Die Dorfstraße von Varennes-Jarcy, eine Gemeinde 40 Kilometer östlich von Paris. Das Haus von Jean-Pierre Verney steht kurz vor dem Ortsausgangsschild. Grüner Pullover, grauer Haarkranz, freundlich blickende Augen. Verney bittet ins Haus, nimmt auf dem Sofa Platz. Bücher, Zeitschriften, Dokumente liegen herum, 14/18. Alles hat in Supir begonnen, wo genau ist das?
"Supir ist ein ganz kleines Dorf auf dem Chemin des Dames."
Nordfrankreich, ein Höhenzug zwischen Soissons und Reims.
"Und 1917 war dort das Hauptquartier von General Pétain während der Schlacht des Chemin des Dames."
Die Großeltern väterlicherseits lebten dort. Verney, Jahrgang 1946, spielt als Kind in den Ferien dort, wo einst der Krieg tobte, sieht Jahrzehnte nach der Schlacht die Pilger des Krieges kommen und gehen.
"In diesem Dorf gab es einen Pilgerstopp, halb Restaurant ,halb Herberge, und die früheren Kämpfer verbrachten dort die Nächte, bevor sie ins Gelände gingen, um auf dem ehemaligen Schlachtfeld Eindrücke zu sammeln, nach Gräbern von Freunden zu suchen. Ich war drei, vier, fünf Jahre alt. Ich sah sie ins Dorf kommen und morgens ins Gelände ziehen. Das auch Jahrzehnte nach dem Krieg noch gekennzeichnet war, überall noch Granaten, Stacheldraht, das war noch Schlachtfeld … ich traf sie, sah sie, und habe sie nie wieder verlassen."
Sammler, Experte, Historiker
Erst Eindrücke, dann Gegenstände, Dokumente: Jean-Pierre Verney wird zum Sammler, zum Experten, zum Historiker der eigenen Art. Mag er es, wenn die Zeitungen ihn als einen bezeichnen, der "verrückt nach den Geschichten der Poilus" ist?
"Ich mag diese Bezeichnung ganz und gar nicht! Nein, ich bin kein ‚Poilus-Verrückter‘. Ich bin eher wie ein Bauer, der seit 50 Jahren stur eine Furche zieht! Um zu verstehen, um die Dinge bekannt zu machen, die Allgemeinheit teilhaben zu lassen, an dem, was ich erlebt, gesehen habe."
Als er 22 ist, erfährt Verney, dass die Mutter seiner Mutter Deutsche war.
"Sie war in dem Teil Deutschlands geboren worden, der 1919 polnisch wurde."
Der Großvater ist russischer Pole.
"Das ist wichtig. Ich glaube an die genetische Herkunft, meine slawischen Wurzeln sind von Bedeutung, ich bin Slawe, ich habe diesen preußischen Teil in mir. Das alles hat mich dazu gebracht, mehr über diese Tragödie wissen zu wollen."
Jedes Teil erzählt eine persönliche Geschichte
Verney, der Franzose mit polnischen, russischen, deutschen Wurzeln, zieht schon als junger Mann über Märkte, wandert die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges ab, nicht nur die in Frankreich, sammelt Zehntausende von Dokumenten und Gegenständen, wird in den 80er-Jahren vom Veteranenministerium zum Sonderbeauftragten ernannt, verfasst Bücher, organisiert Ausstellungen, in Frankreich, Russland, Serbien, Italien, den USA.
"Ich werde oft gefragt, welcher Gegenstand mir der wichtigste ist. Alle haben mir geholfen, zu verstehen, die Schmerzen, die Freuden, das Leid, die Trauer, die Verbrüderungen, die Freundschaften nachzuempfinden. Das war meine Art der Annäherung, jenseits von Universitäten. Die Universitäten haben die Zeugen und Zeugnisse ja beiseitegeschoben, ich habe es gerade umgekehrt gemacht."
Der Wohn- und Arbeitsraum ist gut gefüllt, aber nicht überladen. Der Blick fällt in den Garten. Wie haben Sie das gemacht? All die Gegenstände, all die Jahre, was hat Ihre Frau gesagt?
"Fragen Sie sie! Nein, ich weiß es auch nicht recht. Im Museum von Meaux sind von mir jetzt knapp 4.000 Objekte, 300 Dokumente und in Reserve haben wir 20.000 weitere Objekte und 30.000 Dokumente. Aber es sah alles so aus wie jetzt. Da hing kein Stahlhelm an der Wand oder so. Es war alles in Kartons, sortiert, vor Licht, Mäusen und Wasser geschützt und ich habe damit gearbeitet, Ausstellungen organisiert, das war kein totes Material."
"Unsere Gesellschaften sind fragil"
Eine Zigarettenschachtel mit persönlichen Notizen eines Soldaten sei ihm wichtiger als eine Offiziersmedaille.
"Jedes Einzelteil erzählt sein kleines Detail, seine Geschichte, Trauer, Leid, auch Freude."
Verney beugt sich nach vorne.
"Verstehen, das ist schwierig. Ich erinnere mich, eines Tages putzte mein Großvater seine Zähne und plötzlich musste er sich übergeben. In seinem Wasserkrug lag eine tote Maus. Ich habe gefragt und er sagte: ‚Das hat mich an die Ratten erinnert, die meine toten Kameraden gefressen haben.‘ Welche Diskrepanz zwischen uns, die wir uns singend vor dem Spiegel die Zähne putzen, und ihm. Man muss aus seiner heutigen Welt treten, um zu verstehen, was war. Vergessen wir auch heute nicht, unsere Gesellschaften sind fragil, überall dort, wo es an Dialog fehlt, wo Angst voreinander herrscht, das kann alles schnell kippen."
Eine Produktion des Deutschlandfunk 2014