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"Das deutsche Unternehmenswesen hat kriminelles Kapital aus Italien immer mit großer Leichtigkeit aufgenommen"

Der Mafia-Experte und Buchautor Roberto Saviano hat die deutschen Strafverfolgungsbehörden davor gewarnt, die Mafia als rein süditalienisches Problem zu behandeln. Auch nach den Morden von Duisburg gebe es in der deutschen Öffentlichkeit eine "große Naivität". Dabei seien diese Verbrecherorganisationen längst in Deutschland und Europa tätig.

Von Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben, wieso interessieren Sie sich für die Camorra und das organisierte Verbrechen?

    Roberto Saviano: Ich bin im Gebiet der Camorra geboren und aufgewachsen. Ich habe mich also nicht irgendwann entschieden, mich damit zu beschäftigen, ich wurde in die europäische Gegend mit der höchsten Mordrate hineingeboren. Seit meiner Geburt wurden dort mehr als 3700 Menschen ermordet.

    Heinemann: Wie haben Sie sich die Welt der Camorra erschlossen?

    Saviano: Auf zwei Ebenen: Einerseits habe ich den grausamsten Teil dieser Arbeit selbst erlitten - die Ermordeten. Menschen, die mir nahe standen wurden erschossen. Ich denke in diesem Augenblick an Federico del Prete, der 2001 in Casal di Principe umgebracht wurde, weil er eine Vereinigung gegen die Mafia gegründet hat. Das war der Ausgangspunk. Ich habe mich dann mit dem weitaus wichtigeren wirtschaftlichen Aspekt beschäftigt. Der wahre Mafiaboss ist heute Unternehmer. Er betrachtet sich und seine Familie als Unternehmen. Er benutzt das legale Wirtschaftsleben für illegale Geschäfte. In der Gegend, aus der ich stamme, arbeiten die Clans in der Textilbranche, der Zementherstellung, im Transportwesen und nur in zweiter Linie im Kokaingeschäft.

    Heinemann: Sind die neapolitanische Camorra und die Ndrangheta in Kalabrien heute gefährlicher als die sizilianische Mafia?

    Saviano: Ohne Zweifel. Meine letzten Recherchen, die auf Informationen von Europol beruhen, haben ergeben, dass gerade in Deutschland diese beiden Organisationen zusammenarbeiten. Eine solche Zusammenarbeit gibt es sonst etwa im Hafen von Salerno, in Kampanien, dem wichtigsten Einfallstor für Kokain. In Deutschland ist dieses Zusammenarbeit enger. Die deutsche Polizei verfügt über Informationen über ein Treffen von Carmorra und Ndrangheta-Mitgliedern in der berühmten Kirche in Leipzig, der Kirche von Johann Sebastian Bach. Sie haben dort ihre jeweiligen Geschäfte voneinander abgegrenzt. Camorra und Ndrangheta sind gefährlicher, weil sie weniger bekannt sind. Die sizilianische Mafia hat einen gewaltigen Fehler begangen, als sie Untersuchungsrichter ermordete.

    Heinemann: Wie arbeiten Camorra und Ndrangheta heute in Deutschland?

    Saviano: Was mich in den letzten Tagen sehr beeindruckt hat, ist die große Naivität in der deutschen Öffentlichkeit. Aus der Perspektive dessen, der in meiner Gegend aufgewachsen ist, war Deutschland immer ein Gebiet, das es zu erobern galt. Das deutsche Unternehmenswesen hat kriminelles Kapital aus Italien immer mit großer Leichtigkeit aufgenommen. Das bestätigen übrigens die Anti-Mafia-Ermittler in Neapel und Reggio Calabria. In der Textilbranche gibt es Hinweise auf Geschäfte in Berlin und Bonn. Ein Clan ist im Textilgeschäft in Chemnitz aktiv. Ostdeutschland ist sehr stark mit Kapital der Ndrangheta und der Camorra überschwemmt. Hier kann Deutschland sehr viel tun. Das Mafia-Problem muss endlich als europäisches und nicht als süditalienisches behandelt werden.

    Heinemann: Was sollten die deutschen Behörden tun?

    Saviano: Die deutschen Behörden arbeiten am besten mit den italienischen Ermittlern zusammen. Anders als England und Spanien. In Spanien war die Zugehörigkeit zu einer Mafia-Organisation bis zum Jahr 2000 nicht strafbar, in England ist sie es bis heute nicht. Deshalb leben in England heute Mafiabosse, die nicht ausgeliefert werden. Die Deutschen arbeiten zwar mit den italienischen Behörden zusammen, aber sie meinen immer noch, es handele sich um ein italienisches Problem. Und es gibt immer noch die Haltung: Mafiosi sind diejenigen, die schießen. Aber so funktioniert das nicht. In den Ländern, in denen diese Organisationen investieren, vergießen sie nur im Notfall Blut. Der Krieg wird im Herkunftsland geführt, dort, wo sie verwurzelt sind, also etwa in der Umgebung von Neapel. In Deutschland hat sich allerdings etwas verändert. Dort ist inzwischen soviel Kapital im Umlauf, dass Deutschland inzwischen als "Territorium" bezeichnet wird und das bedeutet im Jargon der Mafia: ihr eigenes Gebiet.

    Heinemann: Wie wirbt die Camorra junge Leute an?

    Saviano: Die Camorra verschafft dir Ansehen, ein Gehalt und Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn du einen Laden führen kannst, bekommst du die Möglichkeit. Wenn in der Lage bist zu töten, wirst du Killer. Wenn du den Rauschgifthandel organisieren kannst, wirst du das tun. Du selbst kannst nichts entscheiden. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Gewissheit des Todes. Wer bei der Camorra mitmacht, weiß, dass er sterben wird. Ich habe Aussagen in meinem Buch wiedergegeben: junge Leute sagen: Mein Leben ist schon verloren. Sie fürchten weder den Tod noch hohe Gefängnisstrafen. Diese Gewissheit macht sie leider noch stärker.

    Heinemann: Diese Haltung erinnert an islamistische Terroristen.

    Saviano: Ja, unter den Militanten gibt es diese Haltung. Der Unterschied zwischen einem Jungen der Hamas und einem Camorrista oder einem Mitglied der Ndrangheta ist, er würde nie an etwas anderes glauben, als an das Geld. In Neapel werden Morde aus Gründen der Privatrache nicht geduldet. Es geht immer ums Geschäft. Aber es gibt keinen Unterschied in der Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern. Bei uns sagt man: Leben und Tod ist das gleiche. Es gibt viele solche Redensarten. Das gilt auch für das Gefängnis. Die Leute der Camorra sprechen fast beiläufig über die hohen Gefängnisstrafen, die sie erwarten. Diese Haltung erhöht leider die Wirkung ihrer "Geschäfte".

    Heinemann: Sie werden von Personenschützern bewacht. Die Camorra trachtet Ihnen nach dem Leben. Wie leben Sie mit dieser Bedrohung?

    Saviano: Sie haben mich verurteilt, weil mein Buch erfolgreich war, weil viele es in Italien gelesen haben. Die Camorra weiß, dass gelegentlich über sie berichtet wird. Aber sie rechnen damit, dass sich alles in Staub auflöst und das Interesse nachlässt. In meiner Kindheit durfte man die Namen der Bosse nicht aussprechen. Reden und Schreiben, Leser und Zuhörer sind neben den Carabinieri, die mich beschützen, meine wahre Verteidigung. Ich habe keine Angst. Solange ich reden kann, wird mir keiner etwas tun. Wenn ich das nicht mehr kann, werde ich vielleicht Angst bekommen.