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Das durchstoßene Herz

Am 28. August 1988 verursacht ein simpler Pilotenfehler eine der schlimmsten Katastrophen in der Geschichte der Flugschauen. Auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein sterben mindestens 70 Menschen. 450 werden durch das brennende Kerosin und umherfliegende Wrackteile zum Teil schwer verletzt. Für manche der Überlebenden endet diese Katastrophe nie. Wie eine solche Katastrophe zu einer Fehlprogrammierung im Gehirn führen kann, haben Forscher untersucht.

Von Kristin Raabe | 17.08.2008
    Guten Abend, meine Damen und Herren,
    Ein Flugtag auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein bei Kaiserslautern endete am Nachmittag mit einer Katastrophe.


    "Wir wollten ganz vorne an der Landebahn sein. Und das war insofern etwas schlecht gewesen, weil ich fotografieren sollte für meinen Sohn und dann hatte er entdeckt, dass in der Nähe ein Abfallcontainer stand, so ein großer trapezförmiger Abfallcontainer und da standen zwei Jungs drauf. Und da sagte ich, Markus, das ist ja prima, da gehen wir auch drauf. Und da sind wir dann drauf geklettert und das war wirklich der ideale Standpunkt, denn wir sahen das Flugfeld ein, hatten keine Köpfe und nichts vor uns, war somit ideal und hat letzten Endes uns auch das Leben gerettet dort."

    Kurz vor 16:00 Uhr beim letzten Flugmanöver passierte es dann: Drei Flugzeuge der italienischen Kunstflugstaffel Frecce Tricolori, zu Deutsch dreifarbige Pfeile, kollidierten als sie im Begegnungsflug haarscharf aneinander vorbeiflogen.

    "Da kam das Flugzeug auf uns zu, ich beobachtete dies und sah, dass es im Sinkflug direkt auf uns zu kam, und da habe ich ihn in den Arm genommen und mit unter die Schräge dieses Containers gerissen, als ich dann am Boden lag, hatte ich das Gefühl als würde jemand eine Badewanne voll Wasser über mir ausschütten und das war das brennende Kerosin, was auf mich runterkam und da lag ich am Boden und da dachte ich, jetzt stirbst du."

    Erste Bilanz des Schreckens: 30 Tote, einer wird von den umherfliegenden Wrackteilen regelrecht geköpft. Und mehrere 100 Verletzte vor allem durch das brennende Flugbenzin. Bei etwa 60 - so vorläufige Schätzungen - ist fraglich, ob sie ihre Verletzungen überleben werden.

    "Nach einer Weile dachte ich. Komm steh auf, es passiert ja nichts. Und als ich dann aufgestanden bin, und stand in der Nähe des Containers, da stellte ich fest, dass ich dort zu diesem Zeitpunkt der einzige war der lebte, ringsherum war alles tot und mein Sohn war weg, das Kind war weg."

    "Das durchstoßene Herz", so hieß die Flugfigur, die die italienische Kunstflugstaffel am 28. August 1988 bei der Flugschau auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Ramstein eigentlich vorführen wollte. Aber der Solopilot, der durch die Herzformation der anderen Flugzeuge hindurchfliegen sollte, war vier Sekunden zu früh gestartet. Dieser Fehler führte zur Kollision und in der Folge zum Tod von mindestens 70 Menschen. 450 zum Teil Schwerverletzte mussten in Kliniken im gesamten Bundesgebiet und im angrenzenden Frankreich versorgt werden. Klaus Karl Welsch ist einer von ihnen. 20 Prozent seiner Körperoberfläche sind verbrannt. Ein Wrackteil hat ihn zudem an der Hüfte verletzt und weggeschleudert. Aber die Schmerzen spürt er unmittelbar nach der Katastrophe noch nicht. Er sucht seinen damals 17jährigen Sohn. Während er umherirrt, fotografieren ihn immer wieder andere - unverletzte – Besucher der Flugschau. Keiner hilft. Auch nicht der US-Soldat, der an einer Absperrung steht, durch die der Schwerverletzte hindurch will, weil er hofft, dahinter endlich seinen Sohn zu finden. Anstatt den an Kopf, Rumpf und Armen verbrannten Mann zu einem Sanitätszelt zu führen, bedroht ihn der Soldat mehrmals mit seiner Waffe. Da ist Klaus Karl Welsch bereits einer Ohnmacht nahe. Als er nach vielen Irrwegen endlich an einer Rot-Kreuz-Station auf einer Trage liegt, ist selbst der Notarzt überfordert, er weiß nicht, wie er an den verbrannten Armen einen Zugang für die lebenswichtigen Infusionen legen soll. Klaus Karl Welsch, der 20 Jahre lang Rot-Kreuz-Helfer ausgebildet hat, gibt schließlich selbst die Anweisungen für seine Rettung. Welsch:

    "Als ich dann da versorgt war, dann hieß es, ja irgendwann kommt ein Fahrzeug und bringt Sie dann da ins Krankenhaus. Dann kam für mich eine ganz schlimme Zeit, denn ich lag dann da und es kam mir in den Sinn, was sage ich denn da, wenn jetzt meine Frau kommt und fragt ‚Wo ist das Kind?‘ Ich wusste nicht, wo er war, und irgendwann kam dann ein Fahrzeug. Da sehe ich dann, dass oben links, ist schon jemand drin in diesem Fahrzeug und mich hat man dann rechts reingehievt in dieses Fahrzeug. Als ich dann fest verzurrt war, da sagt dann der, der neben mir liegt ‚Und Vater, wie geht es Dir?‘ Das war mein Sohn."

    Es dauert Monate bis alle Verletzungen halbwegs verheilt sind. Aber noch heute muss Klaus Karl Welsch Kompressionshandschuhe tragen, damit er die Schmerzen an seinen nun vernarbten Händen überhaupt ertragen kann. Die Verletzungen, die die Katastrophe seiner Seele zugefügt hat, werden vermutlich nie heilen.

    "Im Frühjahr, ich bin vorm Haus vor der Gartenmauer und kehre dort den Bürgersteig, da kommen so zwei Düsenjäger, und ich merke gar nicht, was mit mir geschah eigentlich, sondern ich bin erst aufmerksam geworden, als ein Nachbar mit dem Auto vorbeikam und sagt, "Was ist denn los mit dir". Da lag ich am Boden eingekauert zusammengezuckt, und da merkte ich, ich bin in Deckung gegangen vor den Fliegern. Lag am Boden und da sagte ich: ‚Ist alles gut, fahr weiter.‘"

    Ramstein - das war vor 20 Jahren. Aber in das Leben von Klaus Karl Welsch bricht die Katastrophe täglich aufs Neue ein. Der Geruch von gebratenem Fleisch verursacht bei ihm Panikattacken, genau wie jedes Flugzeug, das vorbeifliegt. Der 60jährige hat alle Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.

    Kriegszitterer, Post-Vietnam Syndrom oder KZ-Syndrom - schon früh fiel Ärzten auf, dass Menschen, die eine Katastrophe überlebt hatten, auch Jahre später noch unter immer denselben Symptomen litten: Schlaflosigkeit, Alpträume und eine extreme Schreckhaftigkeit. Am meisten machen den Betroffenen die Flashbacks zu schaffen. Ein Geräusch, ein Geruch oder ein harmloses Bild kann sie wie eine Zeitmaschine wieder an den Ort der Katastrophe versetzen. Am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim untersucht Herta Flor schon seit Jahren Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung. Ihre Forschungen haben dazu beigetragen, dass Experten mittlerweile verstehen, welche Veränderungen ein Trauma im Gehirn bewirkt, und wie sie zu den auffälligen Symptomen führen. Flor:

    "Es wirkt sich auch aus auf den Umgang mit anderen Menschen, dass man sich zurückzieht, emotional distanziert wirkt. Also eigentlich eine ganze Reihe von Störungen, einschließlich auch, dass man sehr übererregt ist, sehr leicht nervös reagiert auf viele Ereignisse. Und wenn sich das eben sehr lange hinzieht über mehrere Monate, dann kann es eben eine langfristige Störung sein."


    Klaus Karl Welsch:

    "Wir sind auf den Bahnsteig, dass der Zug anrollt, dieses donnernde Geräusch, dieses dröhnende Geräusch ... Das ist ein Ungetüm, was auf mich zukommt. Da war es ganz schlimm, ich fing an zu schwitzen, ich fing an, hastig zu atmen, der Herzschlag, ich habe dann das Kind genommen und habe mich auf eine Bank gesetzt, weil mir richtig schlecht geworden ist. Und als der Zug eingefahren ist, sah ich mit offenen Augen, wie mein Enkelkind vom Zug überfahren wird, obwohl ich es auf dem Schoß hatte."


    Die posttraumatische Belastungsstörung hat es vermutlich schon zu allen Zeiten gegeben. Nach dem großen Feuer von London im Jahr 1666 beschreiben Überlebende in alten Tagebucheintragungen deutlich die Symptome. Im späten 19. Jahrhundert prägt der deutsche Psychiater Emil Kraepelin den Begriff der Schreckneurose. Später wird klar, dass sie ähnliche Symptome aufweist, wie die "Hysterie" vergewaltigter Frauen. Heute gilt die posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, als Angststörung. Erst seit den 80er Jahren wird sie systematisch erforscht. Es waren vor allem die Veteranen von Vietnam, Korea, Irak und Afghanistan, sowie die Opfer des 11. September und der Flugschaukatastrophe von Ramstein, die den Wissenschaftlern neue Erkenntnisse lieferten. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren wie der Kernspintomographie und ausgeklügelten Tierexperimenten konnten in den letzten drei Jahren nach und nach die Mechanismen entschlüsselt werden, die hinter der Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung stecken. Zu Beginn ist sie vermutlich nichts weiter als der Versuch des Organismus, eine Extremsituation zu überleben.
    Erst wenn die Angst den Verstand auch noch Monate, ja Jahre nach dem eigentlichen Unglück überwältigt, wird daraus eine Krankheit. Welsch:

    "Das ist oft so bei mir, dass ich rational gegen das Gefühl eigentlich ankämpfe, aber das Gefühl ist wesentlich stärker. Ich fahre irgendwohin und plötzlich ‚Ach, meine Frau stirbt, der geht es schlecht, ach, nein, das ist wieder dieser blöde Gedanke, und wenn es doch ist?‘ Das führt soweit, dass ich dann das Handy rausnehme, ruf zuhause an unter fadenscheinigen Vorwürfen, Habe ich was liegen lassen? Soll ich noch was einkaufen? Und wenn ich dann die Stimme höre, ist alles gut. Das Zusammenspiel funktioniert einfach nicht mehr richtig, was ist Fantasie und was ist real. Und da kämpfe ich oft täglich damit, mit solchen Gefühlen."


    Die Psychologen des Zentralinstituts für seelische Gesundheit haben einige Überlebende der Ramsteinkatastrophe gebeten, an einer Studie zur posttraumatischen Belastungsstörung teilzunehmen. Mit Hilfe eines Kernspintomographen, wollten sie herausfinden, wie selbst harmlose Reize zu massiven Angstreaktionen führen können. Dazu zeigten sie den Versuchspersonen einfache Abbildungen von einem Dreieck und einem Quadrat - und zwischendurch immer wieder Bilder von der Ramstein-Katastrophe und vom Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001. Klaus Karl Welsch war einer der Studienteilnehmer:

    "Im ersten Stück stellte ich fest, dass immer nach einem Dreieck diese schrecklichen Bilder kommen und dann musste man am Ende dieses ersten Durchgangs eine Bewertung abgeben, wie man sich fühlt, was man wahrgenommen hat, und welche Wahrscheinlichkeit man sieht, nach welcher Figur was kommt. Der zweite Step war so, dass das Bild nach dem Rechteck kommt und sie liegen dann in dem Kernspin und haben im Prinzip Angst, es kommt ein Rechteck oder ein Dreieck, weil sie schon wussten, OK, jetzt ist schon zweimal nach dem Dreieck kam das Bild und wenn das nächste Dreieck kommt, zucken sie schon zusammen, es könnte wieder kommen und dann kommt nichts und dann kommt es aber irgendwann wieder. Und beim dritten Versuch ist es dann gewesen, dass es beim Dreieck und beim Quadrat kam, beim Rechteck. Wiederum bei der Abgabe des Urteils ist es also so, dass man quasi beide verflucht, das Dreieck und das Rechteck."

    Die Teilnehmer, die nach Ramstein unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung litten, hatten schnell gelernt, vor den an sich harmlosen geometrischen Figuren Angst zu haben. Herta Flor:

    "Man kann also auch zeigen, dass solche Lernprozesse auch noch 14, 15 Jahre, nachdem man das Trauma erlebt hat, wirksam sind und dieses Traumaerlebnis auf eigentlich neutrale Dinge übertragen können und dadurch gibt es eben immer mehr Dinge im Leben, die man mit dem Trauma assoziiert, und es lässt einen nicht mehr los."

    Die Angst, die das traumatische Erlebnis ausgelöst hat, überträgt sich auch auf harmlose Alltagssituation und löst eine Schockreaktion aus. Flor:

    "Und was auch besonders interessant war an der Studie, dass nicht nur das Erlernen stärker war, sondern dass die Personen, die immer noch eine Angstreaktion hatten, die auch sehr schwer wieder verlernt haben."

    Die Unfähigkeit, die einmal erlernte Angstreaktion wieder zu verlernen, ist nach Ansicht von Herta Flor und vielen anderen Forschern der Kern einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Bilder aus den Kernspinuntersuchungen haben gezeigt, dass daran drei Hirngebiete beteiligt sind: Die so genannte Amygdala gehört zum Gefühlszentrum des Gehirns. Hier liegt das Furchtgedächtnis, das sich bewusst kaum steuern lässt. Im Hippocampus bildet sich dagegen das eigentliche Langzeitgedächtnis. Wenn die Amygdala für die unbewussten und emotionalen Anteile des Gedächtnisses steht, dann ist der Hippocampus das bewusste, rationale Faktengedächtnis. Die Balance zwischen Furcht- und Faktengedächtnis ist bei Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung durcheinandergeraten. Sie erleben starke Angstattacken, können sich aber an die Einzelheiten des erlebten Traumas oft nur schlecht erinnern. Das liegt womöglich daran, dass bei ihnen die Amygdala, also das Angstgedächtnis stärker aktiv ist und der Hippocampus, das Faktengedächtnis, auffällig klein und inaktiv ist. Ein Bereich im Vorderhirn, der präfrontale Cortex ist eine Art Kontrollinstanz. Beim Verlernen einer Angstreaktion dominiert er mit seiner Aktivität den Hippocampus und die Amygdala. Auf diese Weise leitet der präfrontale Cortex das Vergessen der Angst ein. Damit ist allerdings nicht das Verdrängen der Angst gemeint. Vielmehr geht es darum, das Erlebte richtig einzuordnen – beispielsweise als Teil der Vergangenheit, der in der Gegenwart keine Gefahr mehr darstellt. Herta Flor:


    "Vergessen ist nicht einfach, dass man etwas auslöschen kann, im Gehirn kann man nichts auslöschen, das bleibt alles da, man kann eigentlich nur das überschreiben, etwas Neues lernen, so dass Vergessen oder das Überschreiben eigentlich immer Neulernen ist."

    Während einer Katastrophe oder einer anderen traumatischen Erfahrung, erlernt das Gehirn eines Opfers eine Angstreaktion besonders effizient - beispielsweise, dass Flugzeuglärm Gefahr bedeutet und eine Fluchtreaktion erfordert. Später – wenn die eigentliche Gefahr gebannt ist – muss die zuvor erlernte Furchtgedächtnisspur wieder überschrieben werden. Neulernen bedeutet dann etwa, dass Flugzeuglärm im Alltag völlig ungefährlich ist. Bei Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung funktioniert das Überschreiben des während der traumatischen Erfahrung entstandenen Angstgedächtnisses nicht mehr. Die Mitarbeit an der Studie der Mannheimer Psychologen ist für Klaus Karl Welsch nicht immer einfach. Die Konfrontation mit den Bildern von Ramstein lassen die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung immer wieder aufbrechen. Als der Rentner von Mannheim zurück ins Saarland fährt, findet er sich urplötzlich an einem Straßenabschnitt wieder, den er gar nicht kennt. Welsch:

    "Man steht irgendwo und sagt, wie bin ich dahin gekommen? Weil die Gedanken mir geraubt worden sind durch irgendwelche Einflüsse. So ging es mir jetzt bei der Heimfahrt auch so. Wo man aufgeregt ist, durchgewühlt ist, also da muss ich sicherlich acht geben."

    Trotzdem will er unbedingt weiter an der Studie teilnehmen. Auf diese Weise kann er selbst dazu beitragen, dass die posttraumatische Belastungsstörung von Ärzten und Wissenschaftlern besser verstanden wird. Wie wenig Erfahrung selbst viele Therapeuten mit dieser Störung haben, erfährt Klaus Karl Welsch, als er vier Jahre nach der Katastrophe zum ersten Mal versucht, Hilfe für seine psychischen Probleme zu bekommen. Welsch:

    "Man wird abgestempelt als Simulant, die wenigsten glauben Ihnen das, was Sie erzählen. Und sie können mir glauben, wenn ich einen Arzt oder einen Psychotherapeut finde, der mir das abnimmt - Ich hatte Gutachten, damit ich in Rente gehen konnte. Die erste Gutachterin hat ein vernichtendes Urteil geschrieben, also quasi, ich bilde mir das alles ein, ich will mit Gewalt irgendwohin."

    Wenn eine posttraumatische Belastungsstörung rechtzeitig erkannt wird, dann lässt sie sich gut behandeln. Gemeinsam mit einem erfahrenen Therapeuten arbeiten die Patienten daran, ihre gelernte Angstreaktion zu überschreiben. Sie visualisieren das Trauma in einer sicheren Umgebung und lernen dabei ihre Erinnerungen richtig einzuordnen – als Teil ihrer Vergangenheit, die sie im Hier und Jetzt nicht mehr bedroht. Unmittelbar nach der Katastrophe kann das erneute Durchleben des Traumas schädlich sein. Aber einige Wochen später sollte die therapeutische Arbeit unbedingt einsetzen. Vergehen Monate und Jahre, wird die psychische Störung chronisch. Zu der Angst kommen dann noch andere fehlgeleitete Gefühle hinzu: Wut angesichts der erlebten Ohnmacht und bei sexueller Gewalt auch Scham und Ekel. Dann entstehen zusätzliche psychische Störungen. Depressionen beispielsweise, und auch bis zu 65 Prozent der Borderline-Patienten haben ein Kindheitstrauma durchlebt. Um die ständige Anspannung auszuhalten, greifen viele zur Flasche oder anderen Drogen. Für solche schweren Fälle gibt es bislang kaum eine Therapie. Mit einem dreimonatigen stationären Therapieprogramm will Martin Bohus am Zentralinstitut für seelische Gesundheit das jetzt ändern. Dabei verwendet er unter anderem Achtsamkeitstechniken, die aus dem Zen stammen. Bohus:

    "Achtsamkeit ist schlicht und einfach eine gerichtete Aufmerksamkeit auf sämtliche Informationen, die im Moment entstehen. Unsere Patienten trainieren das zwanzig Minuten pro Tag. Das sind zum Teil geleitete Übungen, zum Teil selbstständige Übungen, je nach dem, man kann auf den Atem fokussieren, man kann auf Geräusche von außen fokussieren. Das üben die, die ersten Erfolge gehen so nach drei Wochen. Dann lernen die Patienten, OK, ich bin in der Lage auch heftigste Emotionen auszuhalten."

    Solange wie sie sich auf einen Punkt im Raum, den Atem oder ein Geräusch konzentrieren, können ihre Emotionen sie nicht überrollen. Aber natürlich lässt irgendwann die Konzentration nach und die Gedanken schwirren wieder herum. Dann ist die Aufgabenstellung, wieder zurück zu dem Punkt, dem Geräusch oder dem Atem zu gehen. Nach und nach lernen die Patienten so, dass Gedanken und Gefühle keine Realität sind, sondern lediglich Produkte ihres Gehirns. Ein anderer Teil des Therapieprogramms ist das so genannte Skilltraining. Dabei bringen die Therapeuten den Patienten Fertigkeiten zur Stressbewältigung bei. Bohus:

    "Wenn der Stress so intensiv ist, dass ich anfange zu dissoziieren, oder anfange ganz starken Druck zu entwickeln, mich zu verletzen, oder Alkohol einzunehmen, Medikamente einzunehmen oder ähnliche Dinge zu machen, dann muss ich lernen, was für Techniken ich einsetzen kann, um diese intensive Anspannung runterzuregulieren. Das ist nicht schwierig, im Endeffekt geht es darum, starken sensorischen Input zu gewährleisten. Starker sensorischer Input ist zum Beispiel Schmerz. Also die Patienten nehmen Eiswürfel in den Mund. Fächern sich Ammoniak zu. Rollen mit den nackten Fußsohlen über so Holzrohre oder steigen auf Legosteine. Es ist immer das gleiche Prinzip, dem Hirn wird die Information gegeben, Achtung etwas ganz Wichtiges passiert gerade von außen. Und dann findet eine Umorientierung statt und dann ist es meistens so, dass dieser ganz starke Anspannungszustand oder dissoziative Phänomene unterbrochen werden können."

    Alle Patienten in dieser Studie haben schwerste Traumata erlitten, viele bereits in frühester Kindheit sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie erfahren. Im Schnitt leiden sie seit zwölf Jahren an einer chronischen Posttraumatischen Belastungsstörung. Einige haben Selbstmordversuche und Drogenmissbrauch hinter sich. Da ist die Erfolgsquote dieses Therapiekonzeptes schon relativ hoch: Bei 50 bis 60 Prozent der so behandelten Patienten verbessern sich die Symptome nach drei Monaten. Bohus:

    "Das heißt, sie haben keine Albträume mehr, sie haben keine Flashbacks mehr und sie meiden nicht mehr die Trigger. Das bedeutet noch nicht, dass sie eine vernünftige Sexualität haben und das bedeutet noch nicht, dass sie einen Partner haben, der sie nicht behandelt, als ob sie dauernd krank wären. Das bedeutet noch nicht, dass sie jetzt einen Arbeitsplatz haben, wo sie jeden Tag hingehen können, wenn sie vorher nicht gearbeitet haben, das ist nach drei Monaten nicht bewerkstelligbar. Nach drei Monaten haben wir die Kernproblematik soweit im Griff, dass die Patienten anfangen können, die Sekundärproblematik draußen mit ihren Therapeuten zu bearbeiten."

    Nach langem Suchen hat auch Klaus Karl Welsch eine Therapeutin gefunden, die Verständnis für seine psychische Krankheit hatte. Welsch:

    "Das waren einfach Gespräche, die wir geführt hatten, und das Wichtigste war, dass man es mir abgenommen hat und hat dann nach Möglichkeiten und Wegen zu finden, wie ich mich von gewissen Gedanken befreien kann und hat dann festgestellt, ich sage es jetzt mal salopp so: Die Festplatte hat so einen tiefen Kratzer, der geht nicht mehr los, da bleibt die Platte immer hängen und das hat man mir auch bestätigt."

    Inzwischen macht der 60jährige gar keine Therapie mehr. "Sich durchwurschteln" nennt er die Methode, mit der er versucht, seinen Alltag zu bewältigen. Welsch:

    "Man hat mir in der Kur und bei Untersuchungen mehrfach bestätigt, Herr Welsch, Sie sind ein Meister im sich Verstellen, und da sage ich, ich weiß das. Ich trage Dinge mit mir aus, warum soll ich andere damit belasten."

    Ramstein liegt zwanzig Jahre zurück. Und inzwischen haben Wissenschaftler viel darüber gelernt, wie Menschen Traumata verarbeiten. Ihr Ziel ist es nun vorherzusagen, wer von den Überlebenden einer Katastrophe später eine behandlungsbedürftige posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Denn anscheinend gibt es eine Gruppe von Menschen, die nahezu unverwundbar erscheint. Sie überstehen massivste Traumata ohne bleibende Schäden. Das ergab beispielsweise eine Studie mit Frauen, die ein KZ überlebt hatten. 29 Prozent dieser Frauen hatte keine körperlichen und psychischen Schäden davongetragen. Auch die Ramsteinkatastrophe haben einige der Brandverletzten psychisch unbeschadet überstanden. Bei den Studien der Mannheimer Forscher zeigten sie sich als besonders gut im Verlernen von Angst. Offenbar kann ihr Gehirn eine einmal erlernte Angstreaktion schnell neu überschreiben. Herta Flor:

    "Es gibt Leute, die vielleicht von Natur aus ein bisschen ängstlicher reagieren und andere die weniger ängstlich reagieren. Es hat auch etwas zu tun mit Lebenserfahrung, was man im Leben schon an Stress oder an negativen Dingen erlebt hat, jemand, der sehr negative Vorerfahrungen mit Stress hat und es nicht geschafft hat, mit solchen Situationen gut umzugehen, der ist da verletzlicher in so einer Situationen."

    Stresshormone können die Zellen im Hippocampus zerstören und wenn dieser Hirnteil nicht mehr so gut arbeitet, fällt es schwer ein traumatisches Erlebnis in den richtigen Kontext einzuordnen. Gleichzeitig aktivieren Stresshormone die Angstschaltkreise in der Amygdala. Und die Aktivität in dieser Hirnregion führt zusätzlich zu einer vermehrten Freisetzung von Stresshormonen. Stress und Angst bilden also ein System, das sich gegenseitig hochschaukelt und im Extremfall zum Absterben von Nervenzellen im Hippocampus führt. Wie gut ein Mensch Stress verarbeitet, entscheiden auch seine Gene – beispielsweise die Genvarianten bestimmter Stresshormonrezeptoren. Herta Flor hat bei jungen Rettungsassistenten in der Ausbildung solche genetischen Variationen untersucht. In dieser Berufsgruppe treten posttraumatische Belastungsstörung besonders häufig auf. Flor:

    "Wir haben zum Beispiel auch gefunden, dass jemand, der sehr viel Stress erlebt hat in seinem Leben, der zum Beispiel sehr häufig in Kliniken war oder misshandelt worden ist oder schlimme Lebensereignisse hinter sich hat wie Trennung von Vater, Mutter und so weiter, dass das Personen sind, die auch etwas anfälliger sind und auch etwas stärker emotional in so einer Situation reagieren. So dass es wie bei vielen Dingen sowohl Gene sind als auch das, was wir schon erlebt haben in unserem Leben, was uns dann empfindlicher macht oder auch weniger empfindlich macht gegenüber solchen Stresssituationen."

    Noch ist kaum einer der Rettungsassistenten an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt. Wenn die Studie in einigen Jahren abgeschlossen ist, kann Herta Flor hoffentlich diejenigen Rettungsassistenten sicher identifizieren, für die dieser Beruf ein hohes psychologisches Risiko darstellt. Sollte in einigen Jahren dann doch einer der Sanitäter nach einem Trauma eine Belastungsstörung entwickeln, gibt es vielleicht schon wirksame Medikamente. Das so genannte Neuropeptid-S-System ist ein System von Botenstoffen und Rezeptoren, das erst seit etwa vier Jahren überhaupt bekannt ist. Christian Pape von der Universitätsklinik Münster hat das Neuropeptid-S-System an Versuchstieren untersucht und konnte zeigen, wie es die Angst beeinflusst. Offenbar beschleunigt der Botenstoff Neuropeptid S, das Verlernen von Angst. Pape:

    "Eine hochspezifische Wirkung in unserem Gehirn. Darüber hinaus wissen wir durch Untersuchungen von unserem Kollegen aus San Diego, dass es eine Genvariante gibt, die ist gerade im letzten Jahr publiziert worden, des entsprechenden Rezeptors für den Rezeptor und das beim Vorliegen einer bestimmten Variante des Neuropeptid-S-Rezeptors chronische Angst in den Patienten, in männlichen Patienten insbesondere, auftritt."

    Wenn das Neuropeptid S-System nicht richtig arbeitet, funktioniert das Verlernen der Angst nicht mehr und sie wird chronisch. Umgekehrt könnte ein Wirkstoff, der dieses System im Gehirn stärkt, das Verlernen der Angst beschleunigen. Ein solches Medikament erscheint in Reichweite und könnte die Psychotherapie der posttraumatischen Belastungsstörung unterstützen.

    Am 28. August 2008 jährt sich das Ramstein-Unglück zum 20. mal. Klaus Karl Welsch hat nicht vor, die Gedenkfeierlichkeiten zu besuchen.

    "Der Jahrestag spielt eigentlich keine Rolle, ich erlebe das so oft im Alltag drin, da spielt der Jahrestag eigentlich keine Rolle. Ich weiß von anderen, die zu diesem Tag hin – irgendwie geht es denen zunehmend schlechter. Den Tag vergesse ich nicht, ich merke auch Tage zuvor, dass ich zunehmend angespannter bin, und an dem Tag dann geht es mir etwas schlechter als sonst, das gebe ich schon zu. Man muss den Alltag ja bewältigen, man kämpft dagegen an, es gelingt aber in den seltensten Fällen."

    Vor einigen Jahren kam zu einer anderen Gedenkfeier auch der Bruder des Piloten, der beim Formationsflug die Kollision ausgelöst hatte. Ihn wollte Klaus Karl Welsch unbedingt kennenlernen.

    "Dann erzählte ich ihm ganz kurz, was mir passiert war, und sagte ihm dann aber, dass es mir auch leid tut, dass sein Bruder umgekommen ist und dass er mir das abnehmen soll und solle doch bitte auch seinem Vater sagen, dass ich da Anteilnahme habe und Mitleid für das, was passiert ist. Denn ich gehe nicht davon aus und kann davon auch gar nicht ausgehen, dass er sich umbringen wollte, noch uns verletzen wollte und andere dabei getötet hat, sondern dass ihn auch nur das Schicksal getroffen hat und er auch Schwierigkeiten und Probleme hatte, wie wir anderen auch, also die Familie, denn der Pilot ist ja tot. Da stand er auf, hatte Tränen in den Augen, kam quer durch den Saal umarmte mich und wir lagen uns in den Armen drin. Das muss man sehen, der Mann konnte nichts dafür, der Pilot."