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Das Abrüstungs-Experiment

Plutonium ist der Traum des Physikers, aber der Albtraum des Ingenieurs, heißt es. Plutonium, Rohstoff der Nagasaki-Bombe, gilt als eines der wirksamsten Gifte der Welt, seine Halbwertzeit beträgt 24.000 Jahre. Heute lagert es zu Hunderten Tonnen in vielen Staaten der Erde, unter anderem in russischen und US-amerikanischen Nuklearsprengköpfen. Für diese Altlasten des Kalten Krieges haben die Präsidenten Barack Obama und Dmitrij Medwedew die Abrüstung beschlossen. Russland will das Waffenplutonium in Schnellen Brütern zur Stromerzeugung nutzen.

Von Andrea Rehmsmeier |
    Der Straßenposten winkt durch, und schon rollt der Wagen auf das riesige Betriebsgelände: Beloyarsk. In dem altehrwürdigen Atomkraftwerk, gelegen inmitten der Bergwälder des Ural, wird gerade eine neue Ära der Nukleartechnologie eingeläutet. An den Straßenrändern parken Autos. Sind es Mitarbeiter bei einer Zigarettenpause? Oder ist es der russische Geheimdienst, der hier – wie zu hören ist – die ganze Gegend überwacht?

    Den Fahrer des Wagens scheint das nicht zu kümmern. Er plaudert von seiner Arbeit, von seinen Kindern. Einen offiziellen Pressebesuch hatte die Werksleitung abgelehnt, darum hat er, um der Zugangskontrolle zu entgehen, einfach eine Nebeneinfahrt genommen. Dima – eigentlich heißt er anders – ist ein offenherziger Typ. Als er gebeten wurde, eine heimliche Werksführung zu machen, da war ihm die Verschwiegenheitsklausel in seinem Arbeitsvertrag egal. Jetzt zeigt er auf das viereckige Reaktorgebäude, das vor der Windschutzscheibe auftaucht. Hier arbeitet er.

    "Dieser Reaktor ist wirklich einzigartig. Der BN-600 ist ein Schneller Brüter. Es ist der einzige kommerzielle Schnelle Brüter auf der ganzen Welt, der seit 30 Jahren stabil läuft. Mit flüssigem Metall als Kühlungsmittel. Er ist einzigartig!"

    Der Schnelle Brüter. Seit der Zeit des Manhattan-Projekts nährt er einen alten Menschheitstraum: den von der Wundermaschine, die mehr Energie produziert, als sie verbraucht. Aber er beschwört auch Horrorvisionen herauf: von Super-GAUs und Atombomben in Diktatoren-Händen. Lange galt die astronomisch teure Hochrisikotechnologie als gescheitert. Jetzt ist der Traum wieder da. Und – Ironie der Geschichte - heute soll der Schnelle Brüter nicht nur den globalen Energiehunger stillen, sondern auch noch die Welt von Atomwaffen befreien.

    "Als Teil einer bedeutenden und begrüßenswerten Entwicklung hat Russland bekannt gegeben, dass es seinen letzten Reaktor für die Produktion von Waffenplutonium schließen wird. Darüber hinaus bin ich glücklich, Ihnen nach Jahren harter Verhandlungen mitteilen zu können, dass die USA und Russland heute ein Abkommen über die Vernichtung von 68 Tonnen Plutonium abgeschlossen hat, das für Waffenprogramm vorgesehen war – das wäre genug für 17.000 Nuklearsprengköpfe. Das Plutonium soll eingesetzt werden, um für unsere Völker Strom zu produzieren."

    Washington, 14. April 2010. US-Präsident Barack Obama hat zu einem Weltgipfel für Nuklearsicherheit geladen, Staats- und Regierungschefs aus 47 Ländern sind gekommen. Atombomben abrüsten und das waffenfähige Spaltmaterial sichern, so dass es nicht in die Hände von Terroristen, Diktatoren und Fundamentalisten fallen kann – das ist Obamas Plan. "Global Zero", dieses Wort hat er für seine Vision einer atombombenfreien Welt geprägt. Das Vernichten des Bombenrohstoffs Plutonium soll ein großer Schritt in diese Richtung sein. "Elimination", so nennt es der US-Präsident auf der Pressekonferenz. Das Abkommen selbst, das Obama und der russische Präsident Dmitrij Medwedew unterzeichnet haben, benutzt einen anderen Wortlaut: "management and disposition" – Verwaltung und Verwendung. Obama:

    "Das gehört zu der Art von Übereinkünften, zu der wir mit unserem globalen Plan ermutigen wollen. Es ist ein realer Fortschritt, die Welt sicherer zu machen."

    Plutonium: Das Schwermetall zählt zu den gefährlichsten und giftigsten Stoffen der Erde. Das Energiepotential seiner Isotope ist gewaltig: Sechs Kilogramm löschten im Jahr 1945 die Stadt Nagasaki aus. Als Alpha-Strahler hat es eine Halbwertszeit von 24.000 Jahren. Wenige Mikrogramm, mit der Nahrung aufgenommen oder inhaliert, sind für den Menschen tödlich. Nach 60 Jahren ziviler Kernkraftnutzung und dem atomaren Wettrüsten des Kalten Krieges gibt es heute riesige Bestände, verteilt über die ganze Welt. Allein für die Bestückung von Nuklearsprengköpfen wurden weltweit 250 Tonnen mit einer hohen Konzentration des Waffenisotops Pu-239 produziert. Je 34 Tonnen davon wollen Russland und die USA jetzt unschädlich machen – oder, besser gesagt: in Kernbrennstoff verwandeln.

    Atombomben zu Glühlampenlicht. In Beloyarsk, inmitten der Bergwälder des Ural, soll das beispiellose Abrüstungsprogramm starten. Dima:

    "Sehen Sie das eine Rohr dort, das führt zu Block 3. Die anderen Rohre führen zu den Blocks 1 und 2, aber die sind längst außer Betrieb. Und dort drüben, wo Sie die vielen Baukräne sehen, dort wird gerade der vierte Reaktorblock gebaut. Der soll 2014 ans Netz gehen. In dem Pavillon hier sitzt die Bauleitung."

    Beloyarsk ist eine Landschaft aus Rohren. Kreuz und quer verlaufen sie über das Betriebsgelände, verbinden die Anlagengebäude mit den Kühltürmen. Kuppeln sucht man vergebens, die Reaktoren sind in ganz normalen Hallen untergebracht. Es ist das zweitälteste Atomkraftwerk der Sowjetunion, am Netz seit 1964. Block 1 und 2 sind bereits außer Betrieb. Block 3 aber produziert seit 30 Jahren ununterbrochen Strom: Der BN-600 ist ein 600 Megawatt-Reaktor – zurzeit der einzige kommerzielle Schnelle Brüter weltweit, der mit voller Leistung läuft. Dima:

    "Schnelle Reaktoren können den abgebrannten Kernbrennstoff aus anderen Atomanlagen verarbeiten. Das ist ein geschlossener Energiekreislauf: Es wird weniger Müll produziert, und der Reaktor selbst arbeitet sehr sauber. Das Gefährliche ist nur, dass das Kühlmittel Natrium heftig reagiert, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Auch in unserem Reaktor ist das schon mal passiert, das ist kein Geheimnis. Es ist Kühlmittel ausgelaufen."

    Und was hält Dima von der Idee, in Beloyarsk Waffenplutonium zu verwerten? Vor Erstaunen lässt der junge Ingenieur das Lenkrad fahren: Plutonium? Was denn für Plutonium? Dima ist merklich verlegen. Darüber, sagt er dann, habe ihn die Werksleitung noch gar nicht unterrichtet.

    Tatsächlich: Die Idee, Schnelle Reaktoren für die Abrüstung einzusetzen, ist neu – und das, obwohl die Fachdebatte darüber, wie man Waffenplutonium unschädlich macht, seit dem Ende des Kalten Krieges tobt. Unter US-Präsident Bill Clinton galt die so genannte "Immobilisierung" als Mittel der Wahl: In einer Matrix aus Glas oder Keramik sollte das Plutonium für den Bombenbau unbrauchbar und endlagerfähig gemacht werden. Auch die Verwendung kleinerer Mengen als Mischoxid-Brennstoff für Leicht- und Druckwasserreaktoren, kurz: MOX, wurde für zulässig erklärt. Gegen das Verbrennen in Schnellen Reaktoren aber hatte sich Washington vehement verwehrt – schließlich werden die normalerweise dazu eingesetzt, Spaltstoff zu erzeugen, und nicht zu vernichten. Präsident Obama brach nun das Tabu und gab dem Drängen der russischen Regierung nach. Die Fachwelt wundert dieser Sinneswandel in Washington nicht – auch wenn sich zu diesem ideologisch hart umkämpften Thema fast niemand öffentlich äußern will. Anders Dr. Gerhard Heusener, der ehemalige Leiter des Projekts Schneller Reaktor im Kernforschungszentrum Karlsruhe.

    "Man kann die Auslegung des Reaktorkerns so gestalten, dass man nicht brütet, wenn man das will. Das ist überhaupt ein großer Vorteil des Schnellen Reaktors, er ist flexibel, er kann brüten, er kann aber auch verbrennen. Man muss eben den Reaktorkern anders auslegen."

    Anders als gängige Druck- oder Siedewasserreaktoren arbeitet der Schnelle Reaktor mit schnellen Neutronen. Versieht man den Schnellen Reaktor mit einem so genannten Brutmantel, produziert er dort neuen Spaltstoff und wird so zum Brüter. Ohne Brutmantel dagegen verbrennt er plutoniumhaltigen Kernbrennstoff. Für die Atomwaffen-Nichtverbreitung – die Non-Proliferation, wie es im Fachjargon heißt - ist diese Flexibilität Segen und Fluch zugleich. Das weiß niemand besser als Heusener. Der Pensionär hat sein Berufsleben darauf verwendet, den Schnellen Brüter zu einer hoch effektiven Anlage für die zivile Stromerzeugung zu entwickeln – eine, die, wie er sagt, die Energie im Natururan um 60 bis 80 Mal besser ausnutzt als andere Reaktoren. Bis heute glaubt er an den geschlossenen Brennstoffkreislauf.

    "Das ist keine Zukunftsvision, das haben wir auch in Karlsruhe praktiziert, das wurde in Frankreich praktiziert, und das ist in der Tat ein Perpetuum Mobile. Wobei das im physikalischen Sinne kein Perpetuum Mobile ist. Mit diesem geschlossenen Brennstoffzyklus kann man praktisch unbegrenzt Energie erzeugen."

    Als Experte war Heusener am Genehmigungsverfahren des Schnellen Brüters in Kalkar am Niederrhein beteiligt. Doch das Projekt Kalkar wurde von der Weltpolitik überrollt. Indiens erster Atomtest, Mitte der 70er-Jahre, war das erste Ereignis, das die weltweite Brüter-Euphorie dämpfte: Es war eine Plutonium-Detonation. Kurz darauf stellten die USA ihr Programm ein. Zu groß sei die Gefahr, glaubte der damalige Präsident Jimmy Carter, dass die Brütertechnologie eine Plutoniumwirtschaft begünstige, die zweifelhaften Regimen auf legalem Handelsweg Rohstoff für die Bombe in die Hände spielen würde. Auch in Europa gewannen die Bedenkenträger die Oberhand.

    Die Friedensbewegung wurde zur Anti-Atom-Bewegung, und sie zog Massen an. Auf dem Weltmarkt sanken die Uran-Preise und führten die Idee vom geschlossenen Brennstoffkreislauf ad absurdum: Denn warum sollte man in einem teureren und ökologisch bedenklichen Verfahren das Plutonium aus wiederaufbereitetem Atommüll herausziehen, wenn doch billiges Natururan in rauen Mengen zur Verfügung stand? Schließlich, 1986: der Tschernobyl- Schock. Am Ende, klagt Heusener, war der Schnelle Brüter in Kalkar rein politisch nicht mehr durchsetzbar.

    "In Deutschland war der Prototypreaktor fertig gestellt, wartete auf seine Brennstoffbeladung, aber er wurde von der SPD-geführten Landesregierung NRW zu Tode genehmigt. Es wurden immer neue Auflagen gemacht, immer neue Gutachten gefertigt, so dass letztlich das Projekt nicht mehr durch geführt werden konnte. Das Elektroversorgungsunternehmen - das war sowohl die RWE als auch die Regierung, sahen keine Chance mehr, das Projekt zu Ende zu führen. Rein politische Gründe."

    Heute sind weltweit gerade einmal zwei kommerzielle Brutreaktoren in Betrieb: Außer Beloyarsk in Russland ist seit Mai dieses Jahres auch der japanische Prototyp-Reaktor Monju wieder am Netz. Nach einer 14-jährigen Zwangspause läuft er im Testbetrieb. 1996 hatte es direkt beim ersten Hochfahren einen schweren Natriumbrand gegeben. Sind die Sicherheitsbedenken vielleicht doch berechtigt? Schließlich haben die wenigen Schnellen Brüter, die überhaupt je in Betrieb waren, immer wieder durch Störfälle von sich reden gemacht, weil das Natrium im Kühlsystem Brände verursachte. Doch diese Sorgen teilt Heusener nicht.

    "Kalkar war sicher. Es ist intensiv und über lange Jahre hin untersucht worden. Und wenn ein Kindergarten da in der Gegend wäre, ich hätte keine Bedenken, meine Enkel in diesen Kindergarten zu schicken."

    Was aber ist mit der Befürchtung, Schnelle Reaktoren könnten die Atomwaffenverbreitung vorantreiben? Sind Schnelle Brüter deshalb nicht per se ungeeignet für den weltweiten Einsatz – zum Beispiel in Krisenregionen wie dem Iran? Heusener:

    "Da hätte ich in der Tat Bauchschmerzen. Der Reaktor, der von den Russen im Iran fertig gestellt wird, ist ja ein Leichtwasserreaktor, dort kann man nur relativ schwierig Material für den Bau einer Bombe gewinnen. Bei einem Schnellen Reaktor wäre das anders."

    "Danke für das große Interesse, dass Sie unserer Pressekonferenz entgegenbringen. Wir werden heute den ersten unabhängigen Vortrag über das russische Plutonium-Programm seit zehn Jahren halten. Allerdings ist etwas Unvorhergesehenes eingetreten: Gerade eben haben wir erfahren, dass die Leitung des Kernkraftwerks Beloyarsk ebenfalls eine Veranstaltung in diesem Raum plant, darauf waren wir nicht vorbereitet."

    Der Zufall ist mehr als kurios. In einem Nobelhotel im Stadtzentrum der Ural-Metropole Jekaterinburg hatte ein Angestellter einen Konferenzraum versehentlich doppelt vergeben – und jetzt sitzen sich Atomgegner und Kraftwerksbetreiber unerwartet Auge in Auge gegenüber: Vladimir Sliviak, Vorsitzender der russischen Umweltbewegung Ecodefence, und Nikolaj Oschkanov, ehemaliger Direktor des Kernkraftwerks Beloyarsk und zukünftiger Leiter des bereits geplanten fünften Reaktorblocks. Die Stimmung ist gereizt. Sliviak ergreift das Wort.

    "Wir Ökologen können die Nutzung von Plutonium als zivilen Brennstoff nicht unterstützen. Plutonium ist eines der schrecklichsten Gifte überhaupt, wenn es durch einen Störfall nach draußen geriete, wäre das verheerend! Aus Waffenplutonium Brennstoff zu machen, das ist aus unserer Sicht die gefährlichste Methode überhaupt, das Erbe des Kalten Krieges zu vernichten. Was für ein riskantes Experiment! Dabei gibt es doch die Alternative, das Plutonium einzuglasen und endzulagern. Aber daran würde Rosatom natürlich nichts verdienen - soviel ist sicher."

    Eigentlich wollte Oschkanov der Presse über das Atomprogramm der russischen Regierung berichten: Gerade ist er aus Moskau zurückgekehrt, wo Premierminister Vladimir Putin ihm die Baufinanzierung für Block 5 in Beloyarsk zusagt hat, einen 1200-Megawatt-Brutreaktor. Aber jetzt muss er über Plutonium reden.

    "Sollen wir es wirklich einglasen? Und wer garantiert, dass das Glas nicht irgendwann bricht? Warum nicht im Schnellen Reaktor verbrennen, wenn das gefahrlos möglich ist? Uran geht zur Neige, Öl und Gas gehen auch zur Neige. Schnelle Brüter sind der einzige Ausweg, denn sie verbrennen nicht nur Plutonium, sondern auch das Uran, das in den abgebrannten Brennstäben übrig geblieben ist. Der Schnelle Brutreaktor in Beloyarsk ist von seiner Natur her risikofrei. Ich war dort acht Jahre Direktor, und weitere 16 Jahre Ingenieur. Habe ich mich in dieser Zeit ein einziges Mal vor Ihnen rechtfertigen müssen?"

    Die Testläufe seien bereits im Gange, berichtet Oschkanov. Schon jetzt würden im BN-600 Mischoxyd-Brennelemente mit einem Plutoniumanteil von 20 Prozent verwendet – das ist etwa fünfmal so viel, wie in einem gängigen Druckwasserreaktor. Sliviak, der Umweltaktivist, unterbricht.

    Wie er denn darauf komme, dass ausgerechnet der Brutreaktor von Beloyarsk ungefährlich sei, fragt ein Journalist, während alle anderen Industrienationen ihre Brüter-Programme wegen Sicherheitsbedenken eingestellt hätten? Auf diese Frage hat Oschkanov eine einfache Antwort:

    "In Russland hat es geklappt! Ja! In den USA, Japan und Frankreich haben sie erfolglos herumprobiert, und dann gesagt: Was soll’s, das ist sowieso eine schreckliche Technologie. Sie ist nicht schrecklich, das sieht man in Russland, es ist dieselbe!"

    Der Weltmarkt könnte Oschkanov Recht geben. China hat bereits Interesse bekundet am Kauf zweier Schneller Reaktoren vom Typ BN-600 – und das wäre ganz im Sinne der staatlichen Holding Rosatom. Ein Viertel des Weltmarktes will sie künftig mit ihrer Nukleartechnologie erobern, das ist erklärtes Ziel. Im Inland ist der Bau von 26 neuen Atomkraftwerken geplant. Damit würden die Öl- und Gasreserven des Landes frei für den lukrativen Export ins atomskeptische Europa. Nur die "Vernichtung" von Plutonium – das, womit US-Präsident Barack Obama in der Öffentlichkeit für das russisch-amerikanische Abrüstungsprogramm wirbt – das findet sich in den ambitionierten Plänen der russischen Regierung nicht. Zwar stehen noch nicht alle technischen Details fest. Wahrscheinlich ist aber, dass der im Bau befindliche BN-800 im geschlossenen Energiekreislauf betrieben wird: Während in der Spaltzone Waffenplutonium verbrannt wird, wird im Brutmantel neues Spaltmaterial produziert, ein Gemisch aus dem Waffenisotop Pu239 und weiteren Isotopen: "Energieplutonium", heißt es in Russland. Das hört sich zwar besser an. Aber ein echter Fortschritt für die Abrüstung wäre es nicht, glaubt der Plutonium-Experte Dr. Christoph Pistner vom Öko-Institut Darmstadt.

    "Alles Plutonium, was im Reaktor erzeugt wird, ist kernwaffenfähig. Es gibt Unterschiede beim Abbrand. Es gibt so genanntes waffengrädiges Plutonium, bei dem der Brennstoff nur kurze Zeit eingesetzt wird, damit man reines Plutonium-239 bekommt. Aber auch normales, im zivilen Bereich anfallendes Plutonium ist grundsätzlich für Waffen verwendbar. Wenn Sie das abtrennen, haben Sie das Proliferationsproblem auf der Back-End-Seite, dass Sie Plutonium für Kernwaffen abzweigen könnten."

    Pistner forscht an Technologien, die das Hochrisikomaterial Plutonium möglichst schnell vom Erdball verschwinden lassen sollen. Dass jetzt ausgerechnet eine Technologie ihre Renaissance erlebt, die die ohnehin gewaltigen Mengen noch weiter vergrößern könnte, dafür hat er kein Verständnis.

    "Glaubt man daran, dass man Kernenergie in einem Maße und in einem Zeitraum nutzen wird, dass man darauf angewiesen ist, spaltbares Material zu gewinnen? Im Moment sehe ich das nicht. Und auf der Basis ein solches Szenario weiterzuverfolgen, mit den Problemen die ich eben angesprochen haben, halte ich für extrem fraglich. Es ist eigentlich nicht notwendig."

    Geschätzte 2500 Tonnen Plutonium, berichtet Pistner, liegen zurzeit in abgebrannten Brennstäben vor. Dazu kommen 250 Tonnen isoliertes Reaktorplutonium aus der Wiederaufbereitung, für die ein überzeugendes Nutzungskonzept fehlt. Das wirtschaftliche Interesse liegt auf der Hand.

    "Es gibt einige Staaten, die nach wie vor daran glauben, dass Plutonium ein Wertstoff ist. Das Problem ist, wenn man sich entscheiden würde, Plutonium als Abfall zu bezeichnen, dann müsste man es zeitnah entsorgen. Was in jedem Fall mit sehr hohen Kosten verbunden wäre. Mit erheblich höheren als mit Uran, weil man natürlich zuerst mal mühsam das alles abgetrennt hat, und das jetzt aber in dieser reinen Form nicht der Endlagerung zuführen könnte. Sondern man muss es in eine Form bringen, dass es in einem Endlager langfristig nicht freigesetzt würde."

    Ist Plutonium Hochrisikomüll mit hohen Endlagerkosten? Oder möglicherweise doch ein lukrativer Energieträger? Im Ural könnte diese Frage jetzt beantwortet werden.

    Säulen, Lüster, Deckengemälde - wer in dem Eingangsgewölbe der Uraler Technischen Universität steht, der ahnt: Hier wird Technikgeschichte geschrieben, und das seit fast 100 Jahren. Am renommierten Lehrstuhl für Atomenergie machen rund 250 Studierende jedes Jahr ihren Abschluss, im 50 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Beloyarsk absolvieren sie Praktika. Der Leiter des Lehrstuhls, Professor Sergej Schaklejn, gilt als Koryphäe.

    "Ich war in Japan dabei, bei dem Unfall, der sich 1995 beim Hochfahren des Schnellen Brüters Monju ereignete. Natrium trat aus, es kam zum Brand. Das alles fand weit entfernt von der Reaktorsektion statt, der Unfall wurde schnell lokalisiert, Radioaktivität ist nicht ausgetreten. Doch die Öffentlichkeit war so beunruhigt, dass das Brutreaktor-Programm ausgesetzt werden musste."

    Professor Schaklejn lächelt verbindlich. Er ist ein Mann mit internationaler Erfahrung: Nie würde er sich hinreissen lassen, öffentlich die Atompolitik anderer Staaten zu kommentieren – so, wie es im Mittelbau seines Lehrstuhls durchaus üblich ist. Hier gibt es Erstaunen, Amüsement, manchmal Empörung darüber, wenn Staaten wie Deutschland mit hoch entwickelten Nuklearindustrien vor einer emotionalen Bevölkerung einknicken. Professor Schakléjn aber bleibt lieber bei der Technik. Der BN-600 hat ein anderes Design als der Monju-Reaktor. Der Dampferzeuger ist ein Modulsystem mit Frühwarnsystem für Lecks, in dem sich die betroffenen Teile unkompliziert austauschen lassen. Spezialbeton absorbiert herabtropfendes Natrium, bevor es sich entzünden kann. Muss ein Dampferzeuger repariert werden, übernimmt ein zusätzlicher Reserve-Generator dessen Funktion.

    "Es hat auch bei uns Störfälle gegeben, auch solche mit Natriumlecks. Aber da muss man nur wissen, wie man damit umgeht. Im BN-600 befindet sich das Kühlmittel Natrium in einem hermetisch abgeschlossenen Raum: Selbst wenn es zu einem Brand kommt, weil das Kühlsystem leckt, das Natrium austritt und mit Sauerstoff reagiert, erledigt sich dieses Problem innerhalb von Sekunden alleine: Dann ist der Sauerstoff verbrannt, und damit kann nichts mehr reagieren. Wir führen solche Situationen künstlich herbei, um die Methode zu entwickeln. Alle wissen, was sie zu tun haben, um Störfälle zu verhindern."

    Das Ergebnis überzeugt – offensichtlich. Aus aller Welt reisen die Delegationen an den Ural, berichtet Schaklejn, um sich über den aktuellen Forschungsstand zu informieren. Jetzt muss nur noch ein standardisierter Kernbrennstoff mit hohem Plutoniumanteil entwickelt werden – und der Schnelle Brutreaktor aus dem Hause Rosatom ist reif für den globalen Markt.

    Die Instanz, die die Einhaltung der Vertragsbedingungen im russisch-amerikanischen Plutonium-Abkommen voraussichtlich überprüfen wird, hat ihren Sitz bei der UNO in Wien. Auch bei der Internationalen Atomenergie-Organisation, kurz: IAEO, gibt es keine grundsätzlichen Vorbehalte gegen die Technologie der Schnellen Reaktoren. Im Gegenteil: Sie soll die Atomkraft zukunftsfähig machen, auch dann noch, wenn das Natururan knapp wird – also nach IAEO-Schätzungen in etwa 100 Jahren, berichtet der Nuklearphysiker Alexander Stanculescu. Er leitet bei der IAEO die technische Arbeitsgruppe Schnelle Reaktoren.

    "Wenn die Gesellschaft bereit ist, Kernenergie zu akzeptieren als einen Teil der Energieversorgung, dann macht das nur dann Sinn, wenn der Schnelle Reaktor ein Teil vom Strommix wird. Weil er stellt sicher, dass man ihn zum Brüten oder zum Nutzen von Plutonium verwenden kann. Mit anderen Worten: sich anpassen kann an veränderte Randbedingungen."

    An diesem Tag hat Stanculescu Besuch aus Russland – dem Land, in dem die Frage der gesellschaftliche Akzeptanz von Kernenergie gar nicht erst gestellt wird. Professor Viktor Murogov ist an verschiedenen Nuklearprogrammen der russischen Regierung beteiligt, als Experte für Plutoniumvernichtung, Atomwaffen-Nichtverbreitung und Schnelle Reaktoren.

    "Das ist das Fundament für die Weiterentwicklung der Kernenergie! Man könnte den Uranbergbau schließen und als benötigten Spaltstoffe selbst herstellen. Dann ist auch das Problem mit der Atomwaffenverbreitung durch die Urananreicherung gelöst. Es gibt nichts außer einem geschlossenen Brennstoffkreislauf. Plutonium gibt es schließlich genug!"

    Den Brennstoffkreislauf schließen: Das ist eine Perspektive, die Murogov zum Schwärmen bringt. Beloyarsk macht jetzt den ersten Schritt - mit Finanzhilfe aus dem amerikanischen Abrüstungsbudget, und unter Aufsicht der IAEO. Ohnehin muss die Plutonium-Frage bald entschieden werden, da sind Murogov und Stanculescu sich einig. Und besser aufgehoben als in zweifelhaften Zwischenlagern oder in geologischen Formationen, wo die Militärs der Zukunft es jederzeit wieder herausholen könnten, sei das Plutonium in geschützten Reaktoranlagen, die unter internationaler Aufsicht stehen. Doch: Der gesundheitsgefährlichste Kernbrennstoff der Welt in einem störanfälligen Reaktortyp, und das ohne jahrelange Betriebserfahrung – ist das nicht doch ein "riskantes Experiment", wie der Atomgegner Sliviak es ausgedrückt hat? IAEO-Experte Stanculescu schüttelt den Kopf. Mit einer internationalen Forschergruppe hat er die physikalischen Sicherheitsparameter beim Brennstoff-Wechsel von angereichertem Uran auf Plutonium berechnet.

    "Es ging uns darum, herauszufinden, ob die Russen die geeigneten Werkzeuge haben - sprich: Computerprogramme und Basisdaten, um so einen Kern richtig durchzurechnen. Und was die IAEA mit diesem Projekt erreicht hat, war, den Russen zu helfen, deren Rechnerprogramme und Daten zu validieren. Wenn sie jetzt von Uran zu Plutonium gehen: Haben wir dann noch die Werkzeuge, sind diese Sicherheitsanalysen noch gültig, wenn wir diesen Brennstoff ändern. Und die Antwort war Ja. Wir können noch mit dem gleichen Vertrauensgrad sagen, dass dieser Kern sicher ist."

    Für die russische Regierung ist die Marschrichtung klar: Ab 2030 soll die Brutreaktor-Technologie und der dazugehörige Brennstoff soweit entwickelt sein, berichtet Murogov, dass sie zehn Prozent des russischen Strombedarfs decken kann. Doch die straffe russische Strategie wirft Fragen auf. Darf es Abrüstung genannt werden, wenn der Abrüstungsreaktor in seiner Spaltzone zwar Waffenplutonium verbrennt, aber im Brutmantel neues waffenfähiges Spaltmaterial erzeugen kann? Kann eine Plutoniumwirtschaft im Interesse der internationalen Gemeinschaft sein, wenn das bedeutet, dass immer mehr Hochrisikomaterial gesichert, verarbeitet und möglicherweise über Kontinente hinweg transportiert werden muss? Murogov lässt keinen Zweifel: Die russische Regierung hat diesen Weg bereits eingeschlagen. Und sie hat breite Unterstützung.

    "Kernenergie ist kein Weihnachtsgeschenk – da stimme ich zu. Aber was ist der Gegenvorschlag? Das Plutonium gibt es doch! Hochradioaktiven Atommüll gibt es doch! Und es gibt nur einen Weg, das zu zerstören: Den Schnellen Reaktor. Aber Plutonium ist unser Gold! Wenn wir es zerstören, hat die Kernenergie keine Zukunft."