Archiv


Das Ende der polnischen Welt

Im äußersten Osten Polens und quasi am Ende der polnischen Welt liegt der einzige Tieflandurwald, den es in Europa noch gibt, der Bialowieza Nationalpark. Hier trifft man den Wisent an, das größte Landsäugetier Europas: Im ersten Weltkrieg in den Wäldern Europas ausgerottet, doch seit den fünfziger Jahren nachgezüchtet und ist er jetzt wieder ein natürlicher Waldbewohner das Weltnaturerbes.

Von Gabi Schlag und Benno Wenz |
    Hinter Morze im äußersten Osten Polens, die ersten Pferderfuhrwerke, die ersten Holzhäuser mit rosenumrankten Zäunen und die ersten Zwiebeltürme der orthodoxen russischen Kirchen. Auf der Bank vor dem Haus Großväterchen und Großmütterchen, wie einem polnischen Volksmärchen entstiegen.

    Und hinter dem Städtchen Hainowka fängt er tatsächlich an, der Tieflandurwald. Die Straße ist schmal, der Bus, der mindestens 50 Jahre auf dem Buckel hat, ist nicht zu überholen. Ab jetzt regiert der Wisent, der König des Waldes. Wisentbier, Wisentwodka, Wisentdenkmäler und geschnitzte Wisentköpfe an fast jedem Eingangstor. Schwer und grün und dicht ragen die Blätter bis tief in die Straße hinein, bilden indem sie sich mehrfach überlagern, ein dichtes grünes Dach über der schmalen Straße, auf der zwei Autos schwerlich aneinander vorbeikönnen. Am Ende der Straße liegt Bialowieza, das Ende der polnischen Welt und damit der Anfang des einzigen Tieflandurwaldes, den es in Europa noch gibt, dem Bialowieza Nationalpark. Das Städtchen Bialowieza träumt verschlafen vor sich hin, ein große Platz mit einem einzigen Autobus, und eine lange Straße mit entzückenden Holzhäusern, die mittlerweile alle mit großen Lettern Gästezimmer anbieten. Doch uns interessiert zuerst mal der Wisent, das größte Landsäugetier Europas, im ersten Weltkrieg in den Wäldern Europas ausgerottet, doch seit den fünfziger Jahren nachgezüchtet und jetzt wieder ein natürlicher Waldbewohner das Weltnaturerbes.

    Auch über dem Eingang zum Forschungszentrum für Säugetiere in Bialowieza hängt ein geschnitzter Wisentkopf. Wir treffen Christoph Niedzalkowsky, den Biologen und Koordinator des European Bison Projekts, das die Aussiedlung der Wisente im polnischen Urwald betreut.

    "Wir haben schon wieder 400 Wisente hier und wir hoffen, dass wir demnächst über 500 Tiere hier haben werden. 1957 haben wir mit vier Tieren angefangen."

    Christoph und die Säugetierökologin Ilona, haben bereits die Wanderstiefel angezogen und sich mit Peilsendern ausgestattet. Einige der Wisente sind mit Radiosendern versehen, damit die Biologen die Tiere auf dem 200 Hektar großen Gelände finden können. Los geht's - Wir gehen auf die Pirsch.

    Der Weg führt durch den alten Zarenpark. Die zauberhafte kleine russisch orthodoxe Kirche aus roten Klinkersteinen ist den Nichtgläubigen verschlossen, dafür ist der riesige im englischen Stil des 18. Jahrhunderts geschaffene Zarenpark für alle Besucher offen.

    Ilona ist selbst begeisterte Gärtnerin und vom Zarenpark und seinen verschiedenen Stimmungen in den wechselnden Jahreszeiten ganz verzaubert.

    "Der Zarenpark hat viele Bäume, die sind mehrere hundert Jahre alt. Der Zar ließ sie im englischen Stil anlegen...."

    Hier hatten die Zaren es einfach, sie gingen sozusagen vom Gebet direkt zur Jagd. Der Bialowiezaer Wald war schon immer das Jagdgebiet der polnischen Könige und der Zaren; denn hier konnten sie das größte europäische Säugetier jagen: den Wisent, den König des Waldes.

    Im Jahre 1752 ließ August III., Kurfürst von Sachsen und König von Polen, das Wild durch einen Tunnel direkt vor die Gewehrläufe der Adligen treiben.
    Grafen und Fürsten saßen auf dem Hochsitz und drückten nur noch ab: 57 Tiere, darunter 42 Wisente wurden erschossen.

    Die Jagd auf den Wisent war dem Adel vorbehalten und ein Deutscher hatte dafür zu sorgen, dass auch genügend Wisente zum Abschuss für die Hochwohlgeborenen zur Verfügung standen. Der deutsche Förster Hans von Auer hatte es im 19. Jahrhundert hier zum Jagdaufseher gebracht. Seine Einstellung zum Adel war allerdings eher skeptisch und er hielt nicht damit hinter dem Berg, dass er die adeligen Herrschaften am liebsten von hinten sah:

    "Das Schlimmste für uns war aber, dass der damalige Chef des Fortskorps Graf C. selbst kommen und die Jagd übernehmen wollte. Heftig und aufbrausend bis zur Unmöglichkeit und nie den leisesten Widerspruch duldend, verstand er von der Jagd so viel wie wir von der Hofetikette, und so hatten wir armen Waldteufel das volle Maß seiner Launen auszubaden. Vor weiterer Schinderei bewahrte uns die gnädige Herablassung des Großfürsten, der den überhitzigen Herrn beiseite nahm und ihm sagte: lassen sie die Leute nur machen, die können das schon."

    Wir haben den Zarenpark verlassen und folgen dem kleinen Feldweg, an dessen Ende bereits das riesige Hölzerne Eingangstor zum letzten Tieflandurwald Europas zu erkennen ist. Doch die Felder sind verwildert und nicht bestellt. Die Bauern haben Angst vor dem Wisent, so dicht am Nationalpark und die meisten nutzen ihre Felder nicht mehr

    "Da ist auf einmal ein Wisent unter den Kühen und die Bauern wissen nicht, was sie tun sollen. Ist er gefährlich, können sie ihn vertreiben? Es ist nicht so einfach mit so einem riesigen Tier in der Nachbarschaft zu leben."

    Wir gehen durch das große Holztor und betreten das Reich des Waldes, des letzten Tierlandurwald Europas.

    Grün, geheimnisvoll und undurchdringlich liegt das Biosphärenreservat und Weltnaturerbe im äußersten Osten Polens. 50 m hoch ragen uralte Baumriesen, Ulmen, Fichten, Ahorn, jahrhunderte alte Linden wachsen in den Himmel. Schwarzspechte bessern ihre Höhlen aus. Sonnenstrahlen dringen durch das Laubgeflecht und zaubern ein zartes Licht ins grüne Dickicht. Das Unterholz riecht nach Moos und Farn, Bartflechten schaukeln von den Zweigen, Baumpilze überwachsen die Stämme.

    "Hier kann man sehen, warum es im Mittelalter so schwer war, zu reisen. Es gab keine Straßen, überall umgestürzte Baume und dichte Vegetation. Das hier ist wie ein Dschungel, da kommt man nicht leicht durch, aber Tiere können sich gut verstecken."

    Und von denen gibt es viele. Die Weiten des Bialowieza National Parks in Polen bieten Schutz für Tausende Arten, die einmal ganz selbstverständlich in Europa heimisch waren. Sogar Schwarzstörche soll es hier geben. Noch nie hat eines Menschen Hand hier eingegriffen, die Natur geht ungestört ihren Gang. Der letzte Tieflandurwald Europas ist eine Schatzkammer der Biodiversität.

    Ilona und Kristof haben eine Wisent-Spur gefunden.

    "Wir haben 19 Tiere mit Peilsendern ausgestattet und beobachten ihre Wanderbewegungen und ihre Interaktion mit dem Wald, wie weit bewegen sie sich auseinander ...."

    Das Signal wird stärker, und da endlich stehen sie, die großen schwarzbraunen Tiere, die an die ersten Höhlenmalereien erinnern. Bis zu zwanzig Tiere umfasst eine Herde, doch die Wisente sind sehr scheu.

    Zurück in Bialowieza kehren wir im zünftigen Gasthof Zarskoje ein. Die Wanderstiefel ziehen wir aus und kühlen die Füße unter dem Brunnen im Hof.
    Ein kühles Lomza Bier und Pelmenie, kleine mit Waldpilzen gefüllte Teigtaschen in frischem Schmand. Eine Weißrussische Spezialität, hier merkt man den Einfluss der russischen Nachbarn.

    Die Mittagsruhe ist vorüber und scheinbar alle Schulklassen Polens ziehen an uns vorüber. Wo wollen sie hin?

    Natürlich ins Museum. Das Natur und Wald Museum von Bialowieza ist ein unbedingtes Muss für alle Polnischen Kinder.

    Das Museum gibt einen Einblick in das Leben im Wald und zwar angeblich auf täuschend echte Weise. Von außen kann man dem eher sozialistisch anmutenden Bau keine Besonderheit anmerken. Doch die Neugier treibt uns trotzdem ins Foyer. An der Kasse treffen wir Lukazs mit Designerbrille und schwarzen Marlon Brando Jeans. Lukasz ist Student in Byalystok und arbeitet in den Ferien als Museumsführer. Er merkt sofort, dass wir aus Deutschland kommen und bietet höchstpersönlich Führung an.

    Die Schwarzen Türen öffnen sich und wir stehen mitten in einer dunklen Waldnacht bis Lukasz das gigantische Lichtprogramm entfacht - über die Morgenröte bis zur Dämmerung kann er alle Lichtstimmungen des Waldes nachahmen, so dass die Täuschung fast perfekt ist. Rehe mit Kälbern, Wildschweine, Dachse, Schneehasen, alle Tiere des letzten Tieflandurwaldes sind hier naturgetreu nachgebildet. Ein Hirsch, der im Sprung von zwei Wölfen gerissen wird, ein Biberbau und alle neun Spechtarten sind zu hören, multimedial.

    Lukasz ist stolz: dieses Museum ist zum Anziehungspunkt für ganz Polen geworden. Und sein Heimatstädtchen Bialowieza ist auch in. Bald wird es zum Anziehungspunkt für ganz Europa werden.

    "Früher fuhren hier nur Pferdegespanne, und wenn mal ein Auto kam, war das was ganz Besondereres, heute fahren alle Auto und wenn sich mal ein Pferdefuhrwerk verirrt, dann schauen alle hinterher."

    Lukas studiert Anglistik in Byalystok, weiter gereist ist er noch nie, doch sein Englisch ist spitze und außerdem gibt es ja auch in Bialowieza Internet.
    Lukasz ist wie viele polnische Jugendliche aufgeschlossen und fröhlich, cosmopolitisch und weltgewandt. Polen verändert sich, die Wirtschaft boomt, die Welt zu Gast in Polen.

    Es wird Abend in Bialowieza und wir sitzen auf der Bank vor dem Haus mit den Rosenranken, trinken ein Glas Wiborowka mit dem Hausherrn und hoffen, dass der Massentourismus Bialowieza niemals finden wird.