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Das afghanische Frauenorchester "Zohra" zu Gast in Berlin
Musizieren unter Lebensgefahr

Für die Taliban, die in weiten Teilen Afghanistans mit brutaler Unterdrückung und steinzeitlicher Ideologie den Alltag bestimmen, gehören Frauen und Mädchen ins Haus, nicht in die Öffentlichkeit - und erst recht nicht mit der Musik der Ungläubigen, der europäischen Klassik. Doch die spielt das "Zohra"-Orchester ebenso wie traditionelle Musik.

Von Matthias Nöther |
    Das afghanische Frauenorchester "Zohra" spielt in der Berliner Gedächtniskirche
    Mutige Musikerinnen: das afghanische Frauenorchester "Zohra" (Deutschlandradio / Till Lorenzen)
    Der Andrang vor der Kaiser-Gedächtniskirche ist gewaltig, es wird gedrängelt und geschubst. Ein Frauenorchester aus Afghanistan – selbst für die kulturell und multikulturell überfütterten Berliner ist das nun wirklich mal was Neues:
    "Ja, weil ich gern irgendwie die afghanische Musik höre, mich für das Land auch sehr interessiere. Und vor allem, wenn das jetzt junge Frauen sind, junge Mädchen, die ins Ausland reisen, finde ich das schon ne Chance auch, die mal hier zu erleben." "Also ich kümmere mich um eine afghanische Familie – die Frauen der Familie habe ich auch mitgebracht. Und wir hoffen, dass wir einen schönen Abend haben werden."
    Traditionelle und klassische Instrumente
    In der Mitte der Bühne sitzen, edle grünrote Kopftücher locker umgeworfen, ungefähr zehn Mädchen im Teenager-Alter auf dem Boden. Vor ihnen liegen traditionelle afghanische Instrumente: darunter das typische Nationalinstrument Rubab. Die Schalenhalslaute hatte vor der Machtübernahme der Taliban vor rund dreißig Jahren in vielen afghanischen Privathäusern einen festen Platz. Daneben die dreiseitige Langhalslaute, die Sitar, und die Tabla als traditionelle Trommel des mittleren Ostens. Um diesen inneren Kreis bildet sich ein weiterer von noch einmal etwa zwanzig Mädchen auf normalen Stühlen: Ein Kammerorchester aus Bläsern und Streichern, im Hintergrund zwei Damen am Flügel.
    Musik
    Der Musiker und Institutsdirektor Ahmad Sarmast ist der Sohn eines namhaften afghanischen Dirigenten. Unter den Taliban floh er nach Russland und Australien und wurde der erste Afghane mit einem Doktorgrad im Fach Musikwissenschaft. Nach seiner Rückkehr in die Heimat verfasste er 2006 ein Konzept zur Wiederbelebung der afghanischen Musikkultur. Daraus ging das Nationale Musikinstitut hervor.
    "Ich erinnere mich: Als ich 2006 zum ersten Mal nach dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes nach Afghanistan kam, gab es sogar im afghanischen Parlament Leute, die Musik wieder ächten wollten und Frauen vom Musizieren fernhalten wollten. Aber seitdem hat Afghanistan einen langen Weg zurückgelegt. Es ist viel entspannter als damals. Musik ist wieder Teil der Medien. Musik hat wieder ihren verdienten Platz im privaten, öffentlichen und kulturellen Leben der afghanischen Gesellschaft gefunden. Es gibt heute keine Hochzeiten und Veranstaltungen mehr ohne Musik. Musik hat wieder den gleichen Platz wie sagen wir vor vierzig Jahren. Wir müssen das Stigma und die Ideologie überwinden, die dem afghanischen Volk eingepflanzt wurde. Es verändert sich, aber es ist ein langer Prozess."
    Initiative von Musikschülerinnen
    "Zohra", das erste afghanische Frauenorchester, ist der vorerst letzte und mutigste Schritt auf dem Weg zur Teilhabe aller Afghanen am und im öffentlichen Musikleben. Wie es dazu kam, erzählt die neunzehnjährige Negin Khpolwak, eine der beiden Dirigentinnen des Orchesters.
    "Es war die Idee einer unserer jüngeren Mitschülerinnen. Sie ging zu Doktor Sarmast und fragte, ob wir Mädchen nicht auch ein Ensemble haben könnten. Die Jungen hatten schließlich schon mehrere. Doktor Sarmast sagte: Warum nicht? Wir hatten dann zuerst sehr kleine Instrumentalgruppen, aber dann wurde es ein richtiges Orchester, und wir hatten dann sogar Konzerte in Kabul und jetzt unsere erste Auslandsreise."
    Musik
    Negin Khpolwak dirigiert das Zohra-Orchester im anspruchsvollsten Teil des Konzerts in der Berliner Gedächtniskirche. Es sind Stücke, die von afghanischen Komponisten vor den 1990er Jahren komponiert wurden – zu einer Zeit, als es in dem Land viele hundert Musikensembles, ein Radiosinfonieorchester und eine blühende Pop- und Filmmusikindustrie gab. Der Weg zurück zu solcher Blüte wird ein langer sein. Negin darf Klavier spielen, dank der Unterstützung ihres Vaters aber auch gegen große Widerstände aus anderen Teilen ihrer Familie, wie sie erzählt. Die zweite Dirigentin von Zohra ist die achtzehnjährige Bratschistin Zarifa Adiba. Noch ihre Mutter hat nie eine Schule besucht. Ihr selbst und ihren Mitschülerinnen ist es unmöglich, ihr Instrument zwischen der Schule und ihrem Elternhaus zu Fuß zu transportieren.
    "Es ist wirklich gefährlich für Mädchen, ihr Instrument aus der Schule mitzunehmen. Es gibt einige Mädchen, die in Afsíko wohnen. Sie müssen von der Schule nur fünf Minuten nach Hause laufen, aber sie können ihre Instrumente nicht mit nach Hause nehmen. Sie müssen mit verbalen Bedrohungen rechnen, und am Ende ist es lebensgefährlich für sie. Und ich wohne sogar viel weiter weg, eine Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich habe mal versucht, mein Instrument mit nach Hause zu nehmen. Aber ich hatte wirklich große Angst."
    Starkes Signal
    Als erste afghanische Dirigentin aller Zeiten aufzutreten, erfordert unter diesen Umständen um so mehr Mut. Zarifa Adiba und Negin Khpolwak sind in dieser Funktion zu einem Symbol geworden, allerdings nicht nur sie, sondern das gesamte Zohra-Orchester, wie Zafira Adiba betont.
    "Sie sind alle Symbole für alle Mädchen in Afghanistan, nicht bloß wir Dirigentinnen. Cello, Geige, Flöte, Oboe zu spielen, alles das ist ein großes Risiko, und daher kann es ein starkes Signal an alle afghanischen Mädchen sein, hervorzutreten, für sich selbst und ihre Träume zu kämpfen. Natürlich sieht man zuerst die Dirigentin – Negin und ich werden andauernd ausgewählt, um in den Medien für die Gruppe zu sprechen. Fast jeder kennt Negin Khpolwak (Negín Kolhuá) und Zarifa Adíba. Wir sind irgendwie berühmt."
    Auch in guten Zeiten hat es in Afghanistan kein Institut gegeben, wo so viele junge Menschen ein Musikinstrument lernen konnten. Im Nationalen Musikinstitut sind es nach fast zehn Jahren an die siebzig Schülerinnen und Schüler. Das Institut ist nun dabei, von Kabul aus Dependancen in anderen afghanische Provinzen zu gründen.