Jean-Jacques Rousseau an seinem 300. Geburtstag: Wie geht es ihm? Wie geht es uns mit ihm? Was würde er zum Beispiel sagen, wenn er erführe, dass seine Geburtsstadt Genf ihm jetzt zu seinem Jubeltag am 28. Juni ein Museum eingerichtet hat? Ein Museum jedoch nicht ganz für ihn allein. Es inszeniert sich gleichzeitig als Literaturhaus. Was hätte er davon wohl gehalten?
Wir können nur spekulieren. Aber wir sind uns einigermaßen sicher: Dass die Nachwelt ihm Kränze winden würde, das war ihm klar. Insofern hätte ihn ein Rousseau-Museum nicht überrascht. Dass aber ausgerechnet Genf auf diese Idee gekommen ist, also jener kleine republikanische Idealstaat, wie er es lange gerne sehen wollte, der ihm doch mehrfach entzog, was zu den wenigen Dingen zählte, auf die er wirklich stolz war, das Genfer Bürgerrecht nämlich. Das hätte ihm wohl eine mit Bitterkeit gemischte Genugtuung verschafft. Doch dass jenes Museum in seinem Geburtshaus zusätzlich als literarische Begegnungsstätte fungieren soll, das hätte ihn in hohem Grad verärgert.
Ausgerechnet diese Leute, die er am meisten hasste, von denen er sich am stärksten verfolgt fühlte, deren Nähe er als junger Mann erst gesucht, dann umso konsequenter gemieden hatte, die Literaten also sollen sich jetzt in seinem Zeichen tummeln? All ihren Eitelkeiten freien Lauf lassen? Nein, das wäre denn doch in seinen Augen ein Zeichen dafür gewesen, dass es nicht besser geworden ist in der Welt seit seinem Ableben im Jahr 1778, dass derselbe Typus noch immer obenauf ist, nämlich, wie er es sah, der Typus des Gewandten und Grundsatzlosen, dem ein moralischer Rigorist heute wie damals den Kampf ansagen muss.
Und wir? Wie geht es uns mit diesem Jean-Jacques, den man als "Dark Star" der Aufklärung bezeichnen könnte? Ein Star war er ja ganz unbedingt, der berühmteste Intellektuelle nach und neben Voltaire, in einer Zeit, die den Intellektuellen als öffentliche Figur überhaupt erst gebar. Aber eben auch ein dunkles Gestirn müssen wir es nennen, das da seine Bahn am blitzenden Firmament des Geistes zog.
Gesellschaftlichen Optimismus und Wissenschaftsgläubigkeit wies er schon früh zurück. Ja, bereits sein publizistisches Debüt stand ganz und gar im Zeichen jener Fortschrittskepsis, die sich in seinem Denken immer stärker ausprägen sollte. Denn die berühmte Preisfrage der Akademie von Dijon, "Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?" beantwortete er 1749 mit einem klaren, emphatischen Nein.
Und wir? Stellen wir uns die Frage überhaupt noch? Sind auch die Thesen seiner politischen Hauptschrift "Der Gesellschaftsvertrag", die Thesen seiner pädagogischen Bibel, des "Emile", für uns noch Themen?
Nun, die Demokratie ist in den meisten Ländern der zivilisierten Welt etabliert. Daher hat uns der "Gesellschaftsvertrag" nicht mehr allzu viel zu sagen. Er ist erfüllt. Voilà. Auch die erzieherischen Maximen des "Emile", in ihrer Zeit ebenfalls revolutionär und hoch umstritten, sie haben sich zumindest im westlichen Kulturkreis durchgesetzt. Da wird man auch über den "Emile" nicht mehr groß streiten wollen.
Doch Rousseaus Auffassung von der Beschädigung des zivilisatorischen Niveaus einer Gesellschaft durch eine Wissenschaft und eine Kunst, welche die Moral aus den Augen verlieren – die kann uns noch durchaus beschäftigen. Ja, sie wird gerade in der Debatte um das Urheberrecht im Internet unter anderen Vorzeichen wieder aufgelegt. Und in vielen anderen Diskussionen auch, man denke nur an die durch Sparzwänge in Gang gekommene Diskussion um die staatliche Unterstützung für die Bühnen, man denke an die leidenschaftlich geführte Debatte über Sinn und Zweck des umstrittenen Regietheaters.
Rousseau ist also im Hinblick darauf, was er über den Stellenwert von Wissenschaft und Kunst in der Zivilgesellschaft dachte, durchaus noch ein Mann für unsere Tage. Das kann man von den wenigsten intellektuellen Protagonisten des 18. Jahrhunderts behaupten.
Noch mehr als alle Einzelthemen, die er angeschnitten hat, bewegt uns jedoch heute sein Ichgefühl, literarisch gesprochen: seine Auffassung von Autorschaft. Wahrscheinlich niemand vor oder nach ihm hat so sehr ernst gemacht mit Zivilisationsskepsis und Fundamentalopposition zur Welt, wie sie nun mal beschaffen ist, wie dieser calvinistische Vertreter jener "protestantischen Unruhe", die einst der Historiker Thomas Nipperdey als Kenneichen des Intellektuellen im nachreformatorischen Zeitalter definiert hat.
Die radikale Selbstentblößung seines Ichs, die Rousseau in dem umfangreichsten Buch betrieben hat, das er je schrieb, den "Bekenntnissen", dienen ja nicht der eitlen Selbstbeschau. Sie dienen vielmehr der gewissenhaften Überprüfung folgender zwei Fragen: In welchen Anteilen seiner Persönlichkeit macht sich der schädigende Einfluss der Gesellschaft fühlbar? In welchen Anteilen tritt die in seinen Augen ursprüngliche Gutartigkeit des Menschen zutage? Dass alles Bessermachen der Verhältnisse beim Einzelnen, bei uns selbst anfangen muss. Und dass dieses Bessermachen die radikale Gewissensprüfung und Ich-Analyse zur Voraussetzung habe – das hat schließlich niemand so intensiv beherzigt wie Rousseau.
Und wenn man jetzt einzuwenden geneigt ist, dass beispielsweise auch die Pietisten diese Selbstversenkung propagiert haben beziehungsweise, dass später die Psychoanalyse daraus ein ganzes Zeichensystem und eine Wissenschaft abgeleitet hat, so wird man doch präzisieren müssen: Dabei ging es den einen hauptsächlich um den Glauben, den anderen überwiegend um die Akzeptanz von Sexualität und Triebgeschehen. Rousseau allein ging es ums Ganze, ums Ganze der eigenen Persönlichkeit, ums ganze Leben in der Gesellschaft. Und um das zu klären, machte er Tabula rasa mit sich selbst.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die ungeheure Kraft und Eindringlichkeit, mit denen das in den "Bekenntnissen" geschieht, die er mit 52 Jahren zu schreiben begann. Lassen wir ihn für einen Moment mit seinen eigenen Worten sprechen: "Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen. Und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich. Ich habe mich so gezeigt, wie ich gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und ebenso edelmütig und groß, wie ich es war: Ich habe mein Inneres so enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist."
Auch das ist ja Aufklärung: zu glauben, dass es möglich sei, das ganze Selbst zu erfassen. "Ich" ist hier noch kein anderer, fremdbestimmt und disparat, wie die Moderne es definieren wird. "Ich" ist für die Aufklärung, selbst für Rousseau, noch eine Größe, die man ergründen kann, wenn man es denn will. Die Selbstermächtigung des Individuums geht hier soweit, dass Rousseau sich vergleichen kann mit dem Schöpfer aller Dinge: "Ich habe mein Inneres so enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist." Aber diese Enthüllung kennt keine Gnade. Sie kann sich zum Strafgericht in eigener Sache aufschwingen. Sie erspart sich und dem Leser kein Missgeschick und keine Missetat. Sie spricht von sexuellen Wünschen und Erfahrungen (was bei Rousseau zu seinem Leidwesen keineswegs identisch ist), wie von Herzensdingen mit einer Schonungslosigkeit, die ihresgleichen sucht. Und sie zieht literarisch alle verfügbaren Register. Sie kann ironisch und sarkastisch sein, im Burlesken und Grotesken schwelgen. Sie kennt die leisen, verhaltenen Töne ebenso wie die Emphase, das Pathos und das Donnerwort. Sie gibt Milieuschilderung und Zeitkolorit, Sitten und Gebräuche auf dem Land und in den großen Städten. Turin, Lyon, Venedig, Paris und London kommen vor, aber immer wieder auch die Asyle in der Schweiz, die Rousseau so wichtig waren.
Das Buch "Bekenntnisse" ist mit anderen Worten schlichtweg unerschöpflich. Es zählt zu den ganz wenigen Grundbüchern, die das europäische Erbe kennt und von denen in einem Jahrhundert allenfalls eine Handvoll entsteht. Doch wie kam es zustande? Wie tastete sich sein Autor an die gigantische Aufgabe heran, dieses Unternehmen zu schultern?
Darüber belehrt uns im Rousseau-Jahr 2012 vor allem eine Veröffentlichung. Es ist vielleicht kein Zufall, dass es sich hier nicht um eine Biografie oder Spezialstudie handelt, von denen wir seit Langem zahlreiche besitzen, allen voran die nach wie vor gültige große Analyse von Rousseaus Leben, Denken und Schreiben, die in den fünfziger Jahren sein Landsmann, der Genfer Literaturhistoriker Jean Starobinski, vorgelegt hat.
Nein, das Jahr 2012 wartet mit einem anderen Zugang auf, der bisher in Deutschland vernachlässigt worden ist. Es präsentiert Briefe Rousseaus. Denn in denen spricht sich oft besser aus, was in den Büchern gern beiseite bleibt: das Werden und Wachsen seiner Werke. Und zwar im Dialog. Gerade für Rousseau ist das wichtig. Sein Rückzug aus der Gesellschaft, dem die zweite Hälfte seines Lebens gewidmet war, das nicht nur propagierte, sondern auch von ihm in allen Konsequenzen geführte sogenannte einfache Leben in der Natur – das entwickelte Rousseau, der sich in seinen Büchern gern als großen Einsamen inszeniert hat, im Gespräch.
Ein "einsamer Spaziergänger", als der er sich in seiner letzten großen Veröffentlichung präsentiert hat: Das war er mitnichten. Noch in den späten Jahren, die er wieder in Paris verbrachte, blieb er die öffentliche Person, die gleichsam vor aller Augen ihr Abgeschiedensein zelebrierte. Jeder, der zu ihm hinauf wollte, in die kleine Wohnung, fünf Treppen hoch, die er in der Rue Platrière bewohnte, wurde vorgelassen – und wenn es nur darum ging, ihn mit groben Worten abblitzen zu lassen, wie es der nachmalige Gesandte Friedrichs des Großen, Graf Goertz, erleben musste, als er mit seinem Schützling, dem späteren Weimarer Herzog Carl August, nach Paris gelangte.
Diese Verflochtenheit von sozialem Eingebundensein und Aufkündigung sozialer Bindungen, sie wird nirgends konturierter deutlich als in den Briefen, die Rousseau schrieb.
Aus den sage und schreibe 52 Bänden, welche die französische Gesamtausgabe seiner Korrespondenz umfasst, hat nun Henning Ritter eine, man darf wohl sagen, repräsentative Auswahl getroffen. Sie zeigen einen Rousseau, der tief und leidenschaftlich involviert ist in die Debatten seiner Zeit. Gesprächspartner sind aber mitnichten nur jene, zu denen Rousseau ohnehin im Austausch stand, will sagen die Dichter und Denker, Publizisten und Enzyklopädisten, die sozusagen seinen natürlichen Umgang bildeten. Zwar dokumentieren auch in diesem Band hier ein Brief an Voltaire, dort ein anderer an den englischen Philosophen David Hume, wie Rousseau sich abzusetzen sucht vom Rationalismus, ja Materialismus dieser lupenreinen Aufklärer, denen gegenüber Rousseau immer seine Gläubigkeit, seine Suche Gottes in der Natur betonte.
Nein, das Gros der Empfänger seiner Schreiben sind Persönlichkeiten des sogenannten öffentlichen Lebens. Das kann den reichen Neuenburger Kaufmann Pierre-Alexandre Du Peyrou meinen, den Rousseau in der Botanik unterweist, als Gegenleistung zu der auch finanziellen Unterstützung durch diesen Herrn, für den Rousseau so etwas wie der Lebensmensch gewesen sein muss – den Spleen, in einem nur für sie beide errichteten Mausoleum begraben zu sein, musste der auf innere wie äußere Unabhängigkeit so sehr bedachte Rousseau ihm freilich ausreden.
Adressat seiner Gedanken kann aber auch Ludwig Eugen von Württemberg sein, ein Prinz und dann auch Herrscher, der sein Land von 1793 bis 1795 regierte und dennoch als Philosoph zu leben wünschte. Er wollte seine erstgeborene Tochter nach den Prinzipien des "Emile" erziehen, wofür Rousseau ihm Ratschläge erteilt.
Adressatin nun wiederum von kompliziert ins Belehrende umgeleiteten Huldigungen kann die Gräfin d' Houdetot sein. Sie war die große Liebe Rousseaus, die als adelige und zudem verheiratete Frau natürlich für den in bescheidenen Verhältnissen lebenden Philosophen unerreichbar war, der sich dann ja auch mit einer Wäscherin begnügte, die lange Jahre seine Haushälterin war, bevor er sie schließlich doch noch heiratete.
Und Adressat der Briefe von Rousseau kann schließlich jener Mann sein, welcher der französischen Zensurbehörde vorstand, welcher die Enzyklopädisten, mit denen er weltanschaulich sympathisierte, schützte, soweit er konnte und der auch Rousseau, solange es ging, die Drucklegung seiner umstürzlerischen Werke garantierte: Guillaume de Malesherbes.
An Malesherbes schrieb Rousseau, kurz vor Erscheinen des "Gesellschaftsvertrags" und des "Emile", mit dem seine Flucht quer durch Europa begann, zu Beginn des Jahres 1762, vier Briefe, in denen er gewissermaßen die Leitlinien seiner Selbstdarstellung in den nun von ihm in Angriff genommenen autobiografischen Schriften skizzierte, weshalb diese Briefe denn auch einen ganz besonderen Stellenwert für das Selbstbild dieses Mannes haben. Als seinen Grundzug beschreibt der damals fast Fünfzigjährige seine Liebe zur Einsamkeit:
"Ich bin mit einer natürlichen Liebe zur Einsamkeit auf die Welt gekommen, und diese Neigung ist in dem Maße, wie ich die Menschen besser kennenlernte, nur gewachsen. Im Kreis der Fantasiegebilde, die ich um mich sammle, komme ich besser auf meine Rechnung als mit den Wesen, die ich in der großen Welt sehe, und die Gesellschaft, die meine Fantasie mir in meinem Asyl bietet, lässt mir die Gesellschaften, die ich verlassen habe, abstoßend erscheinen. Sie nehmen an, ich sei unglücklich und werde von Melancholie verzehrt. O Monsieur, wie sehr Sie sich täuschen! In Paris war ich melancholisch, in Paris fraß die schwarze Galle an meinem Herzen, und ihre Bitterkeit machte sich in allen Schriften, die ich veröffentlichte, solange ich mich dort aufhielt, nur zu sehr bemerkbar. Aber Monsieur, vergleichen Sie diese Schriften mit jenen, die ich in meiner Einsamkeit geschrieben habe. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn Sie in diesen nicht eine Heiterkeit der Seele spürten, die sich nicht vortäuschen lässt und die ein sicheres Urteil über den inneren Zustand des Verfassers erlaubt."
In diesen Zeilen deuten sich die Lebensthemen an, die Rousseau wenige Jahre später in seinen "Bekenntnissen" verhandeln wird. An anderer Stelle in den Briefen an Malesherbes wird sogar noch weiter in die Zukunft geblickt. So nimmt bereits hier, im Jahre 1762, das zentrale Motiv von Rousseaus letztem großen Werk, den "Träumereien des einsamen Spaziergängers", zumindest umrisshaft Gestalt an, wenn Rousseau hier seiner Menschenscheu folgendermaßen auf den Grund zu gehen versucht:
"Was also ist für diese Scheu die Ursache? Nichts anderes als der unbezähmbare Geist der Freiheit, den nichts zu überwinden vermag und im Vergleich zu dem Ehre, Glück, sogar Ansehen mir nichts bedeuten. Gewiss entspringt dieser Geist der Freiheit in mir weniger dem Stolz als der Trägheit, doch diese Trägheit ist unvorstellbar, alles schreckt sie ab, die geringsten Pflichten des bürgerlichen Lebens sind ihr unerträglich. Ein Wort, das ich sagen, ein Brief, den ich schreiben, ein Besuch, den ich abstatten soll, all dies ist für mich, sobald ich es tun muss, eine wahre Pein. Deswegen ist mir die vertraute Freundschaft so wichtig, obwohl mir der übliche Umgang mit Menschen höchst zuwider ist. Denn in der Freundschaft gibt es keine Pflichten mehr, man folgt seinem Herzen, und das ist alles. Das ist auch der Grund, warum ich mich vor Wohltaten stets gefürchtet habe. Denn jede Wohltat erfordert Erkenntlichkeit, und ich fühle ein undankbares Herz in mir schon deswegen, weil Erkenntlichkeit eine Pflicht ist. Kurz, die Art des Glücks, das ich brauche, besteht nicht so sehr darin, zu tun, was ich will, als nicht zu tun, was ich nicht will. Das tätige Leben hat nichts, was mich reizen würde, ich wäre hundertmal eher bereit, niemals etwas zu tun, als etwas gegen meinen Willen zu tun, und hundertmal habe ich gedacht, dass ich in der Bastille nicht allzu unglücklich gewesen wäre, mit keiner anderen Pflicht, als dort zu bleiben."
Aus diesen Gedanken sollte Rousseau 15 Jahre später seine Theorie des "kostbaren far niente" entwickeln, seine ganz persönliche Auffassung dessen, was die Römer "vita contemplativa" genannt haben. Dieses in sich gekehrte, beschauliche Leben, der Rückzug aus dem aktiven Dasein also, bildet das geistige Zentrum von Rousseaus Spätwerk. Man kann nur staunen, wie dieser Mann, den viele seiner Zeitgenossen als ausgesprochenen Menschenfeind erlebten, der unter pathologischem Verfolgungswahn litt und der es sich mit fast allen seinen ehemaligen Freunden verdorben hatte, am Ende seines Lebens doch so etwas wie Heiterkeit und Ausgeglichenheit der Seele fand. Er selbst zögerte zum Schluss nicht, hier von Glück zu sprechen. Er, der noch in den Bekenntnissen geschrieben hatte, mit der Geburt habe sein immerwährendes Unglück bereits begonnen, vermochte es offenbar, sich ins Nichtstun zu erlösen und so die ersehnte Ruhe zu finden. Hier von Totalverweigerung zu sprechen, wie es geschehen ist, griffe zu kurz. Vielmehr findet Rousseau am Ende zum Einklang mit sich selbst durch eine Verschmelzung stoischer und epikureischer Ideale. Der Weg dorthin war lang und dornig. In welchen Etappen er vonstatten ging, davon legen seine Briefe Zeugnis ab. Der letzte stammt bezeichnenderweise von 1770. Danach trat der Dialog zurück. Der Rousseau der letzten Jahre pflegte den schriftlichen Austausch kaum noch. Nun war er, was er immer hatte werden wollen: selig in sich selbst.
Buchinfos:
Jean-Jacques Rousseau: "Ich sah eine andere Welt." Philosophische Briefe. Hrsg. v. Henning Ritter. Hanser, München. 400 Seiten. 26, 95 Euro.
Wir können nur spekulieren. Aber wir sind uns einigermaßen sicher: Dass die Nachwelt ihm Kränze winden würde, das war ihm klar. Insofern hätte ihn ein Rousseau-Museum nicht überrascht. Dass aber ausgerechnet Genf auf diese Idee gekommen ist, also jener kleine republikanische Idealstaat, wie er es lange gerne sehen wollte, der ihm doch mehrfach entzog, was zu den wenigen Dingen zählte, auf die er wirklich stolz war, das Genfer Bürgerrecht nämlich. Das hätte ihm wohl eine mit Bitterkeit gemischte Genugtuung verschafft. Doch dass jenes Museum in seinem Geburtshaus zusätzlich als literarische Begegnungsstätte fungieren soll, das hätte ihn in hohem Grad verärgert.
Ausgerechnet diese Leute, die er am meisten hasste, von denen er sich am stärksten verfolgt fühlte, deren Nähe er als junger Mann erst gesucht, dann umso konsequenter gemieden hatte, die Literaten also sollen sich jetzt in seinem Zeichen tummeln? All ihren Eitelkeiten freien Lauf lassen? Nein, das wäre denn doch in seinen Augen ein Zeichen dafür gewesen, dass es nicht besser geworden ist in der Welt seit seinem Ableben im Jahr 1778, dass derselbe Typus noch immer obenauf ist, nämlich, wie er es sah, der Typus des Gewandten und Grundsatzlosen, dem ein moralischer Rigorist heute wie damals den Kampf ansagen muss.
Und wir? Wie geht es uns mit diesem Jean-Jacques, den man als "Dark Star" der Aufklärung bezeichnen könnte? Ein Star war er ja ganz unbedingt, der berühmteste Intellektuelle nach und neben Voltaire, in einer Zeit, die den Intellektuellen als öffentliche Figur überhaupt erst gebar. Aber eben auch ein dunkles Gestirn müssen wir es nennen, das da seine Bahn am blitzenden Firmament des Geistes zog.
Gesellschaftlichen Optimismus und Wissenschaftsgläubigkeit wies er schon früh zurück. Ja, bereits sein publizistisches Debüt stand ganz und gar im Zeichen jener Fortschrittskepsis, die sich in seinem Denken immer stärker ausprägen sollte. Denn die berühmte Preisfrage der Akademie von Dijon, "Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?" beantwortete er 1749 mit einem klaren, emphatischen Nein.
Und wir? Stellen wir uns die Frage überhaupt noch? Sind auch die Thesen seiner politischen Hauptschrift "Der Gesellschaftsvertrag", die Thesen seiner pädagogischen Bibel, des "Emile", für uns noch Themen?
Nun, die Demokratie ist in den meisten Ländern der zivilisierten Welt etabliert. Daher hat uns der "Gesellschaftsvertrag" nicht mehr allzu viel zu sagen. Er ist erfüllt. Voilà. Auch die erzieherischen Maximen des "Emile", in ihrer Zeit ebenfalls revolutionär und hoch umstritten, sie haben sich zumindest im westlichen Kulturkreis durchgesetzt. Da wird man auch über den "Emile" nicht mehr groß streiten wollen.
Doch Rousseaus Auffassung von der Beschädigung des zivilisatorischen Niveaus einer Gesellschaft durch eine Wissenschaft und eine Kunst, welche die Moral aus den Augen verlieren – die kann uns noch durchaus beschäftigen. Ja, sie wird gerade in der Debatte um das Urheberrecht im Internet unter anderen Vorzeichen wieder aufgelegt. Und in vielen anderen Diskussionen auch, man denke nur an die durch Sparzwänge in Gang gekommene Diskussion um die staatliche Unterstützung für die Bühnen, man denke an die leidenschaftlich geführte Debatte über Sinn und Zweck des umstrittenen Regietheaters.
Rousseau ist also im Hinblick darauf, was er über den Stellenwert von Wissenschaft und Kunst in der Zivilgesellschaft dachte, durchaus noch ein Mann für unsere Tage. Das kann man von den wenigsten intellektuellen Protagonisten des 18. Jahrhunderts behaupten.
Noch mehr als alle Einzelthemen, die er angeschnitten hat, bewegt uns jedoch heute sein Ichgefühl, literarisch gesprochen: seine Auffassung von Autorschaft. Wahrscheinlich niemand vor oder nach ihm hat so sehr ernst gemacht mit Zivilisationsskepsis und Fundamentalopposition zur Welt, wie sie nun mal beschaffen ist, wie dieser calvinistische Vertreter jener "protestantischen Unruhe", die einst der Historiker Thomas Nipperdey als Kenneichen des Intellektuellen im nachreformatorischen Zeitalter definiert hat.
Die radikale Selbstentblößung seines Ichs, die Rousseau in dem umfangreichsten Buch betrieben hat, das er je schrieb, den "Bekenntnissen", dienen ja nicht der eitlen Selbstbeschau. Sie dienen vielmehr der gewissenhaften Überprüfung folgender zwei Fragen: In welchen Anteilen seiner Persönlichkeit macht sich der schädigende Einfluss der Gesellschaft fühlbar? In welchen Anteilen tritt die in seinen Augen ursprüngliche Gutartigkeit des Menschen zutage? Dass alles Bessermachen der Verhältnisse beim Einzelnen, bei uns selbst anfangen muss. Und dass dieses Bessermachen die radikale Gewissensprüfung und Ich-Analyse zur Voraussetzung habe – das hat schließlich niemand so intensiv beherzigt wie Rousseau.
Und wenn man jetzt einzuwenden geneigt ist, dass beispielsweise auch die Pietisten diese Selbstversenkung propagiert haben beziehungsweise, dass später die Psychoanalyse daraus ein ganzes Zeichensystem und eine Wissenschaft abgeleitet hat, so wird man doch präzisieren müssen: Dabei ging es den einen hauptsächlich um den Glauben, den anderen überwiegend um die Akzeptanz von Sexualität und Triebgeschehen. Rousseau allein ging es ums Ganze, ums Ganze der eigenen Persönlichkeit, ums ganze Leben in der Gesellschaft. Und um das zu klären, machte er Tabula rasa mit sich selbst.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die ungeheure Kraft und Eindringlichkeit, mit denen das in den "Bekenntnissen" geschieht, die er mit 52 Jahren zu schreiben begann. Lassen wir ihn für einen Moment mit seinen eigenen Worten sprechen: "Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen. Und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich. Ich habe mich so gezeigt, wie ich gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und ebenso edelmütig und groß, wie ich es war: Ich habe mein Inneres so enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist."
Auch das ist ja Aufklärung: zu glauben, dass es möglich sei, das ganze Selbst zu erfassen. "Ich" ist hier noch kein anderer, fremdbestimmt und disparat, wie die Moderne es definieren wird. "Ich" ist für die Aufklärung, selbst für Rousseau, noch eine Größe, die man ergründen kann, wenn man es denn will. Die Selbstermächtigung des Individuums geht hier soweit, dass Rousseau sich vergleichen kann mit dem Schöpfer aller Dinge: "Ich habe mein Inneres so enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist." Aber diese Enthüllung kennt keine Gnade. Sie kann sich zum Strafgericht in eigener Sache aufschwingen. Sie erspart sich und dem Leser kein Missgeschick und keine Missetat. Sie spricht von sexuellen Wünschen und Erfahrungen (was bei Rousseau zu seinem Leidwesen keineswegs identisch ist), wie von Herzensdingen mit einer Schonungslosigkeit, die ihresgleichen sucht. Und sie zieht literarisch alle verfügbaren Register. Sie kann ironisch und sarkastisch sein, im Burlesken und Grotesken schwelgen. Sie kennt die leisen, verhaltenen Töne ebenso wie die Emphase, das Pathos und das Donnerwort. Sie gibt Milieuschilderung und Zeitkolorit, Sitten und Gebräuche auf dem Land und in den großen Städten. Turin, Lyon, Venedig, Paris und London kommen vor, aber immer wieder auch die Asyle in der Schweiz, die Rousseau so wichtig waren.
Das Buch "Bekenntnisse" ist mit anderen Worten schlichtweg unerschöpflich. Es zählt zu den ganz wenigen Grundbüchern, die das europäische Erbe kennt und von denen in einem Jahrhundert allenfalls eine Handvoll entsteht. Doch wie kam es zustande? Wie tastete sich sein Autor an die gigantische Aufgabe heran, dieses Unternehmen zu schultern?
Darüber belehrt uns im Rousseau-Jahr 2012 vor allem eine Veröffentlichung. Es ist vielleicht kein Zufall, dass es sich hier nicht um eine Biografie oder Spezialstudie handelt, von denen wir seit Langem zahlreiche besitzen, allen voran die nach wie vor gültige große Analyse von Rousseaus Leben, Denken und Schreiben, die in den fünfziger Jahren sein Landsmann, der Genfer Literaturhistoriker Jean Starobinski, vorgelegt hat.
Nein, das Jahr 2012 wartet mit einem anderen Zugang auf, der bisher in Deutschland vernachlässigt worden ist. Es präsentiert Briefe Rousseaus. Denn in denen spricht sich oft besser aus, was in den Büchern gern beiseite bleibt: das Werden und Wachsen seiner Werke. Und zwar im Dialog. Gerade für Rousseau ist das wichtig. Sein Rückzug aus der Gesellschaft, dem die zweite Hälfte seines Lebens gewidmet war, das nicht nur propagierte, sondern auch von ihm in allen Konsequenzen geführte sogenannte einfache Leben in der Natur – das entwickelte Rousseau, der sich in seinen Büchern gern als großen Einsamen inszeniert hat, im Gespräch.
Ein "einsamer Spaziergänger", als der er sich in seiner letzten großen Veröffentlichung präsentiert hat: Das war er mitnichten. Noch in den späten Jahren, die er wieder in Paris verbrachte, blieb er die öffentliche Person, die gleichsam vor aller Augen ihr Abgeschiedensein zelebrierte. Jeder, der zu ihm hinauf wollte, in die kleine Wohnung, fünf Treppen hoch, die er in der Rue Platrière bewohnte, wurde vorgelassen – und wenn es nur darum ging, ihn mit groben Worten abblitzen zu lassen, wie es der nachmalige Gesandte Friedrichs des Großen, Graf Goertz, erleben musste, als er mit seinem Schützling, dem späteren Weimarer Herzog Carl August, nach Paris gelangte.
Diese Verflochtenheit von sozialem Eingebundensein und Aufkündigung sozialer Bindungen, sie wird nirgends konturierter deutlich als in den Briefen, die Rousseau schrieb.
Aus den sage und schreibe 52 Bänden, welche die französische Gesamtausgabe seiner Korrespondenz umfasst, hat nun Henning Ritter eine, man darf wohl sagen, repräsentative Auswahl getroffen. Sie zeigen einen Rousseau, der tief und leidenschaftlich involviert ist in die Debatten seiner Zeit. Gesprächspartner sind aber mitnichten nur jene, zu denen Rousseau ohnehin im Austausch stand, will sagen die Dichter und Denker, Publizisten und Enzyklopädisten, die sozusagen seinen natürlichen Umgang bildeten. Zwar dokumentieren auch in diesem Band hier ein Brief an Voltaire, dort ein anderer an den englischen Philosophen David Hume, wie Rousseau sich abzusetzen sucht vom Rationalismus, ja Materialismus dieser lupenreinen Aufklärer, denen gegenüber Rousseau immer seine Gläubigkeit, seine Suche Gottes in der Natur betonte.
Nein, das Gros der Empfänger seiner Schreiben sind Persönlichkeiten des sogenannten öffentlichen Lebens. Das kann den reichen Neuenburger Kaufmann Pierre-Alexandre Du Peyrou meinen, den Rousseau in der Botanik unterweist, als Gegenleistung zu der auch finanziellen Unterstützung durch diesen Herrn, für den Rousseau so etwas wie der Lebensmensch gewesen sein muss – den Spleen, in einem nur für sie beide errichteten Mausoleum begraben zu sein, musste der auf innere wie äußere Unabhängigkeit so sehr bedachte Rousseau ihm freilich ausreden.
Adressat seiner Gedanken kann aber auch Ludwig Eugen von Württemberg sein, ein Prinz und dann auch Herrscher, der sein Land von 1793 bis 1795 regierte und dennoch als Philosoph zu leben wünschte. Er wollte seine erstgeborene Tochter nach den Prinzipien des "Emile" erziehen, wofür Rousseau ihm Ratschläge erteilt.
Adressatin nun wiederum von kompliziert ins Belehrende umgeleiteten Huldigungen kann die Gräfin d' Houdetot sein. Sie war die große Liebe Rousseaus, die als adelige und zudem verheiratete Frau natürlich für den in bescheidenen Verhältnissen lebenden Philosophen unerreichbar war, der sich dann ja auch mit einer Wäscherin begnügte, die lange Jahre seine Haushälterin war, bevor er sie schließlich doch noch heiratete.
Und Adressat der Briefe von Rousseau kann schließlich jener Mann sein, welcher der französischen Zensurbehörde vorstand, welcher die Enzyklopädisten, mit denen er weltanschaulich sympathisierte, schützte, soweit er konnte und der auch Rousseau, solange es ging, die Drucklegung seiner umstürzlerischen Werke garantierte: Guillaume de Malesherbes.
An Malesherbes schrieb Rousseau, kurz vor Erscheinen des "Gesellschaftsvertrags" und des "Emile", mit dem seine Flucht quer durch Europa begann, zu Beginn des Jahres 1762, vier Briefe, in denen er gewissermaßen die Leitlinien seiner Selbstdarstellung in den nun von ihm in Angriff genommenen autobiografischen Schriften skizzierte, weshalb diese Briefe denn auch einen ganz besonderen Stellenwert für das Selbstbild dieses Mannes haben. Als seinen Grundzug beschreibt der damals fast Fünfzigjährige seine Liebe zur Einsamkeit:
"Ich bin mit einer natürlichen Liebe zur Einsamkeit auf die Welt gekommen, und diese Neigung ist in dem Maße, wie ich die Menschen besser kennenlernte, nur gewachsen. Im Kreis der Fantasiegebilde, die ich um mich sammle, komme ich besser auf meine Rechnung als mit den Wesen, die ich in der großen Welt sehe, und die Gesellschaft, die meine Fantasie mir in meinem Asyl bietet, lässt mir die Gesellschaften, die ich verlassen habe, abstoßend erscheinen. Sie nehmen an, ich sei unglücklich und werde von Melancholie verzehrt. O Monsieur, wie sehr Sie sich täuschen! In Paris war ich melancholisch, in Paris fraß die schwarze Galle an meinem Herzen, und ihre Bitterkeit machte sich in allen Schriften, die ich veröffentlichte, solange ich mich dort aufhielt, nur zu sehr bemerkbar. Aber Monsieur, vergleichen Sie diese Schriften mit jenen, die ich in meiner Einsamkeit geschrieben habe. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn Sie in diesen nicht eine Heiterkeit der Seele spürten, die sich nicht vortäuschen lässt und die ein sicheres Urteil über den inneren Zustand des Verfassers erlaubt."
In diesen Zeilen deuten sich die Lebensthemen an, die Rousseau wenige Jahre später in seinen "Bekenntnissen" verhandeln wird. An anderer Stelle in den Briefen an Malesherbes wird sogar noch weiter in die Zukunft geblickt. So nimmt bereits hier, im Jahre 1762, das zentrale Motiv von Rousseaus letztem großen Werk, den "Träumereien des einsamen Spaziergängers", zumindest umrisshaft Gestalt an, wenn Rousseau hier seiner Menschenscheu folgendermaßen auf den Grund zu gehen versucht:
"Was also ist für diese Scheu die Ursache? Nichts anderes als der unbezähmbare Geist der Freiheit, den nichts zu überwinden vermag und im Vergleich zu dem Ehre, Glück, sogar Ansehen mir nichts bedeuten. Gewiss entspringt dieser Geist der Freiheit in mir weniger dem Stolz als der Trägheit, doch diese Trägheit ist unvorstellbar, alles schreckt sie ab, die geringsten Pflichten des bürgerlichen Lebens sind ihr unerträglich. Ein Wort, das ich sagen, ein Brief, den ich schreiben, ein Besuch, den ich abstatten soll, all dies ist für mich, sobald ich es tun muss, eine wahre Pein. Deswegen ist mir die vertraute Freundschaft so wichtig, obwohl mir der übliche Umgang mit Menschen höchst zuwider ist. Denn in der Freundschaft gibt es keine Pflichten mehr, man folgt seinem Herzen, und das ist alles. Das ist auch der Grund, warum ich mich vor Wohltaten stets gefürchtet habe. Denn jede Wohltat erfordert Erkenntlichkeit, und ich fühle ein undankbares Herz in mir schon deswegen, weil Erkenntlichkeit eine Pflicht ist. Kurz, die Art des Glücks, das ich brauche, besteht nicht so sehr darin, zu tun, was ich will, als nicht zu tun, was ich nicht will. Das tätige Leben hat nichts, was mich reizen würde, ich wäre hundertmal eher bereit, niemals etwas zu tun, als etwas gegen meinen Willen zu tun, und hundertmal habe ich gedacht, dass ich in der Bastille nicht allzu unglücklich gewesen wäre, mit keiner anderen Pflicht, als dort zu bleiben."
Aus diesen Gedanken sollte Rousseau 15 Jahre später seine Theorie des "kostbaren far niente" entwickeln, seine ganz persönliche Auffassung dessen, was die Römer "vita contemplativa" genannt haben. Dieses in sich gekehrte, beschauliche Leben, der Rückzug aus dem aktiven Dasein also, bildet das geistige Zentrum von Rousseaus Spätwerk. Man kann nur staunen, wie dieser Mann, den viele seiner Zeitgenossen als ausgesprochenen Menschenfeind erlebten, der unter pathologischem Verfolgungswahn litt und der es sich mit fast allen seinen ehemaligen Freunden verdorben hatte, am Ende seines Lebens doch so etwas wie Heiterkeit und Ausgeglichenheit der Seele fand. Er selbst zögerte zum Schluss nicht, hier von Glück zu sprechen. Er, der noch in den Bekenntnissen geschrieben hatte, mit der Geburt habe sein immerwährendes Unglück bereits begonnen, vermochte es offenbar, sich ins Nichtstun zu erlösen und so die ersehnte Ruhe zu finden. Hier von Totalverweigerung zu sprechen, wie es geschehen ist, griffe zu kurz. Vielmehr findet Rousseau am Ende zum Einklang mit sich selbst durch eine Verschmelzung stoischer und epikureischer Ideale. Der Weg dorthin war lang und dornig. In welchen Etappen er vonstatten ging, davon legen seine Briefe Zeugnis ab. Der letzte stammt bezeichnenderweise von 1770. Danach trat der Dialog zurück. Der Rousseau der letzten Jahre pflegte den schriftlichen Austausch kaum noch. Nun war er, was er immer hatte werden wollen: selig in sich selbst.
Buchinfos:
Jean-Jacques Rousseau: "Ich sah eine andere Welt." Philosophische Briefe. Hrsg. v. Henning Ritter. Hanser, München. 400 Seiten. 26, 95 Euro.