Rund 15 Jahre ist es her, dass sich der Schriftsteller Robert Gernhardt seinen Frust über den Lärm von der Seele schrieb. Er verfasste das 11. Gebot des Herrn, eine Satire, die er selbst las:
"Und Gott redete nur diese Worte: Du sollst nicht lärmen. Und Gernhardt tat wie geheißen und stieg hinab und sprach also zum Volk: Dies sind die Lärmvorschriften, die der Herr euch auferlegt hat."
Was dann folgt, sind Vorschriften, Verbote und Strafen, die bis hin zum Tod reichen:
"Entsteht durch Lärm ein dauernder Schaden, so sollst du geben Lärmen um Lärmen, Ohr und Ohr, Ton um Ton, Krach um Krach. Wer aber fortfährt zu lärmen, der soll des Todes sterben, u. seine Lärmquelle soll man steinigen."
Brigitte Schulte-Fortkamp: "Ich fand es genial: ‚Du sollst nicht lärmen!'"
Brigitte Schulte-Fortkamp ist Professorin für Psychoakustik an der TU Berlin und forscht seit Jahrzehnten zur Wirkung von Lärm:
"Robert Gernhardt macht die Dimension des Individuums mit auf. Er macht also das Individuum mit verantwortlich, nicht nur als Leidenskategorial in dieser Dimension Lärm: ‚Da muss sich jemand drum kümmern!' Sondern er sagt das erste Mal: Da muss man auch selber aktiv werden, also nicht so einen Krach machen."
Zuvor war es vor allem eine Sache der Techniker: Sie maßen das Geräusch, den Schalldruck, die Frequenzen, fertigten Pegelkurven. Daraufhin wurden Grenzwerte festgelegt: Was ist gesundheitsschädigend, stört das Ohr physisch? Wie viele Dezibel haben als erträglich zu gelten, sind hinzunehmen bei Tag oder in der Nacht - die nach den einschlägigen Ruhe-Verordnungen immer noch um 22 Uhr zu beginnen und 6 Uhr zu enden hat. In der Realität hat sich die Zeitschiene um eine Stunde verschoben, zu 23 und 7 Uhr hin. Gleich wie - es mussten Grenzen gezogen werden, die Gesetzeskraft haben, wie seit 1968 die "Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm":
"Die aber eigentlich nicht den Betroffenen gesehen hat, sondern geregelt hat, wie was gemessen werden muss. Es kam ja dann auch mal der Begriff ‚Lärmpegelwerte' ins Spiel, was vollkommen aberwitzig ist, weil: Lärm gibt es nicht in Pegel, sondern nur als menschliche Reaktion. Es ist eine Störung, die bewertet wird durch Menschen, und die kann man nicht in Pegeln messen. Das kam sukzessive auch unter dem Aspekt von anderer Gestaltung von Leben ins Spiel."
Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Uni Jena, forscht nach dem Wandel von Gesellschaftssystemen. Für ihn bildet die Sphäre der Kommunikation die Plattform, um Lärm zu bewerten:
"In einfacher strukturierten Agrargesellschaften, aber auch in der frühen Industriegesellschaft gab es weniger Notwendigkeit - also wenn man es auf diese Dimension von Lärm bezieht -, weniger Notwendigkeit sich auszutauschen über komplexe Sachverhalte beispielsweise der Herstellung eines Gutes oder von Dienstleistungen oder sonstigen Waren. Das hat, glaube ich, stark zugenommen. Es kann sein, dass das über diese ohnehin schon erhöhte notwendige Kommunikation, das Geräusch, das sie produziert, hinausgeht; dass das all das ist, was uns in einer sehr lauten, kommunikationsintensiven Welt dann besonders in Anspruch nimmt und das Maß, was wir verarbeiten können, überfordert. Und wo wir einfach unsere Ruhe haben wollen."
Der gesellschaftliche Wandel lässt sich auch an den Geräuschen selbst nachvollziehen, wozu Brigitte Schulte-Fortkamp auf das Modell Soundscape zurückgreift. Solche Lautsphären begann der kanadische Komponist Raymond Murray Schafer Ende der 1960er-Jahre zu erforschen, weil immer mehr Einzeltöne in einem Klangbrei von Grund-, Signal- und Orientierungstönen untergingen. Die Struktur einer bewohnten Naturlandschaft mit ihren leisen Grund-Geräuschen, lauten Signaltönen und intensiven Orientierungslauten wurde von Menschen der vorindustriellen Gesellschaften nur zeitweise dominiert. Das änderte sich mit dem Einzug der Maschinen, schließlich der Autos und Mobiltelefone. Es wurde komplexer und komplexer, lauter und lauter. Schulte-Fortkamp:
"Im Grunde waren die starken Geräusche Zeichen der Wohlstandsgesellschaft, die sich veräußern konnte in hohem Mobilitätsaufkommen, und man hat weniger bedacht, dass das, was sie auf die Straße setzen, Geräusche macht, die die einen krankmacht - und die andern mögen sie eben sehr."
Aber warum kann heute nervender Lärm sein, was gestern gewollt oder stillschweigend toleriert war? Stephan Lessenich meint:
"Vielleicht gibt es einen Unterschied zwischen produktiven Geräuschen und konsumtiven oder reproduktiven Geräuschen. Ich könnte mir vorstellen, dass man es damals einfach für normal gehalten hat, dass im Produktionsprozess auch Lärm anfällt, dass aber immer klar ist: Was kommt dabei hinten raus? Warum gibt es jetzt diesen Lärm?"
Was auch Baustellenkrach betrifft. Er signalisiert: Hier entsteht etwas, was mir in irgendeiner Weise nützen oder besser gefallen kann, und endet - irgendwann, hoffentlich bald. Im Jenaer Soziologie-Institut wird zum Beispiel gerade die Bibliothek ausgebaut, manchmal sehr geräuschvoll. Stephan Lessenich:
"Das nehme ich in Kauf, weil ich weiß: Demnächst haben wir einen Raum mehr, es ist nicht mehr so beengt da unten. Aber wenn jetzt unten jemand vorbeifährt oder auf jemanden wartet und in seinem Auto die Musik auf 150 Dezibel A die Musik hochdreht und ich höre die Beats hier oben durch zwei geschlossene Fenster hindurch, dann ist man schon eher genervt, und dann ist auch eher klar: Das ist ein gesellschaftlich nicht notwendiges Geräusch, was da produziert wird."
Robert Gernhardt: "So du in geschlossenen Ortschaften dein Autoradio einschaltest, so sollst du die Fenster und das Verdeck deines Wagens fest verschlossen halten. Parkt jemand seinen Wagen, so soll er den Motor nicht im Leerlauf brummen lassen. Ihr sollt nicht hupen."
"Und das passt ganz gut zu dem, was Tucholsky gesagt hat: ‚Lärm ist das Geräusch der anderen'."
ergänzt Brigitte Schulte-Fortkamp. Sie forscht auf dem Gebiet des Verkehrslärms besonders intensiv. Nicht, um Motoren noch leiser zu bekommen - da haben die Ingenieure eine Menge geleistet, und mit den Elektromobilen wird das gewohnte "Brumm-Brumm" ganz aufhören. Es wird schon wieder nach neuen, künstlich erzeugten Orientierungslauten geforscht - vielleicht derart, um Fußgängern zu signalisieren: Vorsicht, Auto!
Ob das nötig ist? Da die Autos schneller und die Reifen breiter geworden sind, jedoch die entsprechend dämpfenden und teuren Fahrbahnbeläge nicht schnell genug nachgerüstet werden können, ist die bisherige Lautstärke gleich geblieben. Aber das ist nicht das Problem der Psychoakustikerin:
"Ich weiß nicht, wie die Charakteristik der Geräusche ist. Zum Beispiel: Wenn langsamer gefahren und dann wieder angefahren wird, oder was bedeutet es, wenn Geräusche kontinuierlich sind, aber zwischendurch ein Fahrzeug mal stärker aufschlägt, vom Schall her. Was bedeutet das? Solche Untersuchungen sind nicht gemacht worden."
Das hat Brigitte Schulte-Fortkamp nachgeholt, zum Beispiel in Berlin-Friedrichshain: Eine Straße wurde als Tempo-30-Zone deklariert; zusätzlich wurden Hindernisse eingebaut.
"Von den Interviews, die wir da gemacht haben, wissen wir, dass die Leute todunglücklich sind über diese Geräusche. Abbremsen, rüberrollen, anfahren. Das können je nach Fahrzeugtyp ganz ekelhafte Geräusche sein. Da wird nicht der Schallpegel zur Tortur, sondern die Charakteristik."
Inzwischen wird auf solche Schikanen verzichtet, weil sie zwar Autofahrer disziplinieren, Anwohner jedoch viel mehr nerven als ein andauerndes Tempo 30. Genervt waren auch Bewohner einer Straße in Berlin-Charlottenburg, auf der es von Asphalt auf Kopfsteinpflaster überging.
"Unsere Befragungen haben damals gezeigt: Die Leute haben schon reagiert auf das Heranfahren des Fahrzeugs, weil sie wussten: Gleich kommt das Kopfsteinpflaster. Wir haben sie bewerten lassen ganz klassisch-psychologisch, und haben dann aktive Interviews gemacht in ihrer Wohnung: Warum haben Sie das angekreuzt, warum haben Sie das gemacht?"
Erst das intensive Nachfragen habe die Erkenntnis gebracht: Das denkmalgeschützte Kopfsteinpflaster muss entfernt, die Straße mit Tempo 30 befahren werden. Die Anwohner fühlen sich inzwischen wohl, ergab eine spätere Befragung.
Die nüchternen Zahlen und Fakten dazu kommen durch Befragungen des Umweltbundesamtes Dessau zustande, genauer: Durch die Mitarbeiter der Abteilung "Verkehr, Lärm". Zu ihnen gehört Wolfgang Babisch:
"Beim Lärm gibt es verschieden Quellen, und es zeigt sich in Befragungen zur Lärmbelästigung immer wieder, dass der Straßen-Verkehrslärm ganz weit an der Spitze liegt. Fluglärm und Schienenverkehr sind auch wesentliche Belastungsfaktoren, treten aber weniger häufig zutage. Was überrascht bei repräsentativen Umfragen ist die Tatsache, dass Nachbarschaftslärm auch als eine stark belästigende Quelle empfunden wird und mittlerweile anstelle Nummer zwei liegt."
Die aktuelle Onlineumfrage des Umweltbundesamtes zu Belästigungsursachen hebt aus diesen großen Kategorien drei Quellen besonders heraus: Motorräder, Laubblasgeräte und Rasenmäher.
"Wer seinen Rasenmäher anwirft, der soll dies nur tun zwischen elf und dreizehn Uhr tun. Und er soll danach unrein sein bis an den Abend und weder eine Motorsäge anrühren noch einen Elektrobohrer noch eine Häckselmaschine noch alles, was Lärm macht."
Es sind also alles Geräte, die vorwiegend von Männern genutzt werden (die eh lauter sind als Frauen), intensiver als die üblichen Geräuscherzeuger schallen und oft dann eingesetzt werden, wenn der Nachbar sich eigentlich Ruhe verspricht. Aber das ist nur das obere Ende der Erregungsskala.
"Nichtsdestotrotz gibt es Beschwerden von Anwohnern zum Beispiel über das Laufenlassen von Motoren im Winter am Morgen und so weiter","
sagt Matthias Hintzsche vom Umweltbundesamt zu den scheinbaren Problemen.
""Das ist das klassische Konfliktfeld zwischen rein physikalisch betrachteten Lärmminderungsaspekten und der Lärmwirkung auf der anderen Seite."
Der Grund: Nur ein Drittel des Schalls - als physikalische Seite - bilde die Lärmwirkung - als sozial-psychologische Seite ab. Im von Matthias Hintzsche genannten Beispiel "Laufenlassen von Motoren" vermischen sich Lärm-Faktor 1 - der Verkehrslärm - und Faktor 2 - der Nachbarschaftslärm:
"Muss der das gerade machen? Ist das mein Nachbar - mag ich den oder mag ich den nicht? Wie ist die Lärmquelle gesellschaftlich akzeptiert? Im Straßenverkehr ist jeder Verursacher und Betroffener gleichzeitig. Beim Fluglärm sieht das schon ganz anders aus, und beim Schienenlärm genauso. Hier sind wesentlich höhere Belästigungsreaktionen in der Bevölkerung zu beobachten im Gegensatz zu akzeptierten Problemen."
Dass eine gesellschaftliche Akzeptanz von lauten Geräuschen notfalls auch eingefordert werden muss, bewies eine Gesetzesnovelle vom Frühjahr dieses Jahres: Krach, der von spielenden Kindern ausgeht, gilt nicht mehr als schädliche Umwelteinwirkung - wenngleich der Schallpegel auch über die Schmerzgrenze hinausgehen kann. Eine ambivalente Festlegung: Einerseits wird freudvolles Kindsein über eine alternde und der Ruhe bedürfende Gesellschaft gestellt. Andererseits werden durch den Lärm nicht nur die Erzieherinnen teilweise bis ans Limit der physischen und psychischen Erträglichkeit gebracht. Auch Kinder selbst sind gefährdet, weil sie in eine laute Welt hineinwachsen und den Lärm im Laufe ihres Lebens akkumulieren. Am Ende stehen sie womöglich nicht weniger genervt da wie jene Älteren, die sich jetzt über sie und ihren Lärm erregen.
Was Nachbarschaftslärm also vor allem ausmacht, ist das Ausblenden des anderen, des Nachbarn eben. Jeder will selbst bestimmen, wann und wo er seine Ruhe haben kann. Der Nachbar hat andere Pläne. Was hilft?
"Und der Herr sprach mit Gernhardt und sprach also zu ihm: Rede mit deinen Leuten, aber schön ruhig. Ihr sollt keine Radios mit euch tragen, so ihr den Fuß aus dem Hause setzt. Ihr sollt keinen Walkman in Bahnen und Zügen benutzen, denn siehe: Der Walkman ist ein Blendwerk des Satans, zu verwirren die Sinne des Menschen, auf dass er glaube er könne seinen Kopf mit Musik vollknallen, ohne dass sein Nächster davon höre. Ich aber sage euch: Und ob er was mithört!"
Und ob bierselige Kegelbrüder oder Piccolo-Sekt-schlürfende Damenkränzchen die Mitreisenden stören!, ergänzt Stephan Lessenich:
"Ich glaube schon, dass es so eine Selbstbezüglichkeit von einzelnen und kleinen Gruppen gibt, die zunehmend weniger mit in Rechnung stellen, wie dann die Wirkung dessen, was sie tun, ist auf die Außenwelt oder Umwelt."
So geschehen auch in Berlin-Kreuzberg auf der Admiralsbrücke. Eine idyllische Ecke, die in der warmen Jahreszeit von 200 bis 300 jungen Leuten besetzt war. Es wurde nicht gegrölt oder gejohlt, es wurde gequatscht, gelacht, gesungen. Das allerdings bis tief in die Nacht hinein.
Doris Wietfeldt: "Die Ausgangslage war, dass die Bewohner gesagt haben: Wir möchten wieder schlafen - das ist das Wichtigste, was wir wollen."
Doris Wietfeldt ist Mediatorin und betreibt die Agentur Streit Entknoten. Sie und ihre Partnerin Sosan Azad gingen wochenlang zu den jungen Leuten und redeten mit ihnen.
"Viele haben gesagt: Oh, das war uns gar nicht bewusst, wenn wir leise auf der Brücke sitzen - man sieht sich ja erstmal alleine. Wenn das aber 300 Menschen gleichzeitig tun, dass das für andere eine Lärmbelastung ist. Viele haben mit viel Verständnis reagiert und waren insbesondere und waren insbesondere darüber erfreut, dass die Anwohner gesagt haben: Wir sollen mit euch ins Gespräch kommen. Wir wollen euch das nicht verbieten, wir wollen mit euch sprechen. Das wurde positiv aufgenommen. Und das war auch der Wunsch der Anwohner: Nicht Menschen zu verjagen, sondern Wege zu finden - miteinander."
Und Sosan Azad ergänzt:
"Was für uns überraschend war: Wie viele Menschen gesagt haben, ‚Oh das wusste ich gar nicht, dass Menschen, die da oben in der zweiten, dritten Etage wohnen, gerade durch mein Verhalten nicht schlafen können. Das ist mir nicht gerade bewusst, aber danke, dass du mir das sagst, und danke, wie du mir das sagst."
Die Polizei war jedoch auch präsent und überwachte die Nachtruhe. Von allein und ohne Nachdruck regelt sich zu wenig.
Weshalb auch besonders die Großstädte einiges tun, um Lärm zu vermeiden, zu vermindern oder zu verlagern - das ist die klassische Triade der Lärmbekämpfung. Sie ist verankert in einer EU-Richtlinie, die vor zehn Jahren Grundlage für die deutsche Umgebungslärmrichtlinie wurde, auf deren Basis Großstädte mit über einer viertel Million Einwohnern bis 2007 Aktionspläne aufzustellen hatten. Die Abrechnung, die das Umweltbundesamt anfertigen ließ, war auf den ersten Blick ernüchternd: Nur ein Zehntel der Kommunen habe etwas Brauchbares vorweisen können, sagt Matthias Hintzsche:
"Das klingt jetzt erstmal wenig. Wenn man aber weiß, dass in diesen 10 Prozent der Kommunen 50 Prozent der Bevölkerung Deutschlands leben, dann ist das schon ein ganz anderes Thema. Also - das Thema Lärmschutz ist in den Kommunen mit der Umgebungslärmrichtlinie neu angekommen. Wir werden nicht innerhalb von fünf Jahren für eine Lärmsituation sorgen können, wo alles gut ist. Wir haben in den vergangenen 50, 60 Jahren Strukturen entwickelt, die das Thema Lärm völlig außer Acht gelassen haben, und ich denke, es wird einige Zeit dauern, um wesentliche Fortschritte zum Thema Lärmbekämpfung machen zu können."
"Und Gott redete nur diese Worte: Du sollst nicht lärmen. Und Gernhardt tat wie geheißen und stieg hinab und sprach also zum Volk: Dies sind die Lärmvorschriften, die der Herr euch auferlegt hat."
Was dann folgt, sind Vorschriften, Verbote und Strafen, die bis hin zum Tod reichen:
"Entsteht durch Lärm ein dauernder Schaden, so sollst du geben Lärmen um Lärmen, Ohr und Ohr, Ton um Ton, Krach um Krach. Wer aber fortfährt zu lärmen, der soll des Todes sterben, u. seine Lärmquelle soll man steinigen."
Brigitte Schulte-Fortkamp: "Ich fand es genial: ‚Du sollst nicht lärmen!'"
Brigitte Schulte-Fortkamp ist Professorin für Psychoakustik an der TU Berlin und forscht seit Jahrzehnten zur Wirkung von Lärm:
"Robert Gernhardt macht die Dimension des Individuums mit auf. Er macht also das Individuum mit verantwortlich, nicht nur als Leidenskategorial in dieser Dimension Lärm: ‚Da muss sich jemand drum kümmern!' Sondern er sagt das erste Mal: Da muss man auch selber aktiv werden, also nicht so einen Krach machen."
Zuvor war es vor allem eine Sache der Techniker: Sie maßen das Geräusch, den Schalldruck, die Frequenzen, fertigten Pegelkurven. Daraufhin wurden Grenzwerte festgelegt: Was ist gesundheitsschädigend, stört das Ohr physisch? Wie viele Dezibel haben als erträglich zu gelten, sind hinzunehmen bei Tag oder in der Nacht - die nach den einschlägigen Ruhe-Verordnungen immer noch um 22 Uhr zu beginnen und 6 Uhr zu enden hat. In der Realität hat sich die Zeitschiene um eine Stunde verschoben, zu 23 und 7 Uhr hin. Gleich wie - es mussten Grenzen gezogen werden, die Gesetzeskraft haben, wie seit 1968 die "Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm":
"Die aber eigentlich nicht den Betroffenen gesehen hat, sondern geregelt hat, wie was gemessen werden muss. Es kam ja dann auch mal der Begriff ‚Lärmpegelwerte' ins Spiel, was vollkommen aberwitzig ist, weil: Lärm gibt es nicht in Pegel, sondern nur als menschliche Reaktion. Es ist eine Störung, die bewertet wird durch Menschen, und die kann man nicht in Pegeln messen. Das kam sukzessive auch unter dem Aspekt von anderer Gestaltung von Leben ins Spiel."
Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Uni Jena, forscht nach dem Wandel von Gesellschaftssystemen. Für ihn bildet die Sphäre der Kommunikation die Plattform, um Lärm zu bewerten:
"In einfacher strukturierten Agrargesellschaften, aber auch in der frühen Industriegesellschaft gab es weniger Notwendigkeit - also wenn man es auf diese Dimension von Lärm bezieht -, weniger Notwendigkeit sich auszutauschen über komplexe Sachverhalte beispielsweise der Herstellung eines Gutes oder von Dienstleistungen oder sonstigen Waren. Das hat, glaube ich, stark zugenommen. Es kann sein, dass das über diese ohnehin schon erhöhte notwendige Kommunikation, das Geräusch, das sie produziert, hinausgeht; dass das all das ist, was uns in einer sehr lauten, kommunikationsintensiven Welt dann besonders in Anspruch nimmt und das Maß, was wir verarbeiten können, überfordert. Und wo wir einfach unsere Ruhe haben wollen."
Der gesellschaftliche Wandel lässt sich auch an den Geräuschen selbst nachvollziehen, wozu Brigitte Schulte-Fortkamp auf das Modell Soundscape zurückgreift. Solche Lautsphären begann der kanadische Komponist Raymond Murray Schafer Ende der 1960er-Jahre zu erforschen, weil immer mehr Einzeltöne in einem Klangbrei von Grund-, Signal- und Orientierungstönen untergingen. Die Struktur einer bewohnten Naturlandschaft mit ihren leisen Grund-Geräuschen, lauten Signaltönen und intensiven Orientierungslauten wurde von Menschen der vorindustriellen Gesellschaften nur zeitweise dominiert. Das änderte sich mit dem Einzug der Maschinen, schließlich der Autos und Mobiltelefone. Es wurde komplexer und komplexer, lauter und lauter. Schulte-Fortkamp:
"Im Grunde waren die starken Geräusche Zeichen der Wohlstandsgesellschaft, die sich veräußern konnte in hohem Mobilitätsaufkommen, und man hat weniger bedacht, dass das, was sie auf die Straße setzen, Geräusche macht, die die einen krankmacht - und die andern mögen sie eben sehr."
Aber warum kann heute nervender Lärm sein, was gestern gewollt oder stillschweigend toleriert war? Stephan Lessenich meint:
"Vielleicht gibt es einen Unterschied zwischen produktiven Geräuschen und konsumtiven oder reproduktiven Geräuschen. Ich könnte mir vorstellen, dass man es damals einfach für normal gehalten hat, dass im Produktionsprozess auch Lärm anfällt, dass aber immer klar ist: Was kommt dabei hinten raus? Warum gibt es jetzt diesen Lärm?"
Was auch Baustellenkrach betrifft. Er signalisiert: Hier entsteht etwas, was mir in irgendeiner Weise nützen oder besser gefallen kann, und endet - irgendwann, hoffentlich bald. Im Jenaer Soziologie-Institut wird zum Beispiel gerade die Bibliothek ausgebaut, manchmal sehr geräuschvoll. Stephan Lessenich:
"Das nehme ich in Kauf, weil ich weiß: Demnächst haben wir einen Raum mehr, es ist nicht mehr so beengt da unten. Aber wenn jetzt unten jemand vorbeifährt oder auf jemanden wartet und in seinem Auto die Musik auf 150 Dezibel A die Musik hochdreht und ich höre die Beats hier oben durch zwei geschlossene Fenster hindurch, dann ist man schon eher genervt, und dann ist auch eher klar: Das ist ein gesellschaftlich nicht notwendiges Geräusch, was da produziert wird."
Robert Gernhardt: "So du in geschlossenen Ortschaften dein Autoradio einschaltest, so sollst du die Fenster und das Verdeck deines Wagens fest verschlossen halten. Parkt jemand seinen Wagen, so soll er den Motor nicht im Leerlauf brummen lassen. Ihr sollt nicht hupen."
"Und das passt ganz gut zu dem, was Tucholsky gesagt hat: ‚Lärm ist das Geräusch der anderen'."
ergänzt Brigitte Schulte-Fortkamp. Sie forscht auf dem Gebiet des Verkehrslärms besonders intensiv. Nicht, um Motoren noch leiser zu bekommen - da haben die Ingenieure eine Menge geleistet, und mit den Elektromobilen wird das gewohnte "Brumm-Brumm" ganz aufhören. Es wird schon wieder nach neuen, künstlich erzeugten Orientierungslauten geforscht - vielleicht derart, um Fußgängern zu signalisieren: Vorsicht, Auto!
Ob das nötig ist? Da die Autos schneller und die Reifen breiter geworden sind, jedoch die entsprechend dämpfenden und teuren Fahrbahnbeläge nicht schnell genug nachgerüstet werden können, ist die bisherige Lautstärke gleich geblieben. Aber das ist nicht das Problem der Psychoakustikerin:
"Ich weiß nicht, wie die Charakteristik der Geräusche ist. Zum Beispiel: Wenn langsamer gefahren und dann wieder angefahren wird, oder was bedeutet es, wenn Geräusche kontinuierlich sind, aber zwischendurch ein Fahrzeug mal stärker aufschlägt, vom Schall her. Was bedeutet das? Solche Untersuchungen sind nicht gemacht worden."
Das hat Brigitte Schulte-Fortkamp nachgeholt, zum Beispiel in Berlin-Friedrichshain: Eine Straße wurde als Tempo-30-Zone deklariert; zusätzlich wurden Hindernisse eingebaut.
"Von den Interviews, die wir da gemacht haben, wissen wir, dass die Leute todunglücklich sind über diese Geräusche. Abbremsen, rüberrollen, anfahren. Das können je nach Fahrzeugtyp ganz ekelhafte Geräusche sein. Da wird nicht der Schallpegel zur Tortur, sondern die Charakteristik."
Inzwischen wird auf solche Schikanen verzichtet, weil sie zwar Autofahrer disziplinieren, Anwohner jedoch viel mehr nerven als ein andauerndes Tempo 30. Genervt waren auch Bewohner einer Straße in Berlin-Charlottenburg, auf der es von Asphalt auf Kopfsteinpflaster überging.
"Unsere Befragungen haben damals gezeigt: Die Leute haben schon reagiert auf das Heranfahren des Fahrzeugs, weil sie wussten: Gleich kommt das Kopfsteinpflaster. Wir haben sie bewerten lassen ganz klassisch-psychologisch, und haben dann aktive Interviews gemacht in ihrer Wohnung: Warum haben Sie das angekreuzt, warum haben Sie das gemacht?"
Erst das intensive Nachfragen habe die Erkenntnis gebracht: Das denkmalgeschützte Kopfsteinpflaster muss entfernt, die Straße mit Tempo 30 befahren werden. Die Anwohner fühlen sich inzwischen wohl, ergab eine spätere Befragung.
Die nüchternen Zahlen und Fakten dazu kommen durch Befragungen des Umweltbundesamtes Dessau zustande, genauer: Durch die Mitarbeiter der Abteilung "Verkehr, Lärm". Zu ihnen gehört Wolfgang Babisch:
"Beim Lärm gibt es verschieden Quellen, und es zeigt sich in Befragungen zur Lärmbelästigung immer wieder, dass der Straßen-Verkehrslärm ganz weit an der Spitze liegt. Fluglärm und Schienenverkehr sind auch wesentliche Belastungsfaktoren, treten aber weniger häufig zutage. Was überrascht bei repräsentativen Umfragen ist die Tatsache, dass Nachbarschaftslärm auch als eine stark belästigende Quelle empfunden wird und mittlerweile anstelle Nummer zwei liegt."
Die aktuelle Onlineumfrage des Umweltbundesamtes zu Belästigungsursachen hebt aus diesen großen Kategorien drei Quellen besonders heraus: Motorräder, Laubblasgeräte und Rasenmäher.
"Wer seinen Rasenmäher anwirft, der soll dies nur tun zwischen elf und dreizehn Uhr tun. Und er soll danach unrein sein bis an den Abend und weder eine Motorsäge anrühren noch einen Elektrobohrer noch eine Häckselmaschine noch alles, was Lärm macht."
Es sind also alles Geräte, die vorwiegend von Männern genutzt werden (die eh lauter sind als Frauen), intensiver als die üblichen Geräuscherzeuger schallen und oft dann eingesetzt werden, wenn der Nachbar sich eigentlich Ruhe verspricht. Aber das ist nur das obere Ende der Erregungsskala.
"Nichtsdestotrotz gibt es Beschwerden von Anwohnern zum Beispiel über das Laufenlassen von Motoren im Winter am Morgen und so weiter","
sagt Matthias Hintzsche vom Umweltbundesamt zu den scheinbaren Problemen.
""Das ist das klassische Konfliktfeld zwischen rein physikalisch betrachteten Lärmminderungsaspekten und der Lärmwirkung auf der anderen Seite."
Der Grund: Nur ein Drittel des Schalls - als physikalische Seite - bilde die Lärmwirkung - als sozial-psychologische Seite ab. Im von Matthias Hintzsche genannten Beispiel "Laufenlassen von Motoren" vermischen sich Lärm-Faktor 1 - der Verkehrslärm - und Faktor 2 - der Nachbarschaftslärm:
"Muss der das gerade machen? Ist das mein Nachbar - mag ich den oder mag ich den nicht? Wie ist die Lärmquelle gesellschaftlich akzeptiert? Im Straßenverkehr ist jeder Verursacher und Betroffener gleichzeitig. Beim Fluglärm sieht das schon ganz anders aus, und beim Schienenlärm genauso. Hier sind wesentlich höhere Belästigungsreaktionen in der Bevölkerung zu beobachten im Gegensatz zu akzeptierten Problemen."
Dass eine gesellschaftliche Akzeptanz von lauten Geräuschen notfalls auch eingefordert werden muss, bewies eine Gesetzesnovelle vom Frühjahr dieses Jahres: Krach, der von spielenden Kindern ausgeht, gilt nicht mehr als schädliche Umwelteinwirkung - wenngleich der Schallpegel auch über die Schmerzgrenze hinausgehen kann. Eine ambivalente Festlegung: Einerseits wird freudvolles Kindsein über eine alternde und der Ruhe bedürfende Gesellschaft gestellt. Andererseits werden durch den Lärm nicht nur die Erzieherinnen teilweise bis ans Limit der physischen und psychischen Erträglichkeit gebracht. Auch Kinder selbst sind gefährdet, weil sie in eine laute Welt hineinwachsen und den Lärm im Laufe ihres Lebens akkumulieren. Am Ende stehen sie womöglich nicht weniger genervt da wie jene Älteren, die sich jetzt über sie und ihren Lärm erregen.
Was Nachbarschaftslärm also vor allem ausmacht, ist das Ausblenden des anderen, des Nachbarn eben. Jeder will selbst bestimmen, wann und wo er seine Ruhe haben kann. Der Nachbar hat andere Pläne. Was hilft?
"Und der Herr sprach mit Gernhardt und sprach also zu ihm: Rede mit deinen Leuten, aber schön ruhig. Ihr sollt keine Radios mit euch tragen, so ihr den Fuß aus dem Hause setzt. Ihr sollt keinen Walkman in Bahnen und Zügen benutzen, denn siehe: Der Walkman ist ein Blendwerk des Satans, zu verwirren die Sinne des Menschen, auf dass er glaube er könne seinen Kopf mit Musik vollknallen, ohne dass sein Nächster davon höre. Ich aber sage euch: Und ob er was mithört!"
Und ob bierselige Kegelbrüder oder Piccolo-Sekt-schlürfende Damenkränzchen die Mitreisenden stören!, ergänzt Stephan Lessenich:
"Ich glaube schon, dass es so eine Selbstbezüglichkeit von einzelnen und kleinen Gruppen gibt, die zunehmend weniger mit in Rechnung stellen, wie dann die Wirkung dessen, was sie tun, ist auf die Außenwelt oder Umwelt."
So geschehen auch in Berlin-Kreuzberg auf der Admiralsbrücke. Eine idyllische Ecke, die in der warmen Jahreszeit von 200 bis 300 jungen Leuten besetzt war. Es wurde nicht gegrölt oder gejohlt, es wurde gequatscht, gelacht, gesungen. Das allerdings bis tief in die Nacht hinein.
Doris Wietfeldt: "Die Ausgangslage war, dass die Bewohner gesagt haben: Wir möchten wieder schlafen - das ist das Wichtigste, was wir wollen."
Doris Wietfeldt ist Mediatorin und betreibt die Agentur Streit Entknoten. Sie und ihre Partnerin Sosan Azad gingen wochenlang zu den jungen Leuten und redeten mit ihnen.
"Viele haben gesagt: Oh, das war uns gar nicht bewusst, wenn wir leise auf der Brücke sitzen - man sieht sich ja erstmal alleine. Wenn das aber 300 Menschen gleichzeitig tun, dass das für andere eine Lärmbelastung ist. Viele haben mit viel Verständnis reagiert und waren insbesondere und waren insbesondere darüber erfreut, dass die Anwohner gesagt haben: Wir sollen mit euch ins Gespräch kommen. Wir wollen euch das nicht verbieten, wir wollen mit euch sprechen. Das wurde positiv aufgenommen. Und das war auch der Wunsch der Anwohner: Nicht Menschen zu verjagen, sondern Wege zu finden - miteinander."
Und Sosan Azad ergänzt:
"Was für uns überraschend war: Wie viele Menschen gesagt haben, ‚Oh das wusste ich gar nicht, dass Menschen, die da oben in der zweiten, dritten Etage wohnen, gerade durch mein Verhalten nicht schlafen können. Das ist mir nicht gerade bewusst, aber danke, dass du mir das sagst, und danke, wie du mir das sagst."
Die Polizei war jedoch auch präsent und überwachte die Nachtruhe. Von allein und ohne Nachdruck regelt sich zu wenig.
Weshalb auch besonders die Großstädte einiges tun, um Lärm zu vermeiden, zu vermindern oder zu verlagern - das ist die klassische Triade der Lärmbekämpfung. Sie ist verankert in einer EU-Richtlinie, die vor zehn Jahren Grundlage für die deutsche Umgebungslärmrichtlinie wurde, auf deren Basis Großstädte mit über einer viertel Million Einwohnern bis 2007 Aktionspläne aufzustellen hatten. Die Abrechnung, die das Umweltbundesamt anfertigen ließ, war auf den ersten Blick ernüchternd: Nur ein Zehntel der Kommunen habe etwas Brauchbares vorweisen können, sagt Matthias Hintzsche:
"Das klingt jetzt erstmal wenig. Wenn man aber weiß, dass in diesen 10 Prozent der Kommunen 50 Prozent der Bevölkerung Deutschlands leben, dann ist das schon ein ganz anderes Thema. Also - das Thema Lärmschutz ist in den Kommunen mit der Umgebungslärmrichtlinie neu angekommen. Wir werden nicht innerhalb von fünf Jahren für eine Lärmsituation sorgen können, wo alles gut ist. Wir haben in den vergangenen 50, 60 Jahren Strukturen entwickelt, die das Thema Lärm völlig außer Acht gelassen haben, und ich denke, es wird einige Zeit dauern, um wesentliche Fortschritte zum Thema Lärmbekämpfung machen zu können."