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Das andere Jerusalem

Als 1492 die Juden aus Spanien vertrieben wurden, lud Sultan Bajezid II. sie nach Thessaloniki ein, damals eine Hafenstadt im osmanischen Reich. Über Jahrhunderte bestimmte jüdische Kultur das Bild die Stadt - bis deutsche Truppen nach 1941 dem einst reichen jüdischen Leben ein Ende setzten.

Von Manuel Gogos |
    "Noch heute denke ich mit Wehmut an den Duft, der aus den jüdischen Vierteln des Salonikis meiner Kindheit wehte. Er bestand aus Rosenwasser, gebratenen Zwiebeln und reifen Honigmelonen."

    Der griechische Schriftsteller Elias Petropoulos erinnert sich an die Bilder, Stimmen und Düfte einer vergangenen Zeit. Die Straßenzüge mit den jüdischen Läden, der jüdische Hafenarbeiter unter dem Gewicht seiner Rückentrage, die levantinische Villa des jüdischen Tabakfabrikanten, die Tracht der Frauen, die auf dem jüdischen Friedhof die Gräber pflegen.

    "Es ist eine seltsame Sache, wenn mir jemand sagt, ich sei eine Fremde in Thessaloniki, das hier sei nicht die Heimat der Juden. Wir sind hier Zuhause. Meine Familie lebt hier zum Beispiel seit 15 Generationen. Nur wenige andere Thessaloniker können das von sich behaupten."

    Erika Perachia ist Leiterin des Jüdischen Museums in Thessaloniki. Sie widmet sich der Kultur der Erinnerung. Das einst so reiche und schillernde jüdische Leben ist eine untergegangene, eine versunkene Welt. Der Schriftsteller Marcel Cohen nennt die jüdischen Sepharden von Saloniki darum "gefallene Könige". Und der Literaturnobelpreisträger Elie Wiesel bemerkte anlässlich seines Besuches 2004 in der jüdischen Gemeinde in Thessaloniki:

    "Die Erinnerung ist ungerecht, weil sie uns nicht genug über die Rolle, die tragische Rolle der sephardischen Juden im Holocaust lehrt. Wir sprechen so viel von den polnischen Juden, den ungarischen und den russischen Juden, und niemals von den sephardischen Juden. Warum erinnert man sich ihrer nicht mit derselben Präzision, demselben außergewöhnlichen Sinn fürs Detail?"
    Der Aufstieg der Juden von Thessaloniki beginnt 1492 mit einer Flucht. In Spanien ergeht damals das inquisitorische Dekret an die Juden, sich entweder taufen zu lassen oder aus dem Land zu ziehen. 50.000 entscheiden sich für die Scheintaufe, fünfmal so viele ziehen die Verbannung vor. In dieser neuen "Zerstreuung" zieht es die meisten in den östlichen Mittelmeerraum. Auf die Einladung von Sultan Bajezid II. kommen 20.000 von ihnen nach Thessaloniki. Das zeugt von der politischen Weitsicht des Osmanen, meint Jakov Benmayor, er ist heute Sprecher der Jüdischen Gemeinde:

    "Die Juden galten als ein arbeitsames Volk, da soll der Sultan gesagt haben, 'Waren denn Isabel und Ferdinand solche Dummköpfe, sie gehen zu lassen? Ich bedanke mich tausendfach bei ihnen, dass sie sie zu uns geschickt haben, damit sie hier bei uns Entwicklungshelfer spielen.'"

    Schon seit dem Römischen Reich und der Zeit der Hellenisierung hat es hier Juden gegeben. Sie sprechen griechisch und tragen griechische Namen. Laut dem Thessalonicher-Brief soll Apostel Paulus in ihrer Synagoge Etz haHayim in der Nähe des Hafens gepredigt haben.

    Bereits Ende des 14. Jahrhunderts haben sich unter der Herrschaft der Venezianer kleinere jüdische Gemeinschaften in der Stadt angesiedelt. Ihre Synagogen geben Auskunft über die Herkunft der Erbauer: "Sicilia", "Hungaria". Die Hafenstadt hat gute Chancen, aus ihrer strategischen Lage als "Tor zum Mittelmeer" Kapital zu schlagen. Aber bis zur Ankunft der spanischen Juden träumt die Stadt nur vor sich hin, meint Iakov Benmayor:

    "Es war ein Dorf. Aber es hatte Möglichkeiten. Als wichtiger Verkehrsknotenpunkt von seinem Hafen aus den ganzen Balkan mit Waren aller Art zu versorgen. Dieses Potenzial der Stadt sollten erst die sephardischen Juden entwickeln."

    Für viele sephardischen Juden, die von der iberischen Halbinsel hierher kommen, ist das Osmanische Reich – zu dem Thessaloniki damals gehörte – das gelobte Land. Hier herrscht Religionsfreiheit, endlich können die Juden das verkehrte Leben aus Flucht und Verstellung ablegen, schreibt der Dichter Samuel Uskue 1537.

    "Das große Türkenreich, grenzenlos wie die es umspülenden Meere, tat sich weit vor uns auf. Offen stehen vor dir, du Sohn meines Volkes, die Tore der Freiheit: Du darfst dich ohne Scham zu deinem Glauben bekennen, du kannst ein neues Leben beginnen, das Joch der dir von den christlichen Völkern aufgezwungenen verkehrten Lehren und Bräuche abschütteln und zu der uralten Wahrheit deiner Vorfahren zurückfinden."

    Die Sepharden gehen allerdings nicht davon aus, dauerhaft hier zu bleiben. In ihren gemieteten Unterkünften scheinen sie eher zu kampieren als zu wohnen. Die Stadt Thessaloniki kommt ihnen provinziell vor und verschlafen. Darum erinnern sie sich gern an die vormalige spanische Heimat.

    Jorge Luis Borges:
    Arbarbanel, Farias oder Pinedo, / aus Spanien verbannt
    von der unseligen Inquisition, bewahren sie sich doch
    den Schlüssel zu einem bestimmten dunklen Haus in Toledo
    Nun ganz befreit von Hoffnung und Furcht
    Betrachten sie ihn im letzten Licht des Tages:
    Seine Bronze spricht von der Vergangenheit, die soweit zurückblieb
    Schwacher Schimmer und ein stilles Leiden Jahr für Jahr
    Ein Schlüssel in Salonika


    Die sephardischen Juden sind Träger einer jahrhundertealten Erfahrung der verschiedenen Handwerke, vor allem aber der Weberei und Seidenspinnerei. Das Osmanische Reich deckt seinen Bedarf an Stoffen im 16. Jahrhundert fast ausschließlich aus ihren Erzeugnissen. Aber unter den Flüchtlingen finden sich auch bedeutende Akademiker, Talmudisten und Schriftsteller. 1506 nimmt in Saloniki die erste jüdische Druckerei des Ostens ihren Betrieb auf, die Stadt schwingt sich zum Zentrum der Buchdruckerkunst im Vorderen Orient auf. Ausgezeichnete Gelehrte der Halacha ziehen jüdische Schüler aus ganz Europa an. Saloniki erweist sich mit seiner religiösen und weltlichen Dichtung, in Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft in der Mitte des 16. Jahrhunderts als das europäische Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Die Stadt erlebt ihr "goldenes Zeitalter" und erhält den Ehrennamen "Madre di Israel", "Mutter Israels":

    "Du bist der glaubensstarke Baum von Thora-Frömmigkeit und Arbeit, voller Blumen und beeindruckenden Gewächsen zur Ehre Israels. Deine Erde ist fruchtbar, bewässert von den Flüssen des Mitgefühls und der Gastfreundlichkeit. Hier ist es, wo eine jegliche erniedrigte oder arme Seele, vertrieben aus Europa oder von irgendeinem anderen Ort der Welt, eine Zuflucht findet. Und du wirst sie empfangen mit der Liebe einer Mutter, Mutter des Volkes Israel, wie einst Jerusalem in den Tagen seines Glanzes."
    Hafenstädte wie Triest, Odessa, Smyrna oder Alexandria hatten schon immer für jüdische Gemeinschaften eine besondere Anziehungskraft. Auch in Saloniki erweisen sich die Juden als besonders geschickt darin, ein Netz aus Handelsbeziehungen knüpfen. Von den Händlern des berühmten orientalischen Tabaks bis hin zu den einfachen Hafenarbeitern wird Saloniki nun über vierhundert Jahre lang eine jüdische Stadt sein. Juden prägen das Stadtbild, und ihre Religion strukturiert den Tagesablauf aller Bewohner:

    "Damals fiel der Ruhetag im Hafen auf den Sabbath. Am Sabbath war der Hafen geschlossen. Kein Wunder, wenn all die Hafenarbeiter Juden waren."

    Auch durch ihre Sprache prägen die Sepharden den Charakter der Stadt. Ihr Spanisch - die alte kastilische Sprache des Miguel Cervantes - hat sich hier mit portugiesischen und andern Sprachfragmenten durchsetzt. Daraus ist das Ladino hervorgegangen. Noch bis zur Ablösung durch das Griechische im Zuge der Nationalstaatenbildung beherrscht der spanische Dialekt der Juden den Alltag von Saloniki.

    " Die Hafenarbeiter sprachen alle spanisch. Man muss sich vorstellen: Die jüdischen Schulen begannen überhaupt erst nach 1917 damit, Griechisch zu lehren. Wer lernte schon Griechisch. Das gab es nicht."

    Anfang des 20. Jahrhunderts leben die drei großen Religionsgemeinschaften der Muslime, der Griechisch-Orthodoxen und der Juden noch in enger Nachbarschaft. Die Geschichte Salonikis besteht nicht so sehr aus spektakuläreren Konfrontationen dieser Gruppen. Sie lebt vielmehr aus den unsichtbaren Formen ihres täglichen Miteinanders.

    "Wir haben hier ein kleines Buch, mit verschiedenen Liedern, in Spaniolisch. Hier steht, dass sie auf die Melodie griechischer Lieder zu singen sind. Eigentlich sind es Übersetzungen aus dem Griechischen, allerdings auch etwas abgewandelt. Denn die Texte versuchen, das Beschriebene auch auf die Situation der Juden zu übertragen. Obwohl die nicht so sehr anders war als die der Griechen."

    David Saltiel, "Das Tabak-Mädchen":

    "Wie gut es zu dir passt / Dieses blaue Kleid / Du siehst wie eine Lady aus / Wenn Du aus der Tabakfabrik kommst / sag mir mein Mädchen wo du lebst / Ich werde kommen und dich besuchen / Ich lebe in so einer dunklen Straße / Du kannst nicht sehn, wohin du trittst."

    Bis ins 20. Jahrhundert bilden die Juden unter Türken, Griechen, Albanern und Bulgaren die Mehrheit der Bevölkerung. Niemals sonst hat es das in der Geschichte der jüdischen Diaspora gegeben. Im Jahr 1910 hält sich David Ben Gurion für längere Zeit in der Stadt auf. Und er zeigt sich begeistert, ein jüdisch dominiertes Gemeinwesen vorzufinden.

    "Ich sah etwas Außergewöhnliches, was ich noch nie sah. Ich sah eine jüdische Stadt, eine jüdische Arbeiterstadt."

    Die Griechen nehmen ihren eigentlichen Aufschwung erst durch die Anbindung Thessalonikis an die nationalistischen Strömungen im Lande. Im Jahre 1922 verändern sich die Verhältnisse grundlegend. Der sogenannte Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei bringt Hunderttausende griechische Flüchtlinge aus Kleinasien nach Griechenland, sie werden besonders im Großraum der nordgriechischen Metropole angesiedelt.

    "Und es kommen Flüchtlinge, griechische Flüchtlinge aus Kleinasien. Die brauchten alle Häuser, brauchten Arbeit, und es war nur logisch, dass die griechische Regierung sie dabei unterstützte. Die jüdischen Hafenarbeiter verlieren daraufhin ihre Erwerbsmöglichkeiten."

    Die Griechen übernehmen den Handel. Jetzt wird aus dem überwiegend jüdischen Thessaloniki eine griechische Stadt. Als das große Feuer von 1917 das historische Zentrum der Stadt zerstört, werden Zehntausende jüdische Bewohner obdachlos. Und die Stadtverwaltung verhindert durch ihre Bevölkerungspolitik, dass die Juden ins Zentrum der Stadt zurückkehren. Die Erfahrungen dieser Ausgrenzung klingen noch in einem alten Volkslied an.

    David Saltiel, "Das Feuer von Saloniki":

    "Am Tage des Sabbath, liebe Mutter, als es zwei Uhr schlug,
    brach bei Agua Mueva ein Feuer aus,
    bis zum weißen Turm hat es sich ausgebreitet.
    Sie gaben uns ein paar Zelte, die der Wind fortweht.
    Saures Brot gaben sie uns.
    Du wirfst uns ins Elend, ohne dass wir noch die Kleider wechseln können.


    Der griechische Staat verstärkt den Assimilationsdruck auf seine Minderheiten. Für die Juden von Saloniki folgt die Zeit der Einordnung. Der griechische Nationalismus hat sich in Thessaloniki als Meister darin erwiesen, die Erbschaft des ehemaligen Vielvölkerstaates vergessen zu machen.
    Der deutsche Nationalsozialismus hat das jüdische Leben Thessalonikis fast völlig ausgelöscht. Am 9. April 1941 erreichen die deutschen Truppen Thessaloniki. Am 15. März 1943 fährt der erste Zug zu den Todeslagern nach Auschwitz und Birkenau:

    "Thessaloniki hat eine große Anzahl seiner Bewohner im Holocaust verloren. Der Verlust zählt zu den größten in Europa. Da sagen viele gleich, wie konnte das passieren: Ja, weil die Griechen mit den Deutschen kollaboriert haben. Aber so war das nicht. Ich sage nicht, dass es nicht griechische Kollaborateure gab. Natürlich gab es die. Es gab sogar jüdische Kollaborateure. Aber Thessaloniki war eine Großstadt. Eine Großstadt, in der fast die Hälfte der Einwohner immer noch Juden waren. Wo hätten die sich verstecken sollen?"

    Von 56.000 Juden am Vorabend des Krieges überleben kaum 2000. Auf dem Gelände der Aristoteles-Universität gibt es heute keinen Hinweis mehr, dass hier einst der jüdische Friedhof der Stadt war, der von den Deutschen zerstört und von den Griechen buchstäblich als Steinbruch benutzt wurde. Manchmal nur stolpert man auf dem Campus über ein Stück alten Marmor. Einige der Grabsteine hat das jüdische Museum retten können, sie zeugen gleich im Eingangsbereich des Museums vom goldenen Zeitalter der Juden von Thessaloniki.

    Heute besteht die jüdische Gemeinde von Thessaloniki aus gerade einmal 1200 Mitgliedern. Die Überlebenden und ihre Nachkommen, die "letzten Juden von Thessaloniki" fühlen sich als Griechen. Nach dem Konzept eines "privaten Judentums" leben sie so unauffällig wie möglich, um nicht zur Zielscheibe eines auch in Griechenland immer virulenten Antisemitismus zu werden:

    "Die meisten dieser Reaktionen stammen aus dem Umfeld der Orthodoxie. Aber wenn ich die Situation mit meiner Kindheit vergleiche, muss man doch sagen, dass wir viele Fortschritte gemacht haben. So sind die judenfeindlichen Inhalte aus den Schulbüchern verschwunden. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg."