Ein Natur-Idyll mitten in Darmstadt: In der Parkanlage vor dem barocken Orangerie-Schlösschen warten die Wiener Performance-Künstler von "God’s Entertainment" auf potenzielle Bewerber. Unter den Ferienkurs-Teilnehmenden wollen sie gleich in einem Casting Instrumentalisten auswählen für ihre Musik-Theater-Performance "Tarzan". Tarzan? Was hat der denn bei einem Festival zu suchen, das sich um Neue Musik dreht? Erklärungsversuche von Maja Degirmendzic und Boris Ceko:
Maja Degirmendzic: "Die Figur selber ist sehr interessant, weil es eine Figur im Dazwischen ist: Es ist immer zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch – Affe. Und das sind Bereiche, die einem viel Spielraum erlauben und da auch Fragen zum heutigen Gesellschaft stellen können und vielleicht auch manche Antworten liefern – obwohl wir nicht so arbeiten, dass wir Antworten liefern wollen. Sondern Situationen schaffen, die das Jetzt in Frage stellt."
Boris Ceko: "Und sich mit dem Problem der Kolonialherrschaft Europas, eurozentrische Zusammenhänge, darüber hinaus auch beschäftigen und einfach mal versuchen, was wir mit dem Tarzan erreichen können. Kurz gesagt: Tarzan dient uns nur als Metapher, als Figur, darüber zu reflektieren, wie die europäische Gesellschaft gerade steht und sich im Spiegel sieht."
Das Künstler-Collectiv "God’s Entertainment" folgt in seinem "Tarzan"-Projekt also erneut seiner Maxime "Kunst ist Politik - Politik ist Kunst". Bespielen werden sie am Ende auch die Gartenanlage der Darmstädter Orangerie – das dürfte spannend werden.
Dekolonisierung, technologischer Wandel und die Gender-Frage
Um Themen wie Dekolonisierung, technologischer Wandel und die Gender-Frage dreht sich auch die viertägige Tagung "Defragmentation" bei den diesjährigen "Internationalen Ferienkursen für Neue Musik" in Darmstadt. In mehr als 66 öffentlichen Veranstaltungen wird zudem das Genre "Performance" in den Fokus gerückt. Mit dabei sind diesmal auch Tänzerinnen und Tänzer, erklärt Thomas Schäfer, seit 2010 Künstlerischer Leiter der Ferienkurse:
"Das ist überhaupt das erste Mal, dass wir so etwas versuchen. Stefan Prinz ist ja mein erster Kranichsteiner Musikpreisträger 2010 – hat mit Daniel Linehan eine neue Arbeit gemacht für die Münchner Biennale in diesem Jahr. Und das Thema fasziniert ihn und uns auch so, dass wir die Idee oder Wunsch hatten, auch mal diesen Bereich wirklich von MusikerInnen und PerformerInnen, die aus zwei unterschiedlichen Bereichen kommen, zusammenzuspannen in einem Workshop."
Zum Performer wird diesmal auch das Publikum - in der Installation "Orchestra on a wire" der Künstlerin Christina Kubisch etwa. In einer Turnhalle werden die Zuschauer mit einem Induktions-Kopfhörer ausgestattet und laufen unter einem Eisengerüst umher, über dem lauter Kabel aufgehängt sind. Über die Kabel werden elektromagnetische Spannungsfelder in den Kopfhörer übertragen, die eigentlich unhörbar sind. Einige dieser Klänge hat Christina Kubisch zudem mit Musikern des hr-Sinfonieorchesters aufgenommen.
Installation zum Thema "Was ist Realität?"
"Das ist die Grundidee, dass man eigentlich das Ganze erst hört, wenn man sich bewegt. Es gibt 32 Kanäle und je nachdem, wie man nun herumgeht, hört man natürlich auch ganz andere Kombinationen – schnellere, langsamere. Und es geht vom Orchester in elektromagnetische Klänge, die sehr ähnlich sind. Dann geht es in so hoch-digitale Frequenzen. Und am Ende kommt das Streichquartett noch rein."
Das Streichquartett sitzt leibhaftig auf Podesten rund um das Klangfeld herum – eine spannende Installation zum Thema "Was ist Realität?". Christina Kubisch ist eine von zahlreichen Frauen, die das Programm der diesjährigen Ferienkurse gestalten. Dem Faktum, dass Frauen in der Neue-Musik-Szene jahrzehntelang unterpräsentiert waren, soll diesmal offenbar besonders entgegengewirkt werden – so auch schon beim Eröffnungskonzert mit dem hr-Sinfonieorchester.
Performative Elemente in dem Orchesterwerk "VAPE". Die Isländerin Bára Gísladóttir lässt hier zwischendurch die Schlagzeuger auf Plastiktüten einschlagen:
"Das Stück 'Vape' ist inspiriert von dem Gas-Terroranschlag in einer U-Bahn in Tokio 1995. Damals haben Terroristen der Ōmu Shinrikyō-Sekte fünf U-Bahn-Züge betreten - mit Plastiktüten, gefüllt mit dem hochgiftigen Sarin. Sie haben dann mit den Spitzen ihrer Regenschirme so lange auf die Plastiktüten eingestochen, bis es zu den furchtbaren Konsequenzen kam. Das Orchester ist hier in fünf Gruppen unterteilt, jede beschreibt einen der Anschläge. Ich versuche, die ganzen Geschehnisse in etwa elf Minuten Musik zusammenzufassen."
Zerstörerisches Klavier-Konzert des Dänen Steen-Andersen
Das Zerstörerische spielt auch im "Piano Concerto" des Dänen Simon Steen-Andersen die entscheidende Rolle – auch wenn hier "nur" ein Konzertflügel aus hoher Distanz auf die Bühne fällt und zerbirst. Und das auch nur in einem Video, das rechts und links neben dem Orchester zu sehen ist, erklärt Baldur Brönnimann. Er ist der Dirigent des Eröffnungskonzerts:
"Und das ergibt dann einen gewissen Klang, das Zersplittern, diese Klänge vom Klavier, die sind noch irgendwo dort drin. Und dieses Klavier hat dann auch im Verlauf des Stückes gewisse Erinnerung an die Werke, die mal drauf gespielt wurden: Da kommt ein Ragtime und das 1. Klavierkonzert von Beethoven. Aber das Wesentliche ist eigentlich, dass er diese reinen Klavier-Klänge mit so einer Art von Honkeytonk-Piano zusammen, deformierte Klavierklänge, zusammen benützt werden, um die verschiedenen Aspekte des Klaviers darzustellen."
Der Pianist Nicolas Hodges tritt - leibhaftig auf der Bühne an einem heilen Flügel sitzend – gegen sein Alter Ego an, das im Video auf dem kaputten Flügel spielt. Reale Welt und Video-Welt treten in einen auch slapstick-artigen Austausch miteinander – wenn etwa der Flügel im Video rhythmisch auf- und abbewegt wird, als tanze er Ballett. Zugleich erinnert Simon Steen-Andersens "Piano Concerto" an die Fluxus-bewegten 1960er-Jahre zurück. Ein schöner Einstieg in die in diesem Jahr ohnehin sehr bewegungsreichen Darmstädter Ferienkurse.