Stephan Detjen: Bei uns ist, Herr Müller, Sie haben es gesagt, Wolfgang Thierse, der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, der sich beim Zählappell der SPD-Fraktion entschuldigt hat. Herr Thierse, worüber wird da noch diskutiert, geht es noch um die Bundespräsidentenwahl oder schon ganz um die neuen politischen Konstellationen nach der Wahlankündigung in Nordrhein-Westfalen?
Wolfgang Thierse: Nein, es wird nicht ernsthaft diskutiert. Man muss sich natürlich versichern, dass alle da sind. Es ist ja immer peinlich, wenn jemand fehlt. Es hat ja da schon mancherlei Unglücksfälle gegeben in der Geschichte der Bundespräsidentenwahl. Und dazu dient das, man kommt noch mal zusammen, es wird noch mal über den Ablauf gesprochen, und dann strömen alle runter in den Plenarsaal.
Detjen: Das Ergebnis steht fest. An der Wahl gibt es keine Zweifel mehr?
Thierse:Ja, ich denke, da sich die vier Parteien auf Jochen Gauck geeinigt haben, ist die Sache klar – im Unterschied zur Wahl vor eineinhalb Jahren.
Detjen: Herr Thierse, lassen Sie uns an dieser Stelle einmal zurückblicken. Das Datum dieser Bundesversammlung heute ist zunächst mal durch den zufälligen Zeitpunkt des Rücktritts von Christian Wulff am 17. Februar bestimmt worden. Da fing die 30-Tage-Frist an, so fiel diese Bundesversammlung auf den 18. März – ein mehrfach historisch aufgeladenes Datum. Da gab es den 18. März 1848, die blutigen Barrikadenkämpfe hier in Berlin. Und dann den 18. März 1990 – die freie Wahl zur Volkskammer der DDR, in der Sie vor 22 Jahren mit Joachim Gauck zum demokratisch gewählten Parlamentarier wurden. Was bedeutet das für Sie heute, dass diese Bundesversammlung gerade auf diesen Tag fällt?
Thierse: Ich finde es einen wirklich schönen Zufall, denn der 18. März 1990 war ja für mich erst ein wichtiges Datum, auch deshalb so emotional, weil mein Vater, von dem ich wohl die politische Leidenschaft geerbt habe, nie an einer freien Wahl hat teilnehmen können. Er wurde am 31. Januar 1933 volljährig und ist zwei Wochen vor dem 18. März in der DDR gestorben. Und deswegen hat es mich unerhört bewegt, dass ich nun an einer Wahl teilnehmen kann und gewählt werde. Aber insgesamt war dieser 18. März die erste freie Wahl natürlich das Ergebnis schlechthin der friedlichen Revolution von 1989, darauf hat die Revolution hingezielt – eine Demokratie zu etablieren, freie Wahlen, Parteien, Pressefreiheit, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit. Und das kulminierte in dieser Wahl am 18. März, auch wenn das Ergebnis gerade für diejenigen, die die Revolution angeführt haben, mehr als enttäuschend, ja bitter enttäuschend gewesen ist.
Detjen: Der 18. März war der Schlusspunkt der friedlichen Revolution. Was kam dann, und was hat diese dann gewählte freie Volkskammer der DDR , der Joachim Gauck angehörte, dann geleistet? Manche sagen bis heute, das war dann nichts als die Abwicklung der DDR, die da stattgefunden hat.
Thierse: Nein, das finde ich nicht so. Wir hatten natürlich eine einmalige Aufgabe, für die es kein Lehrbuch gibt, nämlich einen Staat abzuwickeln, weil die Mehrheit es so wollte – den Umbau der Wirtschaft, die Umbauten aller Strukturen der Verwaltung, des öffentlichen Lebens zu organisieren. Und, das war unser Ziel, selbstbewusst in die Einheit zu gehen, also einen Vertrag zu schließen, mehrere Verträge zu schließen mit der Bundesrepublik Deutschland. Wer das auch nach 22 Jahren beschimpft, wie die werte Kollegin Petra Pau, meine Vizepräsidenten-Kollegin, die jetzt geschrieben hat, diese Volkskammer sei ein demokratisch legitimiertes Kapitulationsparlament gewesen, dieses Parlament hätte die DDR ausgeliefert an die BRD. Wer das nach 22 Jahren noch sagt, der verrät nur, dass er das alte Klassenkampf-Denken immer noch nicht überwunden hat – dieses Schema "DDR kämpft gegen die Bundesrepublik, die Bundesrepublik kämpft gegen die DDR".
Detjen: Sie sprechen über Ihre Kollegin Petra Pau, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages . . .
Thierse: ... ja die, wie ich finde, einen schönen Kommentar zu diesem Parlament abgeliefert hat jetzt in einem Text. Wir waren kein Kapitulationsparlament. Wir hatten eine schwierige Aufgabe, die DDR möglichst mit Vernunft, möglichst unter sozialen Gesichtspunkten und dann möglichst mit dem Anspruch der Gleichwertigkeit in die Einheit zu führen, weil das auch die Mehrheit wollte. Das war nicht Kapitulation, das war nicht Auslieferung, sondern es war der Versuch einer geregelten Vereinigung. Und ich glaube, das ist – mit vielen Fehlern, auch mit sehr vielen Schmerzen – insgesamt gelungen.
Detjen: Sie waren damals stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, einer der großen Fraktionen – der zweitgrößten. Joachim Gauck gehörte der kleinen Gruppe von Bündnis 90 an, damals als Abgeordneter aus Mecklenburg. Haben Sie Gauck schon vorher gekannt, oder sind Sie ihm dann als Parlamentarier erst begegnet?
Thierse: Ich kannte ihn nicht. Er war ja Pastor in Rostock, ich habe in Ostberlin gelebt. Er ist evangelisch, ich bin katholisch. Man kannte viele in der DDR, jedenfalls in bestimmten Kreisen. Aber zum Glück war die DDR nicht so klein, dass sich alle anständigen und intelligenten Leute kennen konnten. Wir haben uns da kennengelernt und auch schätzen gelernt. Wir saßen ja häufig dicht nebeneinander, Bündnis 90 saß direkt neben der SPD-Fraktion. Ich habe ihn damals schätzen gelernt als einen leidenschaftlichen und zugleich sehr nüchternen Mann.
Detjen: Sie haben eben, als Sie die Verdienste, die Leistungen dieser frei gewählten Volkskammer gewürdigt haben, die Verträge im Zuge der Wiedervereinigung angesprochen. Aber dann gab es ja noch eine Leistung, eine gesetzgeberische Leistung, die dann ganz eng mit Joachim Gauck verbunden war, der dem Innenausschuss angehörte, in dem der Umgang mit den Belastungen der Stasi geregelt werden musste.
Thierse: Ja, es ist wichtig, daran zu erinnern: Es war die frei gewählte Volkskammer, die verlangt hat, dass die Hinterlassenschaft der Staatssicherheit, diese Berge von Akten, dass die der Wissenschaft, den Opfern, der Justiz zugänglich gemacht wird. Wir wollten das.
Detjen: Wenn es nach vielen westlichen Politikern, zum Beispiel nach dem damaligen Innenminister Schäuble gegangen wäre, wären die Akten einfach vernichtet worden.
Thierse: Ja, Schäuble, auch Helmut Kohl, die waren sehr distanziert gegenüber diesem Vorschlag, sie wollten das eigentlich nicht. Wir haben das angerichtet, wenn man das so will – auch in der Leidenschaft, wenn ich mich daran erinnere, in einer sehr hitzigen Debatte damals. Wir wollten das anders machen als nach 1945, uns einer schlimmen Vergangenheit stellen, aufarbeiten, den Opfern zu ihrem Recht verhelfen, öffentlich über Missbrauch von Macht, über ideologische Verfehlungen und die Folgen der Verquickung von einer fatalen Ideologie mit politischer Macht. Darüber wollten wir öffentlich reden, das war unsere Auffassung damals. Ich glaube, wir haben recht gehabt. Wenn man in andere Länder sieht – nach Polen, Tschechien, in ehemalige Diktaturen in Südamerika oder sonst wo: Die schauen jetzt nach Deutschland und sehen, wie die Deutschen das machen – mit ihrer Vergangenheit fair, korrekt, nach Regeln des Rechtsstaates umgehen. Das ist, glaube ich, ganz gut.
Detjen: Welchen persönlichen Anteil hatte gerade Joachim Gauck daran?
Thierse: Er war damals schon sehr engagiert, und ich war mit dabei, als wir gesagt haben, er sollte diese Aufgabe übernehmen. Er hat zehn Jahre diese Behörde geleitet, so, dass sie sogar nach ihm benannt worden ist. Und ich glaube, er hat sie insgesamt gut geleitet. Natürlich gab es auch an einzelnen Vorgängen Kritik, nicht alles ist plausibel verlaufen. Aber das eigentliche Problem war nicht diese Behörde, sondern war eher die Vermarktung der Stasi-Geschichten zu Geschichten von Feigheit und Verrat in den Medien, weil das fasziniert, die Stasi-Krake faszinierte. Und da ist manchmal der behutsame differenzierte Umgang mit DDR-Biografien flöten gegangen. Aber das lag weniger an dieser Behörde, das lag eher an den Mechanismen unserer Mediengesellschaft.
Detjen: Herr Thierse, es wurde lange darüber geklagt, dass die Bürgerrechtler, die das Ende der DDR, der SED-Diktatur herbeigeführt haben, eigentlich nie die Rolle in der Politik der vereinten Bundesrepublik gefunden haben, die ihnen viele zugedacht hätten. Sie waren immer eine Ausnahme. Aber auch in Ihrer Partei sind ja bis in die letzten Jahre viele der aktiven ehemaligen Bürgerrechtler an den Rand gedrängt worden, Stefan Hilsberg wäre da zu nennen, Markus Meckel. Kommt es nicht viel zu spät, dass heute einer der ehemaligen Bürgerrechtler in dieses hohe Staatsamt gewählt wird?
Thierse: Ich weiß nicht, ob zu spät. Aber die Enttäuschung begann ja schon am 18. März 1990. Bündnis 90 hat ein niederschmetternd schlechtes Ergebnis erzielt, 2,5 Prozent etwa waren es. Diejenigen, die die Revolution angeführt haben, die friedliche Revolution, sind bei der ersten Wahl nicht gewählt worden, nicht nennenswert gewählt worden. Das ist eine bittere Enttäuschung, die offensichtlich bis heute nicht verarbeitet worden ist. Wenn ich manche Vorwürfe von Seiten der ehemaligen Oppositionellen jetzt gegen Joachim Gauck höre, dann erschrickt mich das, dann merke ich, wie tief dieser Schmerz sitzt und dass er noch nicht abgearbeitet ist. Ich verstehe den Schmerz sehr gut. Aber es ist offensichtlich in der Revolutionsgeschichte immer so: Revolutionen werden von Minderheiten gemacht, wenn sie gut ausgehen, sind die Mehrheiten die Nutznießer. Und die Überleitung von der Revolution in geordnete Verhältnisse des Umbaus und des Aufbaus übernehmen eben nicht diejenigen, die auf den Barrikaden gestanden haben. Das war auch in der Ex-DDR so.
Detjen: Welche Bedeutung hat es dann heute, 22 Jahre später, dass einer dieser ehemaligen Bürgerrechtler Staatsoberhaupt wird?
Thierse: Ich denke, es ist noch einmal ein kleiner Schritt im Zuge des immer noch anhaltenden Vereinigungsprozesses, wiewohl ich weiß, dass Joachim Gauck im Westen sogar beliebter und verehrter ist als im Osten. Da gibt es immer noch viele Leute, die ihm übel nehmen, dass er so hart, so entschieden die DDR-Vergangenheit aufgearbeitet hat und da so zusagen ihnen wie ein Richter erschien, der auch Schmerzen bereitete – einer, der immer wieder über Selbstverantwortung und Freiheit redet und auch natürlich über die Lasten, die wir aus der DDR mitbringen. Aber ich will das nicht überbewerten, es ist nur ein Auszug von Normalität. Als ich 1998 Bundestagspräsident wurde, da war ich wirklich der erste Ostdeutsche in einem hohen Staatsamt. Das war noch ganz neu. Aber inzwischen: Thierse, Merkel, nun Gauck – ich finde, das zeugt von einer erfreulichen demokratischen Alltäglichkeit in diesem gemeinsamen Deutschland.
Detjen: Wir sprechen jetzt über ein Thema wegen der Person, die heute zur Wahl steht, wegen des Datums, wegen des 18. März, die Revolution, die Geschichte der DDR, die Überwindung der Diktatur. Das war ja auch der Vorbehalt der Angela Merkel, der zu ihrem Widerstand gegen die Kür Gaucks zum Kandidaten bewegt hat. Sie hat ihm vorgeworfen – intern, so heißt es –, er sei monothematisch.
Thierse: Ach, ich glaub das nicht ganz. Ich war auch verwundert über die Heftigkeit der Gegnerschaft von Frau Merkel gegen Joachim Gauck …
Detjen: … wie haben Sie sich das erklärt?
Thierse: Ich glaube, es gibt verschiedene Gründe. Sie wollte nicht den Fehler eingestehen, dass sie vor eineinhalb Jahren einen schweren Fehler begangen hat, indem sie Christian Wulff durchgesetzt hat gegen Joachim Gauck. Einen Fehler einzugestehen, fällt einem Politiker immer schwer, das verstehe ich. Aber ich habe auch ein bisschen den Eindruck, da Joachim Gauck eine zwar verwandte ostdeutsche Biografie hat, aber dass seine Biografie doch die ihrige ein wenig in den Schatten stellt. Und das mag vielleicht auch die Emotion erklären, mit der Angela Merkel sich gegen Gauck gewehrt hat.
Detjen: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute live aus dem Reichstagsgebäude, aus der Plenarebene des Reichstages, wo sich gerade die Fraktionen vor der Bundesversammlung sammeln, noch mal zu Zählappellen zusammenkommen. Und bei uns ist Wolfgang Thierse, der Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Herr Thierse, wird Joachim Gauck nach zwei Rücktritten seiner Vorgänger ein lädiertes Amt übernehmen?
Thierse: Ach, das Amt lebt immer von der Person, die es ausfüllt. Es ist ja ein schwieriges Amt. Man sitzt in einem goldenen Käfig. Jede Rede, jede Äußerung wird beobachtet und kommentiert.
Detjen: Gauck verliert als erstes Mal die Freiheit, die er immer so preist.
Thierse: Es werden wahre Wunder an Reden erwartet. Man kann diese Erwartungen gar nicht erfüllen. Man kann nicht zu jedem Thema eine gleich grundsätzlich das ganze Land erschütternde Rede halten.
Detjen: Heißt das, dass dieses Amt strukturell überfordert ist in unserer heutigen Zeit?
Thierse: Ja, es ist ja ein Missverhältnis. Es soll die Einheit des Landes repräsentieren, die Gemeinschaft der Bürger darstellen, hat zugleich selber ganz minimale politische Entscheidungskompetenzen. Also ist es ganz auf das Wort, auf Symbolkraft angewiesen. Und deswegen lebt das Amt so von der Person. Wir haben große Bundespräsidenten gehabt. Wir hatten zuletzt einen, der mit Schwierigkeiten aus dem Amt gehen musste. Aber das einzige Problem nach Christian Wulff ist ein anderes. Ich habe erlebt, dass sein Verhalten, die Vorwürfe gegen ihn, eines der klebrigsten Vorurteile bei vielen Bürgern bestätigt haben: Die da, diese Politiker, die da oben, die sind doch sowieso nur mit ihrem eigenen Vorteil befasst, die nehmen alles. Das ist verheerend für eine Demokratie, ein solches klebriges Vorurteil. Und ich hoffe, Joachim Gauck kann durch seine Glaubwürdigkeit, durch seine außerordentliche rednerische Begabung, auch beglaubigt durch seine Biografie, dieses Vorurteil öffentlich wirksam widerlegen. Das wäre wichtig für unsere Demokratie.
Detjen: Aber es waren ja nun zwei Rücktritte, die wir erlebt haben innerhalb von kurzer Zeit. Das hat ja doch etwas mit dem Amt zu tun, einem Amt, das ursprünglich mit dem Grundgesetz ja auch mal ganz anders angelegt war. Viele Aufgaben haben an Bedeutung verloren, diplomatische Empfänge, die Ausfertigung von Gesetzen. Manche Aufgaben wurden von anderen übernommen, die Gesetzeskontrolle etwa durch das Bundesverfassungsgericht, das es, als das Grundgesetz in Kraft trat, noch gar nicht gab. Ist das nicht doch so etwas wie ein aus der Zeit gefallenes Amt?
Thierse: Ja, aber auch andere Demokratien leisten sich so etwas aus der Zeit Gefallenes, zum Beispiel eine Monarchie, die ja noch mehr aus der Zeit gefallen ist. Ich glaube, auch moderne Gesellschaften – gerade, weil sie so zerklüftet sind, hoch differenziert, hoch arbeitsteilig, pluralistisch in jeder Hinsicht – sie haben das Bedürfnis, dass da ein Institut und eine Person da ist, die das Gemeinsame in Erinnerung ruft, darstellt und zur Sprache bringt. Darin bleibt das Amt wichtig, auch gerade in seiner strukturellen Schwäche. Wenn ein Bundespräsident zugleich noch in wichtigen Streitfragen der Gesellschaft entscheiden müsste, würde er ja in einem viel größeren Ausmaß selber Gegenstand des Streites werden müssen. So kann ein Bundespräsident, wenn er es gut macht, relativ außerhalb des Streites sein – nicht außerhalb jeder Kritik, aber er ist nicht Gegenstand sozusagen streitiger Debatten in Sachfragen. Und das ist eine große Chance, die ein guter Bundespräsident nutzen kann.
Detjen: Mit einem Thema ist Joachim Gauck ganz klar verbunden. Er verbindet sich selber damit: Freiheit, Demokratie, das Werben für die Demokratie. In welchen anderen Themenfeldern braucht Deutschland einen Bundespräsidenten so wie Sie es jetzt geschildert haben in seiner Funktion?
Thierse: Ich denke, wir haben große Herausforderungen. Wir sind ein freies Land. Diese Freiheit ist etwas unerhört Kostbares, man muss sie verteidigen gegen Angriffe von verschiedenen Seiten. Aber wir sind eben auch ein höchst ungerechtes Land. Deswegen ist Gerechtigkeit eines der großen Themen unserer Gesellschaft. Wir sind ein reiches Land, und selbst in der Krise hat die Zahl der Millionäre zugenommen und die Zahl der Armen auch zugenommen. Wir sind ein Land, das sich den ökologischen Herausforderungen stellen muss. Wir sind ein Land, wo der Anteil der Bürger ausländischer Herkunft, unterschiedlicher Kulturen und Religionen zunimmt, also auch kulturell und religiös widersprüchliches Land. Integration ist eine der großen Herausforderungen. Und alle politischen Aufgaben dieses Landes werden wir nur zu einem geringsten Teil in dem engen Rahmen des Nationalstaates lösen können. Also, Europa ist eine große Herausforderung.
Detjen: Damit sind jetzt schon wieder alle die ganz großen Themen bei diesem einen Menschen, bei diesem Bundespräsidenten abgeladen.
Thierse: Ja, aber er kann es auf eine Weise besprechen, wo es sozusagen um die grundsätzlichen Einstellungen von Menschen geht, wo man nicht fragt, wie viele Millionen dafür und wie viele Milliarden dafür, sondern gibt es in diesem Land ausreichend Solidaritätsbereitschaft um der Zukunft des Sozialstaates willen? Sind die Eliten bereit, etwas von ihrem Reichtum abzugeben, damit dieses Land gerechter wird? Sind wir bereit, insgesamt unsere Lebenseinstellungen zu verändern, damit wir ökologischer leben können um der Zukunft unserer Enkel und Urenkel willen. Darüber muss ein Bundespräsident reden, und darüber kann er auch reden, weil er damit nicht in den Untiefen oder in den Tiefen der Tagespolitik ist, die wichtig ist, die wir immer wieder besuchen müssen. Aber er kann sozusagen etwas grundsätzlicher reden.
Detjen: Sie haben jetzt gesagt, es ist nicht nur die Rede, sondern es geht darum, etwas zu besprechen, also ein Gespräch aufzusuchen. Dafür braucht es auch Gesprächspartner, Resonanzräume. Es war ja auffällig, dass beide früheren Bundespräsidenten in ihren Rücktrittserklärungen einen Mangel an politischer Kultur, an Respekt im Umgang mit dem Amt, Kritik an den Medien geäußert haben. Hat diese Mediengesellschaft da ein Stück Gesprächsfähigkeit verloren?
Thierse: Ja, wir sind ja in einer ein bisschen gefährlichen Situation. Die Medien – das ist gar kein individueller Vorwurf – übernehmen die Rolle sozusagen einer Ersatzdemokratie. Man sitzt als Bürger bequem im Sessel, guckt eine Talkshow, in der Politik zum Gegenstand des Gesprächs, eigentlich einer Unterhaltung gemacht wird, und es entsteht die Suggestion, man sei dabei und man würde demokratisch agieren. Aber die wirkliche Politik ist grauer, hässlicher, schweißtreibender, enttäuschungsbehafteter und vor allem niemals so bequem. Und sozusagen dies immer wieder zu überwinden, sozusagen die Suggestion, die die Medien unausweichlich erzeugen können – namentlich das Fernsehen, Rundfunk weniger – zu überwinden und sagen, Demokratie ist Streit, ist der Versuch, Mehrheiten, Kompromisse, Konsense zu finden. Aber an diesem Streit muss man sich beteiligen. Man kann nicht in der Zuschauerhaltung im Sessel sitzend an Demokratie teilnehmen, sondern man muss sich in diesen schweißtreibenden Alltag hineinbegeben, sonst geht die Demokratie kaputt.
Detjen: Heute bei dieser Bundesversammlung, Herr Thierse, zeigt sich die Demokratie von ihrer schönen Seite. Das Wetter in Berlin ist strahlend . . .
Thierse: Es ist wirklich so etwas wie Kaiserwetter.
Detjen: Es ist Kaiserwetter. Hinter Ihnen stand eben Alice Schwarzer, gab Interviews. Otto Rehagel ist Mitglied der Bundesversammlung und hat sich offenbar von der Schlappe von Hertha BSC gestern gut erholt. Ministerpräsidenten, Parlamentarier aus ganz Deutschland sind hier. Es ist gleichzeitig eine Bundesversammlung, in der es qua Grundgesetz keine Aussprache, keine Debatte, nicht den demokratischen Streit geben wird, den Sie eben erwähnt haben, auch keine Spannung, was das Ergebnis angeht. Entwertet das so eine parlamentarische Versammlung ein bisschen?
Thierse: Nein. Es muss nicht jedes Mal eine gleichermaßen spannende Situation werden wie vor anderthalb Jahren. Wenn sich die demokratischen Parteien in ihrer großen Mehrheit auf einen Kandidaten geeinigt haben, dann tut das auch gut, zumal wenn dieser Kandidat auch eine außerordentliche Popularität genießt, also eine große Zustimmung in der Bevölkerung. Da haben also die Parteien nicht ganz daneben gegriffen mit Blick auf das Volk. Aber es ist natürlich eine Ausnahmesituation. Der Alltag der Demokratie ist der Streit, ist Debatte, ist die heftige Diskussion immer mit dem Versuch, eine Entscheidung zu treffen, nicht das endlose Palaver, sondern man zielt auf Entscheidung. Und der Unterschied zur Talkshow ist, im Parlament muss ich für meine Entscheidung einstehen. Da stimme ich ab und muss meine Entscheidung vor den Wählern, vor den Bürgern verantworten. In der Talkshow geht es um die beste und schnellste Pointe. Das spielt im Parlament zum Glück keine entscheidende Rolle.
Detjen: Dann lassen Sie uns am Ende des Gesprächs, Herr Thierse, auch noch einmal in die schweißtreibenden Niederungen des politischen Alltags herabsteigen. Diese Bundesversammlung steht seit Anfang der Woche ja noch unter einem ganz anderen Zeichen, nämlich seit der Ankündigung von Neuwahlen im einwohnerstärksten Bundesland, Nordrhein-Westfalen. Ist das hier noch eine ganz normale Wahl oder ist das hier schon Teil eines Wahlkampfes, der ja dann nahtlos in den Bundestagswahlkampf übergehen wird?
Thierse: Ja, aber der heutige Tag ist nicht Wahlkampftag. Da hilft eben auch der gemeinsame Kandidat. Aber dass es auch in diesem Jahr wieder so viele Wahlen gibt, ist ja eine Überraschung. Wir dachten, das Jahr 2012 wird bezogen auf Wahlkämpfe ein ruhiges Jahr. Nun wird es besonders spannend. Saar, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, da geht es schon um viel, um die Zukunft von Schwarz-Gelb oder um Rot-Grün in Deutschland. Da werden schon wieder Alternativen sichtbar, auch für das nächste Jahr des Bundestagswahlkampfes.
Detjen: Bundesversammlungen und die Wahl von Bundespräsidenten waren immer wieder Vorzeichen, auch für neue politische Konstellationen auf der Bundesebene. Jetzt komm da also ein schwarz-gelb-rot-grüner Kandidat, gleichzeitig knirscht es da in Schwarz-Gelb. Welche Signale gehen denn bundespolitisch von dieser Wahl aus?
Thierse: Also, ich halte die Signale für relativ gering. Dafür hat ja Angela Merkel gesorgt, als sie begriffen hatte, sie hat keine Mehrheit in ihrer Gegnerschaft gegen Joachim Gauck. Und da hat sie beigedreht, um genau diese Konstellation, diese Konfrontation zu verhindern. Und nun haben wir eben einen Kandidaten rot-grün-schwarz-gelb – man muss es in dieser Reihenfolge schon sagen …
Detjen: Eine Papageienkoalition.
Thierse: Na ja, vor zwei Jahren hat ja Rot-Grün ihn nominiert. Und dass wir ihn jetzt wieder nominieren ist ja ganz selbstverständlich, denn wir halten ihn ja nach anderthalb Jahren nicht für schlechter als bei der vorigen Wahl. Also da finde ich nicht, sollte man Kaffeesatzleserei betreiben.
Detjen: Wie werden sich in Ihrer Partei, in der SPD, die Kräfteverhältnisse verändern, wenn Hannelore Kraft Mitte Mai als strahlende Siegerin aus der Landtagswahl Nordrhein-Westfalen hervorgeht. Hat die SPD dann eine weitere Kanzlerkandidatin?
Thierse: Hannelore Kraft hat sich ganz entschieden geäußert: Nein, sie wird weder 2013 noch 2017 zur Verfügung stehen. Und damit soll man es auch bewenden lassen. Wenn die Wahl für uns gewonnen wird, ist das natürlich eine unerhörte Ermunterung und Ermutigung für die Wahlauseinandersetzung im Jahr 2013. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat werden sich geändert haben. Dann wird den Bürgern sichtbar, dass Rot-Grün tatsächlich eine realistische Alternative ist, dass wir die Wahl gewinnen können. Und das ist ja immerhin eine gute Voraussetzung für einen Wahlkampf.
Detjen: Sie sagen Bundestagswahl 2013. Das heißt, Sie gehen ganz fest davon aus, dass das regulär wird, oder kann das noch mal so ähnlich sein wie 2005, als die Landtagswahl Nordrhein-Westfalens dann am Ende zu vorgezogenen Neuwahlen im Bund geführt haben?
Thierse: Ich bin lange genug mit von der Partie, ich kann nichts ausschließen. Aber es ist denkbar, wenn die Wahl für Schwarz und vor allem Gelb schlecht ausgeht, dass das die beiden noch einmal heftiger zusammenschweißt. Aber sicher ist nichts.
Detjen: Dem können wir nicht widersprechen, Herr Thierse. Sie gehen jetzt gleich herunter in die Bundesversammlung. Um 12.00 Uhr geht das los mit dem Aufruf aller einzelnen Wahlmänner und Wahlfrauen. Mit dem Namen Thierse – T – muss man sich da ganz hinten anstellen zunächst einmal?
Thierse: Ja, man hat viel Zeit, sich zu unterhalten. Das ist ja auch ein wirklich schönes, geselliges Ereignis. Man redet mit ganz vielen Leuten, mit Bekannten, die man sonst eben aus dem Fernsehen kennt oder sonst wo. Die sind jetzt plötzlich mit hier in der Bundesversammlung mit Vertretern sehr verschiedene Fraktionen und Parteien. Das ist ganz schön so, wenn es nicht wieder einen ganzen Tag lang dauert. Aber so eine zweistündige Bundesversammlung, wo man miteinander spricht, ist ein schönes Ereignis, ein kleines Fest der Demokratie.
Detjen: Herr Thierse, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag. Danke Ihnen, dass Sie sich auch Zeit für dieses Gespräch mit dem Deutschlandfunk genommen haben. Und damit gebe ich dann zurück hier aus der Fraktionsebene des Bundestagsgebäude in unser Funkhaus nach Köln zu Dirk Müller.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfgang Thierse: Nein, es wird nicht ernsthaft diskutiert. Man muss sich natürlich versichern, dass alle da sind. Es ist ja immer peinlich, wenn jemand fehlt. Es hat ja da schon mancherlei Unglücksfälle gegeben in der Geschichte der Bundespräsidentenwahl. Und dazu dient das, man kommt noch mal zusammen, es wird noch mal über den Ablauf gesprochen, und dann strömen alle runter in den Plenarsaal.
Detjen: Das Ergebnis steht fest. An der Wahl gibt es keine Zweifel mehr?
Thierse:Ja, ich denke, da sich die vier Parteien auf Jochen Gauck geeinigt haben, ist die Sache klar – im Unterschied zur Wahl vor eineinhalb Jahren.
Detjen: Herr Thierse, lassen Sie uns an dieser Stelle einmal zurückblicken. Das Datum dieser Bundesversammlung heute ist zunächst mal durch den zufälligen Zeitpunkt des Rücktritts von Christian Wulff am 17. Februar bestimmt worden. Da fing die 30-Tage-Frist an, so fiel diese Bundesversammlung auf den 18. März – ein mehrfach historisch aufgeladenes Datum. Da gab es den 18. März 1848, die blutigen Barrikadenkämpfe hier in Berlin. Und dann den 18. März 1990 – die freie Wahl zur Volkskammer der DDR, in der Sie vor 22 Jahren mit Joachim Gauck zum demokratisch gewählten Parlamentarier wurden. Was bedeutet das für Sie heute, dass diese Bundesversammlung gerade auf diesen Tag fällt?
Thierse: Ich finde es einen wirklich schönen Zufall, denn der 18. März 1990 war ja für mich erst ein wichtiges Datum, auch deshalb so emotional, weil mein Vater, von dem ich wohl die politische Leidenschaft geerbt habe, nie an einer freien Wahl hat teilnehmen können. Er wurde am 31. Januar 1933 volljährig und ist zwei Wochen vor dem 18. März in der DDR gestorben. Und deswegen hat es mich unerhört bewegt, dass ich nun an einer Wahl teilnehmen kann und gewählt werde. Aber insgesamt war dieser 18. März die erste freie Wahl natürlich das Ergebnis schlechthin der friedlichen Revolution von 1989, darauf hat die Revolution hingezielt – eine Demokratie zu etablieren, freie Wahlen, Parteien, Pressefreiheit, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit. Und das kulminierte in dieser Wahl am 18. März, auch wenn das Ergebnis gerade für diejenigen, die die Revolution angeführt haben, mehr als enttäuschend, ja bitter enttäuschend gewesen ist.
Detjen: Der 18. März war der Schlusspunkt der friedlichen Revolution. Was kam dann, und was hat diese dann gewählte freie Volkskammer der DDR , der Joachim Gauck angehörte, dann geleistet? Manche sagen bis heute, das war dann nichts als die Abwicklung der DDR, die da stattgefunden hat.
Thierse: Nein, das finde ich nicht so. Wir hatten natürlich eine einmalige Aufgabe, für die es kein Lehrbuch gibt, nämlich einen Staat abzuwickeln, weil die Mehrheit es so wollte – den Umbau der Wirtschaft, die Umbauten aller Strukturen der Verwaltung, des öffentlichen Lebens zu organisieren. Und, das war unser Ziel, selbstbewusst in die Einheit zu gehen, also einen Vertrag zu schließen, mehrere Verträge zu schließen mit der Bundesrepublik Deutschland. Wer das auch nach 22 Jahren beschimpft, wie die werte Kollegin Petra Pau, meine Vizepräsidenten-Kollegin, die jetzt geschrieben hat, diese Volkskammer sei ein demokratisch legitimiertes Kapitulationsparlament gewesen, dieses Parlament hätte die DDR ausgeliefert an die BRD. Wer das nach 22 Jahren noch sagt, der verrät nur, dass er das alte Klassenkampf-Denken immer noch nicht überwunden hat – dieses Schema "DDR kämpft gegen die Bundesrepublik, die Bundesrepublik kämpft gegen die DDR".
Detjen: Sie sprechen über Ihre Kollegin Petra Pau, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages . . .
Thierse: ... ja die, wie ich finde, einen schönen Kommentar zu diesem Parlament abgeliefert hat jetzt in einem Text. Wir waren kein Kapitulationsparlament. Wir hatten eine schwierige Aufgabe, die DDR möglichst mit Vernunft, möglichst unter sozialen Gesichtspunkten und dann möglichst mit dem Anspruch der Gleichwertigkeit in die Einheit zu führen, weil das auch die Mehrheit wollte. Das war nicht Kapitulation, das war nicht Auslieferung, sondern es war der Versuch einer geregelten Vereinigung. Und ich glaube, das ist – mit vielen Fehlern, auch mit sehr vielen Schmerzen – insgesamt gelungen.
Detjen: Sie waren damals stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, einer der großen Fraktionen – der zweitgrößten. Joachim Gauck gehörte der kleinen Gruppe von Bündnis 90 an, damals als Abgeordneter aus Mecklenburg. Haben Sie Gauck schon vorher gekannt, oder sind Sie ihm dann als Parlamentarier erst begegnet?
Thierse: Ich kannte ihn nicht. Er war ja Pastor in Rostock, ich habe in Ostberlin gelebt. Er ist evangelisch, ich bin katholisch. Man kannte viele in der DDR, jedenfalls in bestimmten Kreisen. Aber zum Glück war die DDR nicht so klein, dass sich alle anständigen und intelligenten Leute kennen konnten. Wir haben uns da kennengelernt und auch schätzen gelernt. Wir saßen ja häufig dicht nebeneinander, Bündnis 90 saß direkt neben der SPD-Fraktion. Ich habe ihn damals schätzen gelernt als einen leidenschaftlichen und zugleich sehr nüchternen Mann.
Detjen: Sie haben eben, als Sie die Verdienste, die Leistungen dieser frei gewählten Volkskammer gewürdigt haben, die Verträge im Zuge der Wiedervereinigung angesprochen. Aber dann gab es ja noch eine Leistung, eine gesetzgeberische Leistung, die dann ganz eng mit Joachim Gauck verbunden war, der dem Innenausschuss angehörte, in dem der Umgang mit den Belastungen der Stasi geregelt werden musste.
Thierse: Ja, es ist wichtig, daran zu erinnern: Es war die frei gewählte Volkskammer, die verlangt hat, dass die Hinterlassenschaft der Staatssicherheit, diese Berge von Akten, dass die der Wissenschaft, den Opfern, der Justiz zugänglich gemacht wird. Wir wollten das.
Detjen: Wenn es nach vielen westlichen Politikern, zum Beispiel nach dem damaligen Innenminister Schäuble gegangen wäre, wären die Akten einfach vernichtet worden.
Thierse: Ja, Schäuble, auch Helmut Kohl, die waren sehr distanziert gegenüber diesem Vorschlag, sie wollten das eigentlich nicht. Wir haben das angerichtet, wenn man das so will – auch in der Leidenschaft, wenn ich mich daran erinnere, in einer sehr hitzigen Debatte damals. Wir wollten das anders machen als nach 1945, uns einer schlimmen Vergangenheit stellen, aufarbeiten, den Opfern zu ihrem Recht verhelfen, öffentlich über Missbrauch von Macht, über ideologische Verfehlungen und die Folgen der Verquickung von einer fatalen Ideologie mit politischer Macht. Darüber wollten wir öffentlich reden, das war unsere Auffassung damals. Ich glaube, wir haben recht gehabt. Wenn man in andere Länder sieht – nach Polen, Tschechien, in ehemalige Diktaturen in Südamerika oder sonst wo: Die schauen jetzt nach Deutschland und sehen, wie die Deutschen das machen – mit ihrer Vergangenheit fair, korrekt, nach Regeln des Rechtsstaates umgehen. Das ist, glaube ich, ganz gut.
Detjen: Welchen persönlichen Anteil hatte gerade Joachim Gauck daran?
Thierse: Er war damals schon sehr engagiert, und ich war mit dabei, als wir gesagt haben, er sollte diese Aufgabe übernehmen. Er hat zehn Jahre diese Behörde geleitet, so, dass sie sogar nach ihm benannt worden ist. Und ich glaube, er hat sie insgesamt gut geleitet. Natürlich gab es auch an einzelnen Vorgängen Kritik, nicht alles ist plausibel verlaufen. Aber das eigentliche Problem war nicht diese Behörde, sondern war eher die Vermarktung der Stasi-Geschichten zu Geschichten von Feigheit und Verrat in den Medien, weil das fasziniert, die Stasi-Krake faszinierte. Und da ist manchmal der behutsame differenzierte Umgang mit DDR-Biografien flöten gegangen. Aber das lag weniger an dieser Behörde, das lag eher an den Mechanismen unserer Mediengesellschaft.
Detjen: Herr Thierse, es wurde lange darüber geklagt, dass die Bürgerrechtler, die das Ende der DDR, der SED-Diktatur herbeigeführt haben, eigentlich nie die Rolle in der Politik der vereinten Bundesrepublik gefunden haben, die ihnen viele zugedacht hätten. Sie waren immer eine Ausnahme. Aber auch in Ihrer Partei sind ja bis in die letzten Jahre viele der aktiven ehemaligen Bürgerrechtler an den Rand gedrängt worden, Stefan Hilsberg wäre da zu nennen, Markus Meckel. Kommt es nicht viel zu spät, dass heute einer der ehemaligen Bürgerrechtler in dieses hohe Staatsamt gewählt wird?
Thierse: Ich weiß nicht, ob zu spät. Aber die Enttäuschung begann ja schon am 18. März 1990. Bündnis 90 hat ein niederschmetternd schlechtes Ergebnis erzielt, 2,5 Prozent etwa waren es. Diejenigen, die die Revolution angeführt haben, die friedliche Revolution, sind bei der ersten Wahl nicht gewählt worden, nicht nennenswert gewählt worden. Das ist eine bittere Enttäuschung, die offensichtlich bis heute nicht verarbeitet worden ist. Wenn ich manche Vorwürfe von Seiten der ehemaligen Oppositionellen jetzt gegen Joachim Gauck höre, dann erschrickt mich das, dann merke ich, wie tief dieser Schmerz sitzt und dass er noch nicht abgearbeitet ist. Ich verstehe den Schmerz sehr gut. Aber es ist offensichtlich in der Revolutionsgeschichte immer so: Revolutionen werden von Minderheiten gemacht, wenn sie gut ausgehen, sind die Mehrheiten die Nutznießer. Und die Überleitung von der Revolution in geordnete Verhältnisse des Umbaus und des Aufbaus übernehmen eben nicht diejenigen, die auf den Barrikaden gestanden haben. Das war auch in der Ex-DDR so.
Detjen: Welche Bedeutung hat es dann heute, 22 Jahre später, dass einer dieser ehemaligen Bürgerrechtler Staatsoberhaupt wird?
Thierse: Ich denke, es ist noch einmal ein kleiner Schritt im Zuge des immer noch anhaltenden Vereinigungsprozesses, wiewohl ich weiß, dass Joachim Gauck im Westen sogar beliebter und verehrter ist als im Osten. Da gibt es immer noch viele Leute, die ihm übel nehmen, dass er so hart, so entschieden die DDR-Vergangenheit aufgearbeitet hat und da so zusagen ihnen wie ein Richter erschien, der auch Schmerzen bereitete – einer, der immer wieder über Selbstverantwortung und Freiheit redet und auch natürlich über die Lasten, die wir aus der DDR mitbringen. Aber ich will das nicht überbewerten, es ist nur ein Auszug von Normalität. Als ich 1998 Bundestagspräsident wurde, da war ich wirklich der erste Ostdeutsche in einem hohen Staatsamt. Das war noch ganz neu. Aber inzwischen: Thierse, Merkel, nun Gauck – ich finde, das zeugt von einer erfreulichen demokratischen Alltäglichkeit in diesem gemeinsamen Deutschland.
Detjen: Wir sprechen jetzt über ein Thema wegen der Person, die heute zur Wahl steht, wegen des Datums, wegen des 18. März, die Revolution, die Geschichte der DDR, die Überwindung der Diktatur. Das war ja auch der Vorbehalt der Angela Merkel, der zu ihrem Widerstand gegen die Kür Gaucks zum Kandidaten bewegt hat. Sie hat ihm vorgeworfen – intern, so heißt es –, er sei monothematisch.
Thierse: Ach, ich glaub das nicht ganz. Ich war auch verwundert über die Heftigkeit der Gegnerschaft von Frau Merkel gegen Joachim Gauck …
Detjen: … wie haben Sie sich das erklärt?
Thierse: Ich glaube, es gibt verschiedene Gründe. Sie wollte nicht den Fehler eingestehen, dass sie vor eineinhalb Jahren einen schweren Fehler begangen hat, indem sie Christian Wulff durchgesetzt hat gegen Joachim Gauck. Einen Fehler einzugestehen, fällt einem Politiker immer schwer, das verstehe ich. Aber ich habe auch ein bisschen den Eindruck, da Joachim Gauck eine zwar verwandte ostdeutsche Biografie hat, aber dass seine Biografie doch die ihrige ein wenig in den Schatten stellt. Und das mag vielleicht auch die Emotion erklären, mit der Angela Merkel sich gegen Gauck gewehrt hat.
Detjen: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute live aus dem Reichstagsgebäude, aus der Plenarebene des Reichstages, wo sich gerade die Fraktionen vor der Bundesversammlung sammeln, noch mal zu Zählappellen zusammenkommen. Und bei uns ist Wolfgang Thierse, der Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Herr Thierse, wird Joachim Gauck nach zwei Rücktritten seiner Vorgänger ein lädiertes Amt übernehmen?
Thierse: Ach, das Amt lebt immer von der Person, die es ausfüllt. Es ist ja ein schwieriges Amt. Man sitzt in einem goldenen Käfig. Jede Rede, jede Äußerung wird beobachtet und kommentiert.
Detjen: Gauck verliert als erstes Mal die Freiheit, die er immer so preist.
Thierse: Es werden wahre Wunder an Reden erwartet. Man kann diese Erwartungen gar nicht erfüllen. Man kann nicht zu jedem Thema eine gleich grundsätzlich das ganze Land erschütternde Rede halten.
Detjen: Heißt das, dass dieses Amt strukturell überfordert ist in unserer heutigen Zeit?
Thierse: Ja, es ist ja ein Missverhältnis. Es soll die Einheit des Landes repräsentieren, die Gemeinschaft der Bürger darstellen, hat zugleich selber ganz minimale politische Entscheidungskompetenzen. Also ist es ganz auf das Wort, auf Symbolkraft angewiesen. Und deswegen lebt das Amt so von der Person. Wir haben große Bundespräsidenten gehabt. Wir hatten zuletzt einen, der mit Schwierigkeiten aus dem Amt gehen musste. Aber das einzige Problem nach Christian Wulff ist ein anderes. Ich habe erlebt, dass sein Verhalten, die Vorwürfe gegen ihn, eines der klebrigsten Vorurteile bei vielen Bürgern bestätigt haben: Die da, diese Politiker, die da oben, die sind doch sowieso nur mit ihrem eigenen Vorteil befasst, die nehmen alles. Das ist verheerend für eine Demokratie, ein solches klebriges Vorurteil. Und ich hoffe, Joachim Gauck kann durch seine Glaubwürdigkeit, durch seine außerordentliche rednerische Begabung, auch beglaubigt durch seine Biografie, dieses Vorurteil öffentlich wirksam widerlegen. Das wäre wichtig für unsere Demokratie.
Detjen: Aber es waren ja nun zwei Rücktritte, die wir erlebt haben innerhalb von kurzer Zeit. Das hat ja doch etwas mit dem Amt zu tun, einem Amt, das ursprünglich mit dem Grundgesetz ja auch mal ganz anders angelegt war. Viele Aufgaben haben an Bedeutung verloren, diplomatische Empfänge, die Ausfertigung von Gesetzen. Manche Aufgaben wurden von anderen übernommen, die Gesetzeskontrolle etwa durch das Bundesverfassungsgericht, das es, als das Grundgesetz in Kraft trat, noch gar nicht gab. Ist das nicht doch so etwas wie ein aus der Zeit gefallenes Amt?
Thierse: Ja, aber auch andere Demokratien leisten sich so etwas aus der Zeit Gefallenes, zum Beispiel eine Monarchie, die ja noch mehr aus der Zeit gefallen ist. Ich glaube, auch moderne Gesellschaften – gerade, weil sie so zerklüftet sind, hoch differenziert, hoch arbeitsteilig, pluralistisch in jeder Hinsicht – sie haben das Bedürfnis, dass da ein Institut und eine Person da ist, die das Gemeinsame in Erinnerung ruft, darstellt und zur Sprache bringt. Darin bleibt das Amt wichtig, auch gerade in seiner strukturellen Schwäche. Wenn ein Bundespräsident zugleich noch in wichtigen Streitfragen der Gesellschaft entscheiden müsste, würde er ja in einem viel größeren Ausmaß selber Gegenstand des Streites werden müssen. So kann ein Bundespräsident, wenn er es gut macht, relativ außerhalb des Streites sein – nicht außerhalb jeder Kritik, aber er ist nicht Gegenstand sozusagen streitiger Debatten in Sachfragen. Und das ist eine große Chance, die ein guter Bundespräsident nutzen kann.
Detjen: Mit einem Thema ist Joachim Gauck ganz klar verbunden. Er verbindet sich selber damit: Freiheit, Demokratie, das Werben für die Demokratie. In welchen anderen Themenfeldern braucht Deutschland einen Bundespräsidenten so wie Sie es jetzt geschildert haben in seiner Funktion?
Thierse: Ich denke, wir haben große Herausforderungen. Wir sind ein freies Land. Diese Freiheit ist etwas unerhört Kostbares, man muss sie verteidigen gegen Angriffe von verschiedenen Seiten. Aber wir sind eben auch ein höchst ungerechtes Land. Deswegen ist Gerechtigkeit eines der großen Themen unserer Gesellschaft. Wir sind ein reiches Land, und selbst in der Krise hat die Zahl der Millionäre zugenommen und die Zahl der Armen auch zugenommen. Wir sind ein Land, das sich den ökologischen Herausforderungen stellen muss. Wir sind ein Land, wo der Anteil der Bürger ausländischer Herkunft, unterschiedlicher Kulturen und Religionen zunimmt, also auch kulturell und religiös widersprüchliches Land. Integration ist eine der großen Herausforderungen. Und alle politischen Aufgaben dieses Landes werden wir nur zu einem geringsten Teil in dem engen Rahmen des Nationalstaates lösen können. Also, Europa ist eine große Herausforderung.
Detjen: Damit sind jetzt schon wieder alle die ganz großen Themen bei diesem einen Menschen, bei diesem Bundespräsidenten abgeladen.
Thierse: Ja, aber er kann es auf eine Weise besprechen, wo es sozusagen um die grundsätzlichen Einstellungen von Menschen geht, wo man nicht fragt, wie viele Millionen dafür und wie viele Milliarden dafür, sondern gibt es in diesem Land ausreichend Solidaritätsbereitschaft um der Zukunft des Sozialstaates willen? Sind die Eliten bereit, etwas von ihrem Reichtum abzugeben, damit dieses Land gerechter wird? Sind wir bereit, insgesamt unsere Lebenseinstellungen zu verändern, damit wir ökologischer leben können um der Zukunft unserer Enkel und Urenkel willen. Darüber muss ein Bundespräsident reden, und darüber kann er auch reden, weil er damit nicht in den Untiefen oder in den Tiefen der Tagespolitik ist, die wichtig ist, die wir immer wieder besuchen müssen. Aber er kann sozusagen etwas grundsätzlicher reden.
Detjen: Sie haben jetzt gesagt, es ist nicht nur die Rede, sondern es geht darum, etwas zu besprechen, also ein Gespräch aufzusuchen. Dafür braucht es auch Gesprächspartner, Resonanzräume. Es war ja auffällig, dass beide früheren Bundespräsidenten in ihren Rücktrittserklärungen einen Mangel an politischer Kultur, an Respekt im Umgang mit dem Amt, Kritik an den Medien geäußert haben. Hat diese Mediengesellschaft da ein Stück Gesprächsfähigkeit verloren?
Thierse: Ja, wir sind ja in einer ein bisschen gefährlichen Situation. Die Medien – das ist gar kein individueller Vorwurf – übernehmen die Rolle sozusagen einer Ersatzdemokratie. Man sitzt als Bürger bequem im Sessel, guckt eine Talkshow, in der Politik zum Gegenstand des Gesprächs, eigentlich einer Unterhaltung gemacht wird, und es entsteht die Suggestion, man sei dabei und man würde demokratisch agieren. Aber die wirkliche Politik ist grauer, hässlicher, schweißtreibender, enttäuschungsbehafteter und vor allem niemals so bequem. Und sozusagen dies immer wieder zu überwinden, sozusagen die Suggestion, die die Medien unausweichlich erzeugen können – namentlich das Fernsehen, Rundfunk weniger – zu überwinden und sagen, Demokratie ist Streit, ist der Versuch, Mehrheiten, Kompromisse, Konsense zu finden. Aber an diesem Streit muss man sich beteiligen. Man kann nicht in der Zuschauerhaltung im Sessel sitzend an Demokratie teilnehmen, sondern man muss sich in diesen schweißtreibenden Alltag hineinbegeben, sonst geht die Demokratie kaputt.
Detjen: Heute bei dieser Bundesversammlung, Herr Thierse, zeigt sich die Demokratie von ihrer schönen Seite. Das Wetter in Berlin ist strahlend . . .
Thierse: Es ist wirklich so etwas wie Kaiserwetter.
Detjen: Es ist Kaiserwetter. Hinter Ihnen stand eben Alice Schwarzer, gab Interviews. Otto Rehagel ist Mitglied der Bundesversammlung und hat sich offenbar von der Schlappe von Hertha BSC gestern gut erholt. Ministerpräsidenten, Parlamentarier aus ganz Deutschland sind hier. Es ist gleichzeitig eine Bundesversammlung, in der es qua Grundgesetz keine Aussprache, keine Debatte, nicht den demokratischen Streit geben wird, den Sie eben erwähnt haben, auch keine Spannung, was das Ergebnis angeht. Entwertet das so eine parlamentarische Versammlung ein bisschen?
Thierse: Nein. Es muss nicht jedes Mal eine gleichermaßen spannende Situation werden wie vor anderthalb Jahren. Wenn sich die demokratischen Parteien in ihrer großen Mehrheit auf einen Kandidaten geeinigt haben, dann tut das auch gut, zumal wenn dieser Kandidat auch eine außerordentliche Popularität genießt, also eine große Zustimmung in der Bevölkerung. Da haben also die Parteien nicht ganz daneben gegriffen mit Blick auf das Volk. Aber es ist natürlich eine Ausnahmesituation. Der Alltag der Demokratie ist der Streit, ist Debatte, ist die heftige Diskussion immer mit dem Versuch, eine Entscheidung zu treffen, nicht das endlose Palaver, sondern man zielt auf Entscheidung. Und der Unterschied zur Talkshow ist, im Parlament muss ich für meine Entscheidung einstehen. Da stimme ich ab und muss meine Entscheidung vor den Wählern, vor den Bürgern verantworten. In der Talkshow geht es um die beste und schnellste Pointe. Das spielt im Parlament zum Glück keine entscheidende Rolle.
Detjen: Dann lassen Sie uns am Ende des Gesprächs, Herr Thierse, auch noch einmal in die schweißtreibenden Niederungen des politischen Alltags herabsteigen. Diese Bundesversammlung steht seit Anfang der Woche ja noch unter einem ganz anderen Zeichen, nämlich seit der Ankündigung von Neuwahlen im einwohnerstärksten Bundesland, Nordrhein-Westfalen. Ist das hier noch eine ganz normale Wahl oder ist das hier schon Teil eines Wahlkampfes, der ja dann nahtlos in den Bundestagswahlkampf übergehen wird?
Thierse: Ja, aber der heutige Tag ist nicht Wahlkampftag. Da hilft eben auch der gemeinsame Kandidat. Aber dass es auch in diesem Jahr wieder so viele Wahlen gibt, ist ja eine Überraschung. Wir dachten, das Jahr 2012 wird bezogen auf Wahlkämpfe ein ruhiges Jahr. Nun wird es besonders spannend. Saar, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, da geht es schon um viel, um die Zukunft von Schwarz-Gelb oder um Rot-Grün in Deutschland. Da werden schon wieder Alternativen sichtbar, auch für das nächste Jahr des Bundestagswahlkampfes.
Detjen: Bundesversammlungen und die Wahl von Bundespräsidenten waren immer wieder Vorzeichen, auch für neue politische Konstellationen auf der Bundesebene. Jetzt komm da also ein schwarz-gelb-rot-grüner Kandidat, gleichzeitig knirscht es da in Schwarz-Gelb. Welche Signale gehen denn bundespolitisch von dieser Wahl aus?
Thierse: Also, ich halte die Signale für relativ gering. Dafür hat ja Angela Merkel gesorgt, als sie begriffen hatte, sie hat keine Mehrheit in ihrer Gegnerschaft gegen Joachim Gauck. Und da hat sie beigedreht, um genau diese Konstellation, diese Konfrontation zu verhindern. Und nun haben wir eben einen Kandidaten rot-grün-schwarz-gelb – man muss es in dieser Reihenfolge schon sagen …
Detjen: Eine Papageienkoalition.
Thierse: Na ja, vor zwei Jahren hat ja Rot-Grün ihn nominiert. Und dass wir ihn jetzt wieder nominieren ist ja ganz selbstverständlich, denn wir halten ihn ja nach anderthalb Jahren nicht für schlechter als bei der vorigen Wahl. Also da finde ich nicht, sollte man Kaffeesatzleserei betreiben.
Detjen: Wie werden sich in Ihrer Partei, in der SPD, die Kräfteverhältnisse verändern, wenn Hannelore Kraft Mitte Mai als strahlende Siegerin aus der Landtagswahl Nordrhein-Westfalen hervorgeht. Hat die SPD dann eine weitere Kanzlerkandidatin?
Thierse: Hannelore Kraft hat sich ganz entschieden geäußert: Nein, sie wird weder 2013 noch 2017 zur Verfügung stehen. Und damit soll man es auch bewenden lassen. Wenn die Wahl für uns gewonnen wird, ist das natürlich eine unerhörte Ermunterung und Ermutigung für die Wahlauseinandersetzung im Jahr 2013. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat werden sich geändert haben. Dann wird den Bürgern sichtbar, dass Rot-Grün tatsächlich eine realistische Alternative ist, dass wir die Wahl gewinnen können. Und das ist ja immerhin eine gute Voraussetzung für einen Wahlkampf.
Detjen: Sie sagen Bundestagswahl 2013. Das heißt, Sie gehen ganz fest davon aus, dass das regulär wird, oder kann das noch mal so ähnlich sein wie 2005, als die Landtagswahl Nordrhein-Westfalens dann am Ende zu vorgezogenen Neuwahlen im Bund geführt haben?
Thierse: Ich bin lange genug mit von der Partie, ich kann nichts ausschließen. Aber es ist denkbar, wenn die Wahl für Schwarz und vor allem Gelb schlecht ausgeht, dass das die beiden noch einmal heftiger zusammenschweißt. Aber sicher ist nichts.
Detjen: Dem können wir nicht widersprechen, Herr Thierse. Sie gehen jetzt gleich herunter in die Bundesversammlung. Um 12.00 Uhr geht das los mit dem Aufruf aller einzelnen Wahlmänner und Wahlfrauen. Mit dem Namen Thierse – T – muss man sich da ganz hinten anstellen zunächst einmal?
Thierse: Ja, man hat viel Zeit, sich zu unterhalten. Das ist ja auch ein wirklich schönes, geselliges Ereignis. Man redet mit ganz vielen Leuten, mit Bekannten, die man sonst eben aus dem Fernsehen kennt oder sonst wo. Die sind jetzt plötzlich mit hier in der Bundesversammlung mit Vertretern sehr verschiedene Fraktionen und Parteien. Das ist ganz schön so, wenn es nicht wieder einen ganzen Tag lang dauert. Aber so eine zweistündige Bundesversammlung, wo man miteinander spricht, ist ein schönes Ereignis, ein kleines Fest der Demokratie.
Detjen: Herr Thierse, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag. Danke Ihnen, dass Sie sich auch Zeit für dieses Gespräch mit dem Deutschlandfunk genommen haben. Und damit gebe ich dann zurück hier aus der Fraktionsebene des Bundestagsgebäude in unser Funkhaus nach Köln zu Dirk Müller.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.