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Das amerikanische Trauma

Zehn Jahre nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center haben es Muslime in den USA schwerer denn je. Im ländlichen Amerika steigert sich das ihnen entgegengebrachte Misstrauen manchmal sogar zur Islamophobie.

Von Klaus Remme |
    "Wir kommen jedes Jahr, um an einen Tag zu erinnern, der wie jeder andere begann und wie keiner anderer zuvor endete",

    so Michael Bloomberg, der Bürgermeister von New York City, am 11. September des vergangenen Jahres, kurz nach dem Glockenklang um 8.46, der den Einschlag des ersten Flugzeugs in das World Trade Center markierte.

    Die Glocke, die Reden, die Namen der Opfer, die Trauermusik, sie werden auch in diesem Jahr nicht fehlen. Und auch wenn Ground Zero zehn Jahre nach den Anschlägen auf den ersten Blick noch immer eine Baustelle ist, wo Presslufthämmer dröhnen, Zement gegossen wird und neue Bürotürme entstehen - es ist nicht länger nur eine Baustelle. Für die Angehörigen ist dieser Platz seit zehn Jahren ohnehin heiliger Boden. Vor allem für diejenigen unter ihnen, fast 40 Prozent, die ohne sterbliche Überreste erinnern müssen.

    Doch auch für alle anderen wurde pünktlich zu diesem Jahrestag das Mahnmal geschaffen. Noch ist es durch Zäune abgeschirmt, am Sonntag soll es eröffnet werden. Reflecting Absence, so der Name des Denkmals, übersetzt etwa: Nachdenken über das, was fehlt. Auf den Grundflächen der ehemaligen Zwillingstürme sind zwei quadratische Becken entstanden, 60 Meter breit, neun Meter tief. Wasser fließt, die Wände entlang, in das Becken. Am Rand sind die Namen aller knapp 3000 Opfer des 11. September zu lesen, darunter die von 343 Feuerwehrmännern. Dan Prince ist ehemaliger Feuerwehrmann in New York. Er erinnert sich an die Zeit unmittelbar nach 2001 und unterstreicht diesen internationalen Aspekt der Anschläge in seiner Stadt:

    "Man konnte damals auf einer Plattform die Arbeiten verfolgen und man sah die Flaggen der Länder, die Tote zu beklagen hatten. Jedem wurde klar, dass dies kein Anschlag auf New York war, nicht einmal nur auf Amerika."

    Michael Werz ist Sozialwissenschaftler am Center for American Progress in Washington:

    "Das war einer der zentralen Attraktionspunkte für die Verbrecher des 11. Septembers, das kulturelle Herz einer Zukunftsgesellschaft zu treffen, nämlich die Stadt, die tagtäglich den lebenden Beweis dafür antritt, dass ein Leben verschiedener nationaler Herkünfte, ethnischer Traditionen, religiöser Überzeugungen durchaus möglich ist."

    New York ist Welthauptstadt, sagt Kevin Madigan und schüttelt den Kopft angesichts der Frage, ob er noch immer gerne hier lebt. Madigan ist Pfarrer in St. Peter, nahe Ground Zero, die älteste katholische Gemeinde im ganzen Bundesstaat. Seine Kirche wurde in den ersten Stunden zur Leichenhalle, 30 Opfer wurden dort vorübergehend hingebracht. Der Stadtteil hat sich nicht nur erholt, sagt Madigan, die Einwohnerzahl hier habe sich in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt.

    Eine der beliebtesten und teuersten Gegenden der Stadt, wo Wohnungspreise nicht nur nach Quadratmetern, sondern aufgrund hoher Decken umfunktionierter alter Gebäude nach Kubikmetern berechnet werden. Man muss es sich also leisten können.

    Die Gedenkfeiern in New York dominieren diesen zehnten Jahrestag. Dabei wird auch in Shanksville, Pennsylvania, gebaut - dort wo das vierte Flugzeug, United 93, auf ein Feld stürzte, nachdem Passagiere den Kampf mit den Terroristen an Bord riskierten. 40 weiße Marmortafeln, aufgestellt in Flugrichtung, erinnern an den Ort, an dem zufällig Weltgeschichte geschrieben wurde. Auch dieses Mahnmal wird jetzt nach zehn Jahren offiziell eröffnet. Doch schon bisher kamen etwa 160.000 Besucher im Jahr. Jeff Reinbold, beim National Park Service für das Denkmal verantwortlich:

    "Viele Amerikaner kommen nicht mal schnell nach Manhattan, ein Ort, der bedrohlich wirken kann. Auch das Pentagon ist kein natürliches Besuchsziel, nichts wirkt bedrohlich an einem Feld in Pennsylvania."

    Connie und Sam Stevanus wohnen nur wenige Hundert Meter vom Absturzort von Flug 93 entfernt. Sie zeigen Aschereste. Mehrere Plastiktüten voll haben sie auf ihrem Grundstück eingesammelt, viel mehr blieb nicht zu tun. Die ganze Einfahrt sei schwarz gewesen, erzählt Connie. Es traf sie bis ins Mark:

    Tun sich die Amerikaner schwer mit dem Gedenken an 9/11? Zbigniew Brzezinski, mit 83 Jahren einer der erfahrensten Kenner der US-Außenpolitik, schaut von seinem Büro von der K Street in Washington auf den Verkehr unter ihm. In den 70ern war er Nationaler Sicherheitsberater unter Präsident Jimmy Carter, heute ist der 83-Jährige Professor an der Johns Hopkins Universität und berät am Zentrum für Strategische und Internationale Studien:

    "Das kann sein, es kann aber auch an etwas liegen, das ich nicht exakt beschreiben kann. Es gibt zurzeit eine geschichtliche Unsicherheit über das Land, seinen Platz in der Welt und die Bedeutung bestimmter Ereignisse. Wir leben in Zeiten, die nicht mehr so übersichtlich sind wie im Kalten Krieg oder gar während des Zweiten Weltkriegs."

    Unsicherheit und Verunsicherung – diese beiden Worte fallen häufig, am Ende einer Dekade, die so ganz anders verlief, als es anfangs aussah. Als George Bush nach einem beispiellos umstrittenen Wahlsieg im Januar 2001 die Präsidentschaft von Bill Clinton übernahm, deutete alles auf vergleichsweise rosige Zeiten. Wirtschaftlich, militärisch, machtpolitisch war Amerika unangefochtene Supermacht. Anstatt diesen Status zu genießen, mussten sich die Amerikaner wenige Jahre später mit Blick auf den Rest der Welt fragen: Warum hassen die uns so? Eine Frage, die für viele im Land auch zehn Jahre später noch immer ohne Antwort ist, so Thomas Kleine-Brockhoff, vom German Marshall Fund in Washington:

    "Amerika hat sich ja traditionell als eine exzeptionelle Nation verstanden, als Hort der westlichen Werte. Der Anschlag von 2001 war im Grunde der Höhepunkt dieses Bewusstseins, denn er machte Amerika ja zum Opfer. Stattdessen ist etwas anderes passiert in dieser Dekade, während man auf einer moralisch hohen Position stand, man war ja der Angegriffene, ist dieser Glaube an die eigene Überlegenheit gewichen der Erfahrung von Abu Ghraib und auch, das darf man nicht vergessen, dem Zusammenbruch der Wahrnehmung des überlegenen, westlichen, amerikanischen Wirtschaftsmodells. Das heißt also, wir haben es ein Jahrzehnt später mit einer Selbstbewusstseinskrise zu tun, die Amerika in den Grundfesten erschüttert und die aus diesen beiden Elementen entsteht: einer moralischen und einer systematischen Selbstbewusstseinsfrage."

    Diese Krise in Zahlen auszudrücken, ist einfach. Im Durchschnitt aktueller Meinungsumfragen sehen 74,4 Prozent der Amerikaner das Land auf dem Weg in die falsche Richtung. Diese überwiegende Mehrheit verdeutlicht, das es sich hierbei nicht – wie sonst so oft in den USA – um eine Frage handelt, die entlang der tiefen Parteigräben unterschiedlich beantwortet wird. Zweieinhalb Jahre nachdem sich die Wähler mehrheitlich für einen Machtwechsel im Weißen Haus entschieden haben, zweifeln sie auch an Barack Obama. Dabei wäre es zu einfach, die 'Post-9/11-Dekade' in die Zeit vor und nach George Bush einzuteilen. Der Rückblick nach zehn Jahren erlaubt die Dreiteilung:

    Wer nicht für uns ist, ist gegen uns - Dieses präsidiale Diktum unmittelbar nach den Anschlägen steht für ein Weltbild, das nach Meinung von Zbigniew Brzezinski auch heute noch in weiten Teilen des Landes verbreitet ist - seiner Meinung nach Ursache dafür, dass die wichtigste Lehre nach dem 11. September noch immer nicht gelernt worden ist:

    "Das Land ist einer dramatischen Simplifizierung erlegen: Ausgedrückt durch die Worte von George Bush, ich zitiere das hier wörtlich: 'Sie hassen Freiheit' und sie - das wurde in der Regel religiös beschrieben - heilige Krieger oder gar Muslime. So wurde ein umfassendes Verständnis der Bedrohung durch 9/11 untergraben und die Verpflichtung moderner pluralistischer Demokratien, ohne Demagogie zu reagieren."

    Während der Krieg in Afghanistan noch weitgehend ohne innenpolitische Kontroverse und mit internationaler Abstimmung begann, eskalierte die erste Reaktionsphase schnell. Ein umstrittener Krieg im Irak führte zu Verwerfungen mit Partnern, die plötzlich als "altes Europa" abgestraft wurden. Das Lager in Guantanamo, sogenannte verschärfte Verhörmethoden - für Kritiker im In- und Ausland schlicht Folter - und eine beispiellose Gesetzgebung zur Inneren Sicherheit gehörten dazu. Doch die erste Zäsur kam nicht erst mit den Kongresswahlen 2006 oder den Präsidentschaftswahlen zwei Jahre später. David Cole ist Jura-Professor an der Georgetown University:

    "Die zweite Amtszeit war weniger radikal, es gab keine außerordentlichen Auslieferungen mehr, es wurde nicht länger gefoltert. Militärkommissionen wurden reformiert, gerichtlich nicht autorisierte Abhöraktionen eingestellt. Die zweite Amtszeit von George Bush war stärker durch Recht und Gesetz bestimmt, nicht aus eigener Einsicht, sondern durch öffentlichen Druck oder durch Gerichte. Wir waren aber deshalb nicht weniger sicher als in der erste Amtszeit von Bush."

    Pünktlich zum Jahrestag verteidigt einer der einflussreichsten Polit-Architekten dieser Dekade seine Entscheidungen. An der Seite von George Bush hat Dick Cheney als Vize-Präsident die amerikanische Antwort auf den 11. September in all ihren Facetten maßgeblich geprägt. Im Interview mit CNN war er vor einigen Tagen nicht bereit, im Rückblick auf seine acht Amtsjahre auch nur einen einzigen Fehler zuzugeben:

    "Im Großen und Ganzen haben wir richtig entschieden. Viele der umstrittensten Maßnahmen, für die wir kritisiert wurden, das Abhörprogramm zum Beispiel oder die verschärften Verhörmethoden, haben Leben gerettet. Unter dem Strich gilt als Beleg für unseren Erfolg: Es hat keinen weiteren Terroranschlag mit hohen Opferzahlen gegeben. Ich bin stolz auf unsere Politik, ein Mea Culpa wird es von mir nicht geben."

    Barack Obama in Kairo 2009, wenige Monate nach seiner Amtseinführung, auf der Suche nach einem Neubeginn der Beziehungen Amerikas zur islamischen Welt. Seine Wahl markiert die dritte Phase dieser Dekade nach dem 11. September. Doch während der neue Präsident im Ausland um islamische Partner wirbt, sehen sich Muslime in den USA auch zehn Jahre nach den Anschlägen noch immer in schwieriger Lage:

    Der politische Streit um ein islamisches Zentrum in New York, wenige Meter von Ground Zero entfernt, hat im vergangenen Jahr Schlagzeilen gemacht. Das Projekt ist nach dem erbitterten Widerstand aus der Bevölkerung am ursprünglich geplanten Ort vom Tisch. Doch Imam Ossama Bahloul trennen Tausende von Kilometern von Ground Zero. Er leitet die Gemeinde in Murfreesboro, Tennessee. Auch dort wird seit einem Jahr um eine neue Moschee gestritten - auf der Straße, vor Gericht. Hier, in der Provinz, ist Islamophobie, zehn Jahre nach dem 11. September, offen zu besichtigen. Es ist schlimmer denn je, sagt der Imam im Interview:

    Sally Wall gehört zu denjenigen, die den Widerstand finanzieren. Die frühere Immobilienmaklerin macht keinen Hehl aus ihrem Misstrauen gegenüber Muslimen:

    "Ihre Religion erlaubt Mord und Diebstahl, solange es im Namen Mohammeds geschieht. Ich bin in deren Augen eine Ungläubige, ich könnte Opfer werden, so sehe ich die Dinge",

    sagt sie. Sozialwissenschaftler Michael Werz in Washington ist skeptisch:

    "Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass das eine mehrheitsfähige Position ist in den Vereinigten Staaten, selbst wenn es konservative Auswüchse gibt und ein Segment der amerikanischen Gesellschaft, das sich wahrscheinlich zwischen fünf und acht Prozent bewegt, diesen konservativen Ideologien, die sich in der Tea Party ausdrücken, anschließen."

    Die Wahl zwischen unserer Sicherheit und unseren Idealen ist schon im Ansatz falsch, versicherte Barack Obama in seiner Antrittsrede 2009. Vieles wollte er anders machen im Anti-Terror-Kampf, gerade in diesem Bereich musste er empfindliche Niederlagen einstecken. Dazu gehört allen voran sein Scheitern in der Guantanamo-Frage. Das Lager existiert auch heute noch, zu groß ist der Widerstand im Kongress, übrigens Widerstand in beiden großen Parteien. Professor David Cole von der Georgetown University:

    "Die Politiker machen es sich leicht. Keiner will die Häftlinge in seinem Wahlkreis, und sicher bekommen sie Applaus dafür. Doch das ist kurzsichtig, das Lager ist ein Symbol für Rechtlosigkeit, für Folter. Selbst ehemalige Amtsträger wie George Bush und Condoleeza Rice sagen, es sei besser, das Lager zu schließen",

    so David Cole, der dem Präsidenten insgesamt gute Noten ausstellt für sein Bemühen, die Freiheit zu verteidigen ohne sie gleichzeitig aufzugeben. Er sieht in diesem Bereich die wichtigste Herausforderung und warnt vor der Macht rund um das nach dem 11. September geschaffene Heimatschutzministerium:

    "Die größte Langzeitwirkung betrifft die Folgen dieses neuen Apparats mit gewaltiger Macht. Heimatschutz, Pentagon, private Auftragsunternehmen – sie alle werden sich in Zukunft bei jeder Entscheidung für mehr Sicherheit einsetzen und es wird kaum Stimmen geben, die sagen: Was ist mit den Bürgerrechten?"

    Auch die Autoren der offiziellen 9/11-Untersuchungskommission sehen deutliche Defizite. In ihrem Abschlussbericht 2004 hatte die Kommission 41 Empfehlungen ausgesprochen. Es wurden erhebliche sicherheitsrelevante Fortschritte gemacht, konstatieren sie jetzt, zehn Jahre später, insbesondere durch die engere Vernetzung von Behörden wie FBI und CIA. Doch bei neun der 41 Punkte sehen die Experten dringenden Handlungsbedarf. Drei Beispiele: Die 2004 formulierte Forderung nach einem Aufsichtsgremium zum Schutz von individueller Freiheit und Bürgerrechten ist weitgehend ins Leere gelaufen. Noch immer gibt es keine klare Kommandostruktur der unterschiedlichen Geheimdienste und nach wie vor arbeiten Polizei und Rettungskräfte im Krisenfall noch immer mit unterschiedlichen Kommunikationsnetzen. Angesichts des gewaltigen Aufwands der letzten Jahre klingt Lee Hamilton, der Kommissionsvorsitzende, ernüchternd. Wie wahrscheinlich ist ein weiterer Anschlag, wurde er von PBS gefragt:

    "Es ist klar, dass sie irgendwann Erfolg haben werden. Die Technik ist vorhanden, die Absicht offensichtlich. Das Problem des radikalisierten Einzelgängers im eigenen Land ist als Terrorgefahr hinzugekommen. Weitere zehn Jahre ohne einen Anschlag - das wäre sehr, sehr großes Glück."

    Am Ende dieser Dekade beginnen sich die Konfliktlinien zu verschieben. Die amerikanischen Truppen kehren zurück aus dem Irak und aus Afghanistan. Barack Obama beendet die Kriege, die sein Amtsvorgänger als Antwort auf den 11. September begonnen hat. Der Tod Osama Bin Ladens hat in diesem Sinne wertvollen politischen Spielraum für den Präsidenten geöffnet. Vermutlich verlaufen die Fronten in den kommenden Jahren im Landesinneren, zwischen Rechts und Links, zwischen Isolation und Öffnung, zwischen Ängstlichen und Optimisten, zwischen Arm und Reich. Vor dem Hintergrund vieler Unsicherheiten bleibt eine Gewissheit: Ein neuer Anschlag könnte binnen Sekunden völlig neue Realitäten schaffen!

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