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Das Böse oder Das Drama der Freiheit

Ein seit geraumer Zeit zunehmend beliebter Wahlspruch lautet kurz und prägnant: "Das Leben ist wie ein Pralinenschachtel. Man weiß nie, was man bekommt." Er entstammt dem amerikanischen Film "Forrest Gump", der mit dem typischen Schicksal seines gleichnamigen Heldens gleichsam zur Allegorie einer ganzen Generation geworden ist, und beschreibt eine für alle nachvollziehbare Erfahrung von Schicksal als mehr oder weniger erfreuliche Verteilung von Glückstreffern beim Griff in die Bonbonniere. Die Erheiterung, die das treffende Beispiel auslöst, versöhnt aber mit einer durchaus ernsten Sache. Jeder weiß, daß jede Pralinenmischung gute und weniger gute Genüsse enthält, ganz wie das Leben; aber wie schnell hadert der mit dem Schicksal, der nur Nieten zu greifen meint. Und damit sind wir unversehens beim Thema: denn wie schnell sieht er das Böse oder einfach nur ein böses Geschick als Ursache dafür, daß er - wie Marilyn Monroe sich in einem anderen Film des so konsumorientierten Amerikas nicht weniger prägnant ausdrückt - immer nur das "kurze Ende der Wurst" ergreift.

Michael Wetzel |
    Am Anfang steht das Schicksal oder einfach nur der Zufall, der darüber entscheidet, welche Praline man bekommt. Mit der Zeit aber oder besser mit den sich anhäufenden Enttäuschungen wächst beim Menschen das Gefühl, daß hinter der ganzen Verteilung eine transzendente Ordnungsmacht wacht: Als gute gibt sie stets vom Besten, als böse läßt sie daneben oder gar in die Leere greifen. Die Grundidee ist zugegebenermaßen archaisch primitiv: Sie hält das ewige Kismet nicht mehr aus und will durch gezieltes Verhalten Einfluß gewinnen auf die Entscheidung. Man kann darin einen animistischen Urimpuls für Religion sehen. Als handlungsorientierte Konstruktion eines Reiches der Gerechtigkeit und eines dem entgegengesetzten, widerstrebenden Reiches der Ungerechtigkeit nennt man es aber philosophisch Ethik.

    Die englische Psychoanalytikerin und Schülerin Freuds, Melanie Klein, führt diese Unterscheidung auf eine Ersterfahrung des menschlichen Wesens als Neugeborenes zurück. Angewiesen auf die nährende Pflege durch die Mutter teilt dieses die Welt ein in die gute weil anwesende und befriedigende Brust sowie die böse weil abwesende und als sich-verweigernd erlebte Brust. Damit ist ein Grundschema menschlicher Verhaltensweisen gegeben, das bis in die intellektuellen Ausdifferenzierungen hinein dem Gegensatz von Sympathie und Antipathie treu bleibt. Das Böse erklärt sich demnach aus einer Abwesenheit, die als bedrohlich erlebt wird. Bedrohlich wofür?

    Auf diese Frage versucht Rüdiger Safranski in seinem jüngsten Buch eine Antwort zu geben. Bekannt durch eine Reihe von fesselnd geschriebenen Biographien über E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer, Heidegger und für seine stilistische Leichtigkeit der Vermittlung schwerwiegender Fragen der abendländischen Metaphysik, widmet sich der Autor mit seinem Essay über das Böse einem durchaus aktuellen Thema. In der Tat beherrschen soziologische, psychologische, literatur- und kulturgeschichtliche Abhandlungen zu Themen der Gewalt, der Unmoral, der Vernichtung seither den Markt, der damit nur ohnmächtig auf die gleichzeitigen globalen Exzesse entfesselter Grausamkeit von Kriegen, Bürgerkriegen, Geno- und Ethnoziden, nicht zuletzt von fremdenfeindlichen Haßausbrüchen reagiert. Schockierende Tatsachen sind aber ebensowenig wie triebhafte Bedürfnisspannungen Safranskis Sache. In seinem neuen Buch erweist er sich vielmehr ganz als Philosoph, der nach ethischen Gründen fragt. Insofern steht für ihn am Anfang auch weder die Bemühung einer jenseitigen Macht des Bösen wie der Teufel noch die passive Erfahrung des Bösen als Versagung, sondern das "Drama der menschlichen Freiheit" als Konsequenz einer Entscheidungsmöglichkeit, die sich ihrerseits als aktive, bewußte Reaktion auf den Mangel darzustellen scheint:

    "Das Bewußtsein läßt den Menschen in die Zeit stürzen: in eine Vergangenheit, die ihn bedrängt; in eine Gegenwart, die sich entzieht; in eine Zukunft, die zur Drohkulisse werden kann und die Sorge wachruft. Es wäre alles einfacher, wenn das Bewußtsein nur bewußtes Sein wäre. Aber es reißt sich los, wird frei für einen Horizont von Möglichkeiten. Das Bewußtsein kann die gegebene Wirklichkeit transzendieren und dabei ein schwindelerregendes Nichts entdecken oder einen Gott, in dem alles zur Ruhe kommt. Und es wird den Verdacht nicht los, daß dieses Nichts und Gott vielleicht doch ein und dasselbe sind. Jedenfalls kann ein Wesen, das ‘nein’ sagt und die Erfahrung des Nichts kennt, auch die Vernichtung wählen. Die philosophische Tradition spricht in bezug auf diese prekäre Situation des Menschen von einem ‘Mangel an Sein’." (13)

    Man hört förmlich aus der Diktion die Erfahrung des Autors mit seiner letzten Arbeit über den Meisterdenker Heidegger heraus: die Geworfenheit des In-der-Zeit-Seins, die Sorge um das Dasein, die bedrohliche Erfahrung des Nichts. Wo aber ist das Böse zu verorten? Im Außen eines gewissermaßen aufdringlichen Mangels an Sein oder in der willkürlichen Entscheidung der offenen Möglichkeiten zugunsten einer vom Menschen zu verantwortenden Negation? Ist das Böse - anders formuliert - eine ontologische Gegebenheit oder ein ethisches Artefakt, für das der Mensch als aus der Schöpfung entlassenes Wesen einzustehen hat? Safranski entzieht sich zunächst einer Antwort, indem er das Problem zu einem erkenntnistheoretischen macht, das im Namen des Bösen die Erklärung eines Unerklärlichen sieht:

    "Das Böse ist kein Begriff, sondern ein Name für das Bedrohliche, das dem freien Bewußtsein begegnen und von ihm getan werden kann. Es begegnet ihm in der Natur dort, wo es sich dem Sinnverlangen verschließt, im Chaos, in der Kontingenz, in der Entropie, im Fressen und Gefressenwerden. In der Leere draußen im Weltraum ebenso wie im eigenen Selbst, im schwarzen Loch der Existenz. Und das Bewußtsein kann die Grausamkeit, die Zerstörung wählen um ihrer selbst willen. Die Gründe dafür sind der Abgrund, der sich im Menschen auftut." (14)

    Frei übersetzt ist das Böse also eine unangemessene Reaktion des menschlichen Bewußtseins auf eine von außen erfolgende Bedrohung, eine Reaktion, die gewissermaßen durch Identifikation mit diesem Bedrohenden erfolgt. Aber so einfach macht es der Autor uns nicht. Im Gegenzug wird dann doch wieder eine Existenz des Bösen unterstellt, dessen Erfahrung sich nicht einfach erklären läßt:

    "Dieses Buch bahnt sich einen Weg durch das Dickicht der Erfahrung mit dem Bösen und des Nachdenkens darüber. Das Böse gehört nicht zu den Themen, denen man mit einer These oder einer Problemlösung beikommen könnte. Auf den notwendig verschlungenen Wegen mögen sich da und dort Perspektiven eröffnen, die etwas weiter sehen lassen."

    Mit diesen wenig ermunternden Worten wird man in die abenteuerliche Reise ins Herz der Finsternis seit der Antike entlassen. Worum es dabei geht? Das scheint dennoch klar: Weniger um die Geschichte des Bösen als ontologische Kategorie als vielmehr um die Geschichte des Nachdenkens über die menschliche Freiheit. Ohne die Metapher von der Pralinenschachtel überstrapazieren und gar einen Fall von Etikettenschwindel diagnostizieren zu wollen, entpuppt sich Safranskis Buch also eigentlich als Philosophiegeschichte der menschlichen Freiheit, die in mehr oder weniger erzwungener Weise ab und an dem Thema des Bösen verknüpft wird. Die vage aber weitherzige These bleibt dabei, daß das Böse sich aus den Irrungen und Wirrungen der menschlichen Freiheit ergibt. Entsprechend vielgestaltig sind seine Erscheinungen. Aber man weiß ja schon seit langem: das Böse ist immer und überall!

    Den Anfang macht ganz klassisch die griechische Antike in Form der Hesiodschen Theogonie, also die Nacherzählung der griechischen Göttergenealogie mit ihrer Ursprungsversion der menschlichen Freiheit als Erbe der göttlichen Antinomien. Parallel dazu wird die biblische Genesis der Ursünde als Geschenk der Freiheit erzählt, mit der die Geschichte der Verneinung eigentlich anhebt:

    "In der Sündenfallgeschichte werden wir Zeugen der Geburt des Neins, des Geistes der Verneinung. Gottes Verbot war das erste Nein in der Geschichte der Welt. Die Geburt des Neins und die der Freiheit gehören zusammen. Mit dem ersten göttlichen Nein, als Kompliment an die Freiheit des Menschen, tritt etwas verhängnisvoll Neues in die Welt. Denn nun kann auch der Mensch ‘nein’ sagen. Er sagt ‘nein’ zum Verbot, er setzt sich darüber hinweg." (26)

    Der Autor wird verschiedentlich auf diese Formel zurückkommen und die Verwurzelung seines Denkens in der abendländisch christlichen Tradition bekunden, ohne dies jedoch im großen Schwunge seiner philosophischen Rede vom Allgemeinmenschlichen genauer zu bedenken oder anzumerken. Die Gewährsleute für das anvisierte Drama der Freiheit sind für Safranski dann die großen Meisterdenker des Abendlandes, Platon, Augustinus, Kant, Rousseau, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche. Auf einfühlsame und verständliche Weise werden ihre leidenschaftlichen Einsätze im Kampf um die Wahrheit nacherzählt. Heraus kommt eine kurzweilige Geschichte der philosophischen Anthropologie, in der immer wieder das Wort böse aufblinkt; denn, wo Menschen denken und handeln, geht es nicht immer mit rechten Dingen zu. Safranski rekonstruiert dementsprechend die Spannung, die sich auf der Suche nach einer verläßlichen Orientierungsgröße und zwischen der Transzendenz eines Göttlichen und dem Richten des Menschen nach sich selbst ergibt. Und immer wieder zeigt sich, daß das Böse dort am unspektakulärsten ist, wo es einer jenseitigen Macht zugesprochen wird. Denn das Böse wird erst wirklich böse, wenn es vom Menschen gewollt wird, der sich dem immer wieder beschworenen Mangel an Sein auf abgründige Weise verschreibt:

    "Darum gibt es in der menschlichen Freiheit die Option des Nichts, der Vernichtung des Chaos. Der Mensch ist eingelassen ins Sein, aber er kann das Verlangen verspüren, sich davon loszureißen, es zu zerstören. Und das ist das Böse. Vermöge seiner Freiheit kann der Mensch zum Komplizen des unfertigen Gottes werden. Der Abgrund in Gott und der Abgrund des Bösen in der menschlichen Freiheit sind miteinander verbunden." (65)

    Für Augustinus ist dies die Verstocktheit des Herzens, das sich der Zugehörigkeit zu Gott in der Selbstbehauptung verweigert. Hieran schließt Schelling in seiner dunklen Freiheitsschrift an. Safranski liest sie auch als Zeugnis jener "Austreibung des Geistes auch aus dem Feld des Wissens", die Schelling im 19. Jahrhundert mit dem "triumphalen Aufstieg der naturalistischen und materialistischen Wissenschaften" erleben mußte: "Eine böse Geschichte." (70)

    Während der später Schelling ob dieses Transzendenzverrats in tiefe Schwermut versinkt, identifiziert Schopenhauer den unheimlichen Willen als das Herz dieser Finsternis und sagt ihm den Kampf an:

    "Wollte man Schopenhauers Philosophie insgesamt charakterisieren, müßte man sie als eine Metaphysik des ästhetischen Abstandnehmens bezeichnen. Im Unterschied zur traditionellen Metaphysik liegt ihr erlösender Aspekt nicht im Gehalt dessen, was da als Wesen hinter der erscheinenden Welt entdeckt wird. Dieser Wesensgehalt ist ja bei Schopenhauer der universelle Wille, also das quälende Sein, das Herz der Finsternis. Die Entlastung und Erlösung liegt nicht im Gehalt, sondern im Akt des distanzierenden Denkens selbst."(97)

    Natürlich widmet sich Safranski bei dieser wiederholten Berufung auf das Herz der Finsternis auch Joseph Conrads gleichnamiger Novelle, die für ihn genau jene dämonische Macht des verschlingenden Nichts beschreibt. Sie ist es auch, die das wohl prominenteste Beispiel menschlicher Niedertracht beherrscht, die Philosophie des Marquis de Sade, der in seinen grausamen Phantasien immer nur eines will, die Rückkehr in den Schoß des alles vernichtenden Chaos. Dagegen hilft kein von außen herbeizitierter Gott, sondern nur die versachlichte Offenbarung seiner Heilsgeschichte in der Institution, wie der Autor im kühnen Sprung von Augustinus' Kirchenbegründung zu Plessners Sozialtheorie und dessen Fortsetzung in Luhmanns Systemtheorie ausführt. Der von Hobbes beschriebene tödliche Kampf, ja Krieg um Anerkennung durch den anderen, der auch Rousseaus gute Natur vernichtet, läß sich nicht aufheben, sondern bedarf der mäßigenden Bindung durch Gesetze: Darüber ist sich auch Kant in seinem eher skeptischen Einsatz für einen Weltfrieden bewußt.

    Safranski geht es nicht darum, die Meinung der Philosophen als Verfechter des Guten gegen einen Abgrund des Unheils anzuführen, sondern immer wieder auch die Faszination des Denkens duch das Böse aufzuzeigen. Es geht die Faszination des Schreckens als Überschreitung einer Ordnung, als Entgrenzung, die Philosophen wie Dichter und Künstler spüren:

    "Es kommt ihnen auf den ekstatischen Augenblick an, auf keinen Fall wollen sie ihr Leben und ihre Kunst so einrichten, daß sie für etwas gut sind. Das Prinzip der Nützlichkeit ist für sie der Horror." (244)

    Safranskis in der Vermittlung komplizierter Denkfiguren kunstvoll geübtes Spiel mit der Sprache zeigt hier allerdings seine Schwächen. Nicht nur, daß der Anschluß mancher Argumentation ans Leitmotiv des Bösen etwas unfreiwillig Kalauerhaftes bekommt: Es bleibt auch generell unklar, was der Autor eigentlich unter Bösem versteht. Der modische Jargonbegriff vom Horror wird ebensowenig differenziert, wie Safranski zu bedenken gibt, daß er sich bei seinen Autoren in mehreren Sprachräumen bewegt. Gerade bei den Ausführungen zur griechischen Philosophie wird dies zu einem schmerzhaften Mangel, da hier sicherlich nicht der christliche Begriff des Bösen wiederzufinden ist.

    Überhaupt befremdet Safranskis Umgang mit Geschichte, die er in seinem munteren Herumspringen zwischen den Epochen zu leugnen scheint. Platon ist ihm ebenso unmittelbarer Gesprächspartner wie Nietzsche oder Freud. Dabei werden die Problemstellungen auch oft zu persönlichen Angelegenheiten und man spürt die Hand des Biographen in einer allerdings in weltanschaulicher Hinsicht unangenehmen Weise. Besonders peinlich wird dies im Kapitel über Hitler, das mit seiner Parallele zwischen dem großen Diktator und dämonischen Figuren aus Hoffmanns Erzählungen wieder den Eindruck vermittelt, es habe sich bei den faschistischen Greueln um die kollektive Suggestion einer individuellen Obsession gehandelt. Hier wäre dem Verfasser sicherlich der in letzter Zeit materialreich aufgearbeitete Vergleich mit Stalin zugute gekommen. Immerhin erinnert er mit Max Weber daran, daß der nationalsozialistische Holocaust auch Effekt der modernen "industriellen Gesellschaftsmaschine" (271) war. Warum allerdings nicht alle modernen Industrienationen faschistisch geworden sind, bleibt offen. Hier wäre eine Vertiefung in die reichhaltige Literatur zur massenpsychologischen Struktur des Faschismus und seine Zuspitzung manichäistischer Dualismen angezeigt gewesen.

    Am Ende wird Safranski aber selbst bewußt, daß er sich um eine Antwort auf beide Fragen, nämlich was das Böse, aber auch was Freiheit sei, auf über 300 Seiten eigentlich herumgeschrieben hat. Die Situation ähnelt frappant einer bekannten deutschen Literatur-Talkshow, die mit den Worten zu enden pflegt: "den Vorhang zu und alle Fragen offen!"

    Ahnungsvoll raunend wird dieses eher bescheidene Ergebnis mit der Erhabenheit des Gegenstandes entschuldigt. Mit großer vieldeutiger Geste heißt es:

    "Die menschliche Freiheit bleibt rätselhaft. Das Denken der Menschheit ist nie davon losgekommen. Die philosophischen Systeme, die Religion, die Moral - das gibt es, weil die menschliche Freiheit erfinderisch ist und zugleich einen Halt braucht, als Selbstbindung." (328)

    So ganz ohne Botschaft will der Autor aber seinen Leser doch nicht entlassen. So wird dann - immerhin stehen wir ja kurz vor einem Jahrtausendende - ein bedrohtes "heute" beschworen, in dem der Spielraum der Freiheit "wirklich" vor dem technisch-wissenschaftlichen Determinismus verschwindet. Und als wäre er der Erfinder der ökologischen Zivilisationskritik, gibt Safranski zu bedenken, ob wir nicht erst noch begreifen müßten, daß wir uns mit der Logik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation auf Strukturen und Kräfte beziehen, deren wir nicht mehr Herr sind, "auch wenn sie sich nur durch unsere Aktivität manifestieren."

    Oh heilig Einfalt! Hätte Safranski doch die stilistische Größe des von ihm so bewunderten E.T.A. Hoffmann besessen und sich als Herausgeber eines von ihm gefundenen alten Manuskriptes aus dem 19. Jahrhundert fingiert! So aber muß man sich ernsthaft fragen, was der Autor von dieser technisch-wissenschaftlichen Zivilisation wirklich mitbekommt, die sich im Zeitalter der digitalen Informationsverarbeitung längst von der kontingenten Schnittstelle Mensch verabschiedet hat. Hier rächt sich sein völlig unhistorisches Surfen im Internet abendländischer Geistesgrößen, die sein Denken auf der Ebene von Goethes Zauberlehrling stehen bleiben läßt. Allerdings bei einer naiven Lesart, die schon Walter Benjamin mit seiner Einsicht in die fortschreitende kapitalistische Entfesselung der Produktivkräfte entkräftet hat. Diese stünden nämlich nicht wie eine Maschine still, wenn der Mensch sich von ihnen abwendete, sondern würden ihn anfallen wie ein Raubtier, dem der Dompteur den Rücken zukehrt.

    Aber Safranski ist und bleibt echter Aufklärer alten Schrots und Korns, weshalb ihm als allerletzte Pointe nichts besseres einfällt als Kants "Pflicht zur Zuversicht": nicht aus tieferem Vertrauen in die Macht der Vernunft oder aus höherer Einsicht in die Dialektik eines mit der Gefahr wachsenden Rettenden, sondern aus selbsterhaltendem Kalkül eines "als ob":

    "Sie ist der kleine Lichtkegel inmitten der Dunkelheit, aus der man kommt und in die man geht. Eingedenk des Bösen, das man tut und das einem angetan werden kann, kann man immerhin versuchen, so zu handeln, als ob ein Gott oder unsere eigene Natur es gut mit uns gemeint hätten." (330)

    Das ist protestantische Seichtigkeit, die es bei einem Gott als bloß regulativer Denkgröße bewenden läßt, um wenigstens den Schein zu wahren. Nietzsche hätte hier zurecht "schlechte Luft!" gerufen, und in der Tat wirkt die moralinsüße Abschlußformel wie ein schlechter Scherz angesichts des aufgerissenen Horizontes eines Dramas der Freiheit und dessen aktueller historischer Eskalationen. Safranski tut der Philosophie damit einen Bärendienst und läßt durch die populäre Leichtverdaulichkeit die Anstrengung des Begriffs zur gemütlichen Teestunde mit Kleingebäck verkommen. Um zu dem eingangs erwähnten Modell der Pralinenschachtel zurückzukommen: Was uns hier geboten wird ist Philosophie light, ein Genuß garantiert ohne Reue, weil mit Zuckersurrogaten. Zumindest damit liegt der Autor voll im Trend der Zeit, aber auch mit dem dadurch bewirkten Effekt: Die nicht satt machende Übersättigung mit "Als-ob"-Ersatzstoffen macht Lust, so richtig böse zu sein und auf Pflicht und Zuversicht zu pfeifen. Angesichts der Moral von der Geschichte fragt man sich nämlich wie der von Safranski zitierte böse Besucher der Don Giovanni Aufführung in Hoffmanns Anekdote: "Und was nützt uns das?"

    Der Zuschauer der täglichen Werbung für die Light-Produkte unserer Lebensmittelindustrie weiß, was mit denen passiert, die auf schwerer Kost beharren: sie brechen ein. Und auch Safranski wird in dieser Zuversicht frei nach Mozarts Oper abgrundtief böse:

    "Bleibt nur die Hoffnung, daß der ‘steinerne Gast' bei seinem Erscheinen am Ende der Oper auch solche Nachbarn mit in den Orkus reißt." (231)