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Das blutige Kapitel bleibt geschlossen

Die Niederschlagung der roten Massenproteste durch die Armee vor einem Jahr ist das blutigste Kapitel in der jüngeren Geschichte Thailands. Bis heute hat sich die Regierung nicht erklärt, das Land ist weit von einer nationalen Versöhnung entfernt.

Von Nicola Glass |
    "Hier sind Menschen gestorben!”, skandieren die Rothemden. Mit der Kundgebung an der Straßenkreuzung "Rachtaprasong” erinnern sie ein Jahr später an den 19. Mai 2010. Damals hatte Thailands Armee die "roten” Demonstrationen gewaltsam beendet.

    Unter den Toten an jenem Tag war auch eine junge Frau namens Kamolkate Akkhahad. Als Freiwillige hatte sie in einem Tempel nahe des Protestcamps gearbeitet. In das "Wat Phatum Wanaram” hatten sich viele Rothemden vor der Armee geflüchtet. Ein Jahr danach hat ihre Mutter Phayao ihren Schmerz längst noch nicht überwunden. Die Regierung habe das Militär angewiesen, Menschen zu erschießen, ist die 46-jährige überzeugt. Und fordert die Autoritäten auf, den Tod ihrer Tochter rückhaltlos aufzuklären:

    ""Sie war als Krankenschwester im Einsatz und hat jedem geholfen, unabhängig von der politischen Einstellung. Aber stattdessen wurde sie in einem Tempel erschossen, der im Buddhismus als ein Ort der Barmherzigkeit gilt. Nach ihrem Tod habe ich mir auch noch anhören müssen, dass die Regierung sie beschuldigte, eine Terroristin zu sein.”"

    Ein Rückblick: Zwischen März und Mai 2010 hatten die Rothemden, mehrheitlich Anhänger des 2006 vom Militär gestürzten Premiers Thaksin Shinawatra, gegen die Regierung protestiert. Ihre Forderung: vorgezogene Neuwahlen.

    Ein erster Showdown ereignete sich am 10. April: Soldaten sollten die Demonstranten der "Vereinigten Front für Demokratie gegen Diktatur”, kurz (UDD), vertreiben. Mit offiziell 26 Toten endete der Tag im Fiasko. Aufseiten der Roten hatten Akteure mitgemischt, denen es nicht um die politischen Anliegen der UDD ging: Jene "Männer in Schwarz”, die mit Wissen der UDD-Führung gegen die Soldaten gekämpft hatten, stammten aus Reihen der Armee selbst oder deren Dunstkreis. Während der anhaltenden Proteste tauchten diese immer wieder auf.

    Die Gewalt von 2010 hat die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch” in einem Bericht aufgearbeitet. Asiendirektor Brad Adams geht mit beiden Seiten hart ins Gericht:

    ""Indem die Regierung am 15. Mai ankündigte, eine "Live-Fire-Zone” einzurichten, also dem Militär erlaubte, scharf zu schießen, hat sie Menschenrechte und internationales Recht verletzt. In so einer Situation, in der es darum geht, Proteste aufzulösen, gibt es dafür absolut keine Rechtfertigung. Und was die Rothemden angeht, so behaupteten diese stets, eine friedliche Bewegung zu sein, dass die "Männer in Schwarz” nicht existierten oder von der Regierung eingeschleust worden seien. Das ist Propaganda.”"

    Von thailändischer Seite wurden Untersuchungen bislang verschleppt oder unter Verschluss gehalten. Die Regierung rief eine "Wahrheits- und Versöhnungskommission” ins Leben, aber diese hat kein Mandat, Personen vorzuladen oder unter Eid aussagen zu lassen. Somchai Homlaor ist ein führendes Mitglied der Kommission. Obwohl vom Staat beauftragt, mag er diesem keinen Blankoscheck ausstellen. Noch gibt es keinen Abschlussbericht, aber soviel steht für ihn fest: Zwar sei auch seitens der Rothemden Gewalt ausgegangen, doch Regierung und Militär seien die Hauptverantwortlichen:

    ""Der Staat hat dabei versagt, Menschenleben zu schützen. Dabei geht es nicht nur um das Leben der Demonstranten, sondern auch um das der Soldaten. Wenn es schon nicht gelingt, Leben zu schützen, müssen die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Viele Demonstranten wurden von den staatlichen Sicherheitskräften getötet, aber von der Regierungsseite wurde bislang niemand deswegen beschuldigt. Wir sind nicht glücklich darüber, dass für Thailands Militär Straflosigkeit gilt, das ist schädlich für unser Land.”"

    Bei den Rothemden hingegen hatte der Staat nicht lange gezögert: Etliche Anführer wurden inhaftiert. Ihnen wird Terrorismus vorgeworfen. Zudem häufen sich Anklagen wegen Majestätsbeleidigung – einem Betroffenen kann das jahrelange Haft einbringen. Nicht nur Rothemden, sondern auch prominente Akademiker, Aktivisten oder Journalisten werden beschuldigt. Kritiker monieren, dass Regierung und Armee die Gesetzeslage zunehmend missbrauchten, um freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.

    Chiranuch Premchaiporn ist Geschäftsführerin des unabhängigen Onlineportals "Prachatai”. Sie wurde angeklagt, weil sie fremde Kommentare, die angeblich die Monarchie verunglimpften, nicht rechtzeitig vom Prachatai-Webboard gelöscht hatte. Steht Thailand vor der Zerreißprobe?

    ""Die Gesellschaft besteht aus mehr als diesen beiden Lagern, aber uns wird nicht die Chance gegeben, das auch so zu sehen. Wir sind in diesem Zwiespalt gefangen. Wenn wir immer nur das Gefühl haben, polarisiert zu sein, indem die einen sagen, wenn ihr nicht für uns seid, dann seid ihr gegen uns, dann ist das eine kranke Gesellschaft. Das kann besser werden, wenn die Regierung sich mehr öffnet und die Gegenseite nicht als 'die anderen' empfindet. Diese sind das Volk - und nicht 'die anderen'.”"

    Brad Adams, Asiendirektor von "Human Rights Watch", geht davon aus, dass sich diese Polarisierung im Wahlkampf fortsetzen wird:

    ""Beide Seiten werden die Geschehnisse des vergangenen Jahres für ihre Kampagnen benutzen. Eine Aussicht auf Versöhnung ist zumindest während des Wahlkampfes nicht gegeben. Einer der besten Wege wäre, dafür zu sorgen, dass die Untersuchungen vorankommen. Solange die Öffentlichkeit nicht das Gefühl hat, dass Gerechtigkeit für alle gleichermaßen gilt, werden viele weiter daran zweifeln, dass der Staat sie und ihre Interessen schützt. Das wird eine Versöhnung in umso weitere Ferne rücken.”"

    Ohne Aufklärung werden die Opfer und deren Familien niemals Ruhe finden. Doch ob Regierung und Militär daran interessiert sind, steht auf einem ganz anderen Blatt.