber tückisch und höchst misstrauisch, ist er tollkühn ohne Schlauheit, in seinem ganzen Wesen ohne Schönheit und wol überhaupt eine der hässlichsten Thiernaturen. Mit dem Hunde hat er nur körperliche Aehnlichkeit; man kann nicht sagen, er sei der wilde Hund, der Hund im Urzustande; er ist vielmehr der durch und durch verdorbene Hund, das Zerrbild des Hundes.“
In seiner 500-seitigen, 2017 erschienenen Kulturgeschichte des Wolfs fragt Rainer Schöller, wie sich der Mythos vom bösen Wolf bis heute halten konnte und kommt zu dem Schluss, der Mensch habe stets dem Wolf die eigenen unheimlichen Eigenschaften zugeschrieben.
Der Mensch wusste also, wen er fürchtete, sein Selbst in Tiergestalt, das Subjekt einer pessimistischen Anthropologie. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts heißt es in der aktuellen Ausgabe von Brehms Tierleben, erschienen 1953:
„Der Schaden, welchen (der Wolf) durch seine Jagd anrichtet, würde, obschon immer bedeutend, so doch vielleicht zu ertragen sein, ließe er sich von seinem ungestümen Jagdeifer und ungezügelten Blutdurst nicht hinreißen, mehr zu würgen, als er zu seiner Ernährung bedarf. Hierdurch erst wird er zur Geißel für den Hirten und Jagdbesitzer, zum ingrimmig und geradezu maßlos gehaßten Feind von jedermann.“
Bis in unsere Zeit gehen die Hirten über Land, nicht ohne sich Gottes Beistand zu versichern, wie hier in diesem Wolfssegen von 1855 aus der Obersteiermark:
„und alles soll gesegnet sein: / Euer Rinder, Schof und Schwein, / sowie der wahre Kelch und Opferwein. / Kommt der heilige Petrus mit dem Himmelsschlüssel, / spirrt allen wilden Thieren er den Rüssel, / dem Bären seine Pratzen, / dem Wolfen sein Zung / und dem Luchsen seinen Mund, /daß er kein Häutl nit zerreißt, / kein Beinl nit zerbeißt / und kein Blutstropfen nit saufen kann.“
Die postsowjetische Gegenwart als Krise, wie Olga Tokarczuks Romane sie schildern, beschert dem Wolf ganz neue literarische Auftritte. Auf dem winderkalteten Plateau an der polnisch-tschechischen Grenze, das die Nobelpreisträgerin in ihrem Roman Der Gesang der Fledermäuse beschreibt, leben nur drei Menschen, jeder ganz für sich allein. Die Häuser von Matoga, von Janina Duszejko und von Bigfoot stehen im Wald. Bigfoot, eine „winzige, sehnige Gestalt“, ein Gnom, dessen Wortschatz vor allem aus Flüchen besteht, bringt Tokarczuk gleich zu Beginn um. Die Leiche findet der Nachbar, der schweigsame Matoga, als er nach dem Rechten sehen kommt, weil das Licht ungewohnt spät brennt bei Bigfoot. Gelebt hat Bigfoot von dem Wald, der ihm nicht gehörte.
Böswillig und immer leicht betrunken fällte er Bäume zur Unzeit, fing Rehe, Hasen und Dachse in Drahtfallen, stahl, was andere vergaßen - ein Wilderer und Plünderer. Und nun liegt er da, ungewaschen, in Unterwäsche, in seiner unaufgeräumten Behausung, ein Untier, ein haariger, vernarbter, tätowierter Troll, im Hals einen Rehknochen. An ihm ist er erstickt. Er ist der Erste in diesem Roman, an dem die Natur sich rächt, weitere folgen. Die Angst, dass wir uns mit den nicht mehr umkehrbaren Folgen des Klimawandels selbst die Lebensgrundlage entziehen, hier wird sie hinuntergebrochen von der Statistik auf den Kampf des Einzelnen gegen die Natur, Mensch gegen Tier, Waffen gegen Zähne und Klauen, Motorsäge und Feuer gegen Baum und Unwirtlichkeit.
Aber nicht nur, dass die Natur womöglich zurückschlägt, erzeugt Angst, auch die Auslieferung der Menschen an die Industrialisierung der Natur ist ein Topos. Ein steiniger Abhang ist Überbleibsel eines Steinbruchs, in dem die Baggerzähne einen Berg anfraßen. Vielleicht sollen die Bagger die Arbeit wiederaufnehmen irgendwann, so geht das Gerücht. „Dann werden wir völlig von der Erdoberfläche verschwinden, in den Bäuchen der Maschinen“, denkt Janina Duszejko.  Der Roman erzählt von Rehen als Mördern, Rehen, die sich dafür rächen, dass ihre Art mit unethischen Methoden gejagt und getötet wird. Jetzt sind die Jäger dran.
Duszejko, die den Rehen helfen will, geht zum Kostümfest der Pilzsammler als Wolf verkleidet. Sie tut das nicht nur um zu sagen, der Mensch ist dem Tier ein Wolf. Sondern um auf das Märchen zu verweisen, in dem der Wolf eine Großmutter hinunterschlingt und am liebsten noch die kleine Enkelin dazu fräße. Recht so, will Tokarczuks Romanheldin sagen, auch wenn sie lieber Rehe als Täter und Männer als Opfer sieht.
In der Erzählung davon, wer wen wie tötet und verkauft und wem die Natur, Luft, Wasser, wilde Flora und Fauna eigentlich gehören und zu welchem legitimen Gebrauch, ist der Wolf nicht nur als Verkleidung eingerückt, sondern höchst fleischlich und wirklich, in Gestalt des einzigen bei uns heimischen größeren Beutegreifers.
Der Wolf kennt eben keinen natürlichen Feind, und obwohl ihm einige Gefahr vom Straßenverkehr droht und es illegale Abschüsse gibt, wächst die Population hierzulande jährlich um 30 Prozent. Es ist 20 Jahre her, seit die Wölfe in Deutschland wieder heimisch wurden und Nachwuchs aufzuziehen begannen.
Auch wenn sie so viele Jahre verschwunden waren, die Angst des Menschen vor dem Wolf ist nie vergangen, sie ist Jahrhunderte alt. Daniel Kehlmann schildert in seinem Roman Tyll, wie die Wölfe im 17. Jahrhundert vor Hunger aus den Wäldern kommen:
„Die Menschen seien in die Wälder geflohen und hätten dort die kleinen Tiere erlegt und gegessen und dann die Bäume abgeholzt, um nicht zu erfrieren - dadurch hätten die Wölfe vor Hunger alle Furcht und Scheu verloren. Wie lebendig gewordene Albträume seien sie über die Dörfer gekommen, wie Schreckgestalten aus alten Märchen. Mit hungrigen Augen seien sie in Stuben und Ställen erschienen, ohne die geringste Angst vor Messern oder Mistgabeln. In den schlimmsten Wintertagen hätten sie sogar den Weg ins Kloster gefunden, eines der Tiere habe eine Frau mit einem Säugling angefallen und ihr das Kind aus der Hand gerissen.“
Friedrich I. von Preußen zufolge gibt es zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Ostpreußen „mehr Wölfe wie Schafe". Sümpfe müssen trockengelegt, leere Gegenden besiedelt und Raubtiere ausgerottet werden, das sind die wichtigsten Punkte im preußischen Zivilisierungsprozess.
Die Wildnis muss kultiviert und unterworfen werden, und wo das mit ihren Protagonisten nicht geht, werden diese ausgerottet. Zunächst werden die Wölfe durch Bejagung gezwungen, sich in entlegeneren Gegenden zu verkriechen. Dann sollen ihre Bestände möglichst vernichtet werden.
Wie groß die Wolfspopulation war, zeigte damals an, in welchem Zustand öffentlicher Ordnung eine Zivilisation sich befand. Kriegswirren und politische Umbrüche kommen dem Bestand der Prädatoren immer zugute. Ganz einfach: Wenn der Mensch mit dem Menschen genug zu tun hat, wenn es um sein Überleben geht, vermehren sich die Wölfe. Ludwig Karl Eberhard Heinrich Friedrich von Wildungen stellte 1799 die These auf, „Menschenjagden“, wie sie während der Revolution an der Tagesordnung waren, ließen eben zu wenig Zeit zur Wolfsjagd.
Es sind die Wölfe aus verschiedenen osteuropäischen Populationen sowie aus Norditalien, die sich seit der letzten Jahrtausendwende in Deutschland angesiedelt haben. Solange es die DDR gab, wurden die dorthin einwandernden polnischen oder tschechischen Wölfe abgeschossen, so heißt es. Das hörte nach 1989 auf. Es dauert aber eine Zeitlang, bis wilde Tiere spüren, dass der Bejagungsdruck abgenommen hat und dass Grenzen wie etwa Mauer und Stacheldraht abgebaut sind.
Um die Wende zum 19. Jahrhundert hingegen schien Jägern und Forschern eindeutig, woher die gefährlichen „Unthiere“ kamen: aus dem revolutionären Frankreich natürlich. Wolfstöter wurden gefeiert wie antike Helden, Vergleiche mit dem Bestienbezwinger Herkules schmeichelten den tapferen adligen Vollstreckern. Die Wolfsjagd um 1800 wird Alexander Kling zufolge als eine heroische, zivilisatorische und nationale Tat begriffen, der etwas Mythisches innewohnt. Die grandioseste Stelle seines Forschungsberichts ist jene, an der sich Rousseau über La Fontaines Fabel von Wolf und Hund hermacht und belegt, dass diese Lektüre etwa das Gegenteil dessen, was der Autor wünsche, erreichen werde. Der abgemagerte Wolf, dem der Haushund das Wohlleben in den taubenknochenreichsten Farben schildert, bemerkt in letzter Sekunde den kahlgescheuerten Hals des ansonsten gepflegten Tiers und rennt um seine Freiheit, anstatt sich auch in die Haustiersklaverei zu begeben. Rousseau beschreibt, wie ein kleines Mädchen weint und weint beim Lesen - denn es begreift, es ist leider nicht frei wie der Wolf, sondern ein durch und durch domestiziertes Geschöpf.
Während die einen Wolfspaten werden und in Brandenburgs Wäldern die Monitoring‑Kameras überwachen, sind die anderen Schäfer, Bauern, Jäger und Reiter. Fördergelder für angeblich sichere Zäune und Entschädigungen für gerissene Lämmer können nicht abwenden, dass Schäfer aufgeben, Waldkindergärten schließen und Bauern sich im Stich gelassen fühlen. Ganz schwierig wird es bei den Jägern. Manche sagen unumwunden, sie wohnten ohne Furcht am Waldrand, schließlich seien sie aber auch nie mehr ohne Gewehr im Wald unterwegs. Ihre Kinder allein draußen spielen zu lassen, fiele ihnen im Traum nicht ein.
In den letzten Jahren ist noch von keinem Angriff von Wölfen auf Menschen berichtet worden. Jäger haben gelegentlich Verluste unter ihren Hunden zu beklagen. Fürchten Wölfe eigentlich am meisten wütende Bachen und mit gefährlichen Stoßzähnen bewehrte Keiler, so werden doch mehr und mehr Fälle von Wolfsangriffen auf Hunde bekannt.
„Weniger eingreifen“ halten viele im Naturschutz für richtig. Doch ist das möglich in einem so dicht besiedelten Land? Nehmen wir Schweden zum Vergleich. Im fünftgrößten Land Europas leben pro Quadratkilometer nur 23,5 Menschen. 63 Prozent der Fläche Schwedens ist bewaldet. Die Schweden dulden zwar 3.200 Bären, aber nur 250 Wölfe - weniger als allein in Brandenburg leben. Viele Jäger und Waldeigentümer, aber auch Wissenschaftler wie Klaus Hackländer, der in Wien einen Lehrstuhl für Wildtierbiologie und Jagdwirtschaft innehat, fordern daher ein Umdenken in der europäischen Naturschutzpolitik. Der Wolf zählt bei diesen Vermehrungsraten nicht mehr als bedrohte Art. Ohne Wolfsmanagement und Abschussquoten geht es nicht. Freihaltezonen wie die Deichlandschaften zum Schutz vor Sturmfluten oder in den Bergen, wo selbst der Naturschützer Reinhold Messner für die Regulierung des Wolfs plädiert, müssen eingerichtet werden.
Doch Wölfen schlicht Gelände zuzuteilen, das funktioniert natürlich nicht, denn sie wandern in einer Nacht 50 Kilometer und weiter. „Reservate für den Wolf kann es nicht geben“, sagt der Waldeigentümer, Jäger und Landwirt Günther Graf von der Schulenburg aus Wolfsburg, dessen Vorfahren den Wolf als Wappentier wählten. Er sieht, was die Forschung auch bestätigt: Der Wolf ist kein Konkurrent des Jägers. In seiner landschaftswissenschaftlichen Masterarbeit Räumliche Analyse des operativen Schalenwildmanagements auf den Truppenübungsplätzen Klietz, Altengrabow und Altmark schreibt Ludwig Behr, es sei nur teilweise richtig, dass der Wolf die Wildbestände reduziere. Die von Jägern so gefürchtete, weil die Jagd erschwerende und den Verbiss an Bäumen erhöhende Großrudelbildung beim Rotwild, mit der es sich angeblich vor Wolfsangriffen zu schützen versucht, konnte nicht nachgewiesen werden. Das widerspricht allerdings Beobachtungen anderer Waldbesitzer.
Der Wolf ist gefährlich und er gefährdet. Schafen, Ziegen, Ponys, Kälbern, Rehen, Rotwild und sogar Wildschweinen kann er gefährlich werden. Knapp 4.000 Fälle von tödlichen Weidetierrissen und 1.000 Übergriffe pro Jahr sind eine erschreckend hohe Zahl.
Im Brandenburger Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft verhindern die um die 300 Schafe zählenden Herden die Verbuschung auf dem seit 1988 stillgelegten und dann umgewandelten Truppenübungsplatz bei Bad Liebenwerda. Idyllisch ist es hier. Im Herbst blüht die Heidelandschaft lila, soweit das Auge reicht. Es duftet nach Waldpilzen, Schafe blöken beruhigend, ab und zu hört man ein Klingeln von einer Halsglocke. Der Schäfer Daniel Hissung jedoch lässt seine robust-wollenen, schwarz-weißen Heidschnucken nie allein. Zur Hand gehen ihm zwei unermüdliche Hütehunde, die auf seinen Befehl fröhlich und energisch die Herde umkreisen und Schafe, die sich zu weit entfernen, zurückholen, und die jeden nahenden Prädator melden würden.
Nachts stehen die Heidschnucken eingezäunt in einem inneren kreisförmigen Pferch. Um diesen ersten Zaun ist ein zweiter, stromführender und im Boden umgeschlagener Zaun gezogen. In dem Ring zwischen den Zäunen patrouillieren zwei große Herdenschutzhunde. Es sind also drei Hürden, die der Wolf überwinden müsste, sagt Hissung. Diese Schutzmaßnahmen wurden so früh installiert, dass kein Wolf Gelegenheit hatte, vorher zu lernen, dass Schafe eventuell leichte Beute sein können. So können Naturparkleiter Lars Thielemann und Schäfer Hissung sagen, dass es in den professionell gemanagten Herden des Naturparks noch keinen einzigen Riss gegeben hat.
Szenenwechsel. Bernd Merscher, Vorsitzender des Bundesverbands Deutscher Ziegenzüchter und im Vorstand des Landesverbands der rheinlandpfälzischen Schaf- und Ziegenhalter, steigt in der Mittagssonne im Hunsrück von seinem Trecker. Er sieht deutlich, sagt er, wie inzwischen unterschiedliche Naturschutzziele konfligieren. Er hält 3.000 Schafe und Ziegen, mit denen er die Ausgleichsflächen bodenversiegelnder Unternehmensbauten beweidet. Weideflächen sind für die Biodiversität unendlich wichtig. Die Blühwiesen sind das Zuhause unzähliger vom Aussterben bedrohter Insekten. Wie aber soll man 3.000 Weidetiere einzäunen? Wie viele Herdenschutzhunde, die als Welpen 3.000 Euro, als ausgebildete Security aber 6.000 Euro kosten, bräuchte man da wohl? Auf den Almen ist das Problem noch offensichtlicher. Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass der Wolf mit seinem jährlichen Zuwachs von 30 Prozent des Bestands unsere von Weidetierhaltung geprägte Kulturlandschaft gefährdet. Bis zu welcher Obergrenze wollen wir den Bestand anwachsen lassen, und um welchen Preis? Das ist die politische Frage, über die Europa jetzt entscheidet.
Zu einer realistischen Einschätzung der Lage und entsprechenden Beschlüssen zu gelangen ist vielleicht auch darum so schwierig, weil der Wolf selbst im 21. Jahrhundert ein mythisches Tier bleibt: von antiken Helden mit dem Speer gejagt, von La Fontaine ungewollt zum Vorbild gemacht, von einem Mädchen mit erdbeerfarbener Mütze überlistet, für Mogli ein liebevoller Ziehvater auf Zeit, ein Motiv von Urängsten, ein Symbol unzähmbarer Wildheit, ein Residuum uralter Zeiten.