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Das Allerheiligste der jüdischen Identität

Shlomo Sand ist ein kritischer israelischer Historiker. In Israel gehört er zu den Postzionisten - so werden systemkritische Intellektuelle, die jenseits des Mainstream publizieren, in Israel genannt.

Von Jochanan Shelliem |
    Shlomo Sand geht es anders als seinen post-zionistischen Historikerkollegen nicht um den Kriegsverlauf von 1948, der lange als Verteidigungskrieg verbrämt worden ist, sondern um den Kern des Zionismus, das paradoxe Allerheiligste der jüdischen Identität im Staate Israel.

    "Ich zähle mich zu den Historikern, die man Postzionisten nennt. Anders als die Anti-Zionisten bestreiten wir das Existenzrecht des Staates Israel jedoch nicht, wir analysieren die Geschichte des Zionismus, weil wir den Zionismus als Charakteristika des Staates Israel abschaffen wollen."

    Bei Sands Arbeit handelt es sich trotz des reißerischen Titels "Die Erfindung des jüdischen Volkes – Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand" um eine Ideologiegeschichte, genauer eine Religionsgeschichte, aber auch um eine Streitschrift, die ihre Kraft aus den inneren Widersprüchen der zionistischen Geschichte bezieht. Als vor gut 100 Jahren junge säkulare Juden im Schatten der Pogrome von Kaiser- und Zarenreich, gelockt vom bürgerlichen Aufbruch der europäischen Nationen, erschreckt von dem antisemitischen Ausbruch der Französischen Republik, die den Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus als jüdischen Verräter zum Tode verurteilen ließ, als man sich also im liberalen Basel traf, um auf dem zionistischen Kongress nach einem Refugium zu suchen, war die religiöse Heimat der säkularen Bewegung rasch ausgemacht. Nach dem von Josephus Flavius wortmächtig beschriebenen Exodus der aufständischen Judenheit aus dem Heiligen Land wollte man nach Jerusalem. So wie es alljährlich im Gedenken an den Auszug aus der ägyptischen Sklaverei zu Pessach heißt, Le shana haba be Jerushalajim – Nächstes Jahr in Jerusalem – so zogen Zionisten um 1900 aus den Ghettos von Westeuropa in den Nahen Osten.

    Aus dem religiösen Narrativ wurde die Gründungslegende der jüdischen Nation, gestiftet von den assimilierten Juden in Berlin und in Wien. Sand greift diesen inneren Widerspruch der zionistischen Geschichte auf, kombiniert ihn jedoch mit der seltsamen Suche nach Beweisen für eine biologistische Definition des Volkes der Juden. Diese Dummheit wird nicht dadurch besser, wenn sie sich pietistisch jüdischen Wissenschaftlern auf der Suche nach dem jüdischen Gen anschließt. Die politische Wirkung seiner Arbeit über den israelischen Gründungsmythos insgesamt aber verpufft. Denn in Israel, trifft die Arbeit von Shlomo Sand auf ein nach rechts gedriftetes Lesepublikum, auf religiöse Siedler, die sich ob nun der Auserwähltheit oder der historischen Ausdehnung des Königreiches von Judäa jeglicher religionsgeschichtlicher Vorlagen bedienen, um ihre Ansiedlung im Westjordanland zu legitimieren. In diesem Umfeld bezweifelt Sand die Kernszenen des nationalen Narrativs. Doch die Siedler lesen das Buch eines "Ungläubigen" nicht.

    "Der Auszug der Israeliten aus Ägypten, er fand nicht statt. Die Ägypter herrschten damals über Kanaan. Moses soll die Juden also aus dem Herrschaftsbereich der Ägypter herausgeführt und in dasselbe Gebiet gebracht haben? Weder Historiker noch Archäologen fanden dazu einen einzigen Beweis, das ist eine Legende."

    Auch den Exodus der Aufständischen Juden aus dem Gelobten Land habe es nie gegeben, so Shlomo Sand.

    "Man muss die Arbeiten von Josephus Flavius über die jüdischen Kriege ganz genau lesen. Die Römer haben das jüdische Volk nicht ins Exil verschleppt. Das ist eine Legende. Es gibt keine einzige wissenschaftliche Quelle, die das belegt. Flavius sprach auch nicht vom Exil, er sprach davon, dass einige 10.000 Gefangene gemacht worden sind. Aber auch das ist eine Übertreibung, weil wir wissen, dass er wie alle Historiker seiner Zeit nicht rechnen konnte. Doch selbst wenn es 10.000 gewesen wären, wäre dies nicht das ganze Volk. Ja, die Römer haben nach dem Aufstand viele getötet, aber sie haben nicht das Ganze Volk verschleppt, weder war das Bestandteil ihrer Politik, noch verfügten sie über die notwendigen Mittel dazu. Die Juden sind 70 nach Christi Geburt nicht aus Judäa vertrieben worden, auch wenn in der Unabhängigkeitserklärung auf die Legende verwiesen wird. Das ist ein Mythos."

    In diesem Stil geht es durch das ganze Buch. Sand sucht nach rassischen Verbindungen, um die Nation zu begründen und weil man den NS-Begriff heute nicht mehr mag, spricht er von Ethnie. Für das Überleben des jüdischen Glaubens macht er jüdische Proselyten verantwortlich – also zum Judentum bekehrte Heiden.

    "Zwischen dem zweiten Jahrhundert vor und dem vierten nach Chr. hat das Judentum als erste monotheistische Religion viele Menschen bekehrt. Anders als es das Bild vermuten lässt, dass heute das Judentum als verschlossene Gemeinschaft, fast als Sekte sieht, wurden durch diese erste monotheistische Religion die Massen im gesamten Mittelmeerraum missioniert."
    Sand entdeckt jüdische Völker in Arabien, im Berberreich und am Kaspischen Meer. Erst durch den Aufstieg der christlichen Kirche und die Dominanz des Sultanats in den letzten 1500 Jahren habe man die Missionierung eingestellt. Auf ebenso sanfte Weise, nämlich indem jüdische Gemeinden unter islamischer Herrschaft ihren Glauben ablegten, um in den Genuss von Vorteilen zu kommen, sei das jüdische Königreich von Juden entvölkert worden. Es sind wenig heroische Prämissen, die Shlomo Sand anbietet. Letztlich jedoch ist seine Streitschrift ein Plädoyer für die zivile Nachbarschaft in dem Verkehrsknoten Nahost, wo jeder wohl mit jedem verwandt scheint.

    "Auf einen Satz gebracht, steht das Buch für meine Hoffnung, dass die jüdische Identität als ein offenes Selbstbewusstsein begriffen wird, das generöse Selbstbewusstsein des Staates Israel."
    Jochanan Shelliem war das über das Buch von Shlomo Sand. Der Titel: "Die Erfindung des jüdischen Volkes: Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand". Erschienen im Propyläen Verlag, mit 512 Seiten, zum Preis von 24,95 Euro, ISBN: 978-3549073766.