Es ist Mittag und relativ ruhig im Laden. Stewen Vangheluwe steht hinter der Verkaufstheke und telefoniert. In der Vitrine vor ihm türmen sich belgische Pralinen - aus Nougat, mit weißer Schokolade überzogen oder Mandelsplittern verziert. Auf einem Beistelltisch liegen kleine Plastiktütchen mit quietschbunten Bonbons. "Hemelrijk" hat er seinen Laden mitten im Stadtzentrum von Ypern genannt. "Himmelreich".
Stewen Vangheluwe steuert ein Regal im hinteren Bereich des kleinen Ladenlokals an.
"Einer unserer Bestseller ist diese Schokolade hier, belgische Schokolade natürlich. Die verkaufen wir in einer Blechdose, auf der verschiedene Postkartenmotive aus dem Ersten Weltkrieg abgebildet sind. Soldaten, das Menen-Tor oder die zerstörte Tuchhalle. Inzwischen sind ziemlich viele Weltkriegsprodukte auf dem Markt, da ist es gut, etwas Besonderes zu haben."
Und je mehr Zeit vergeht, je länger der Krieg vorüber ist, erzählt er, desto mehr interessieren sich die Menschen für den Krieg. Das kann Grietje de Groote nur bestätigen. Ihr Tabak- und Souvenirladen "Tommy’s" liegt gleich nebenan. Sie deutet auf die Becher, Gläser, T-Shirts und Magnete, die sie verkauft – mit Mohnblumen, dem Konterfei englischer Soldaten oder dem berühmten Gedicht "In Flanders Fields".
"Ich muss jedes Jahr eine neue Kollektion haben, weil die Leute ja immer wieder kommen, um die Stadt und die Umgebung zu besichtigen. Also brauche ich neue Souvenirs, sonst kommen sie nicht wieder zu mir in den Laden."
Vor allem Briten ziehe es auf die ehemaligen Schlachtfelder in Flandern, erzählt sie, viele auf den Spuren ihrer Vorfahren, die hier an der Front gefallen sind. Auch Australier, Neuseeländer und Franzosen kämen häufig. Und Japaner. Und Türken. Eigentlich, sagt Grietje de Groote, kommen sie aus der ganzen Welt in die kleine flämische Stadt, die unvermittelt eines der großen Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges wurde und die nach dem Krieg in Trümmern lag. Auch die Tuchhalle, nur wenige Meter von den beiden Läden entfernt, wurde damals zerstört. Heute beherbergt sie das "In Flanders Fields Museum".
"Die Gegend hier war nach dem Krieg ein ‚Waste Land‘, wie es in dem Gedicht von T.S. Elliott heißt. Ein wüstes Land", erzählt Museumskoordinator Piet Chielens in seinem Büro im Erdgeschoss des eindrucksvollen Gebäudes.
"Und es hat lange gedauert, bis sie sich davon erholt hat; ökonomisch gesehen hinkte die Gegend hier lange hinterher, was das Durchschnittseinkommen betrifft zum Beispiel um 20 bis 30 Prozent, und das bis in die 1980er-Jahre."
Fast ebenso lange hatten die Bewohner Yperns auch kein Interesse daran, die Relikte des Krieges zu konservieren, erinnert sich Chielens, der hier groß geworden ist. Sie wollten die Narben des Krieges verschwinden lassen und ihr Leben zurück.
"Andererseits teilen wir unsere Geschichte mit vielen Nationen in der ganzen Welt – ob uns das gefällt oder nicht, das ist unsere historische Verpflichtung. Der Erste Weltkrieg ist hier allgegenwärtig, Teil einer jeden Existenz."
Schokolade mit Weltkriegsmotiven
Und das spaltet die Stadt in gewisser Weise bis heute, schiebt Piet Chielens nachdenklich hinterher und fährt sich durch den grauen Bart. Die einen finden, in den "Weltkriegstourismus" werde zu viel Geld gesteckt, die anderen leben genau davon. Hunderte Jobs hängen davon ab, dass Menschen aus aller Welt nach Flandern kommen, um das Museum, die ehemaligen Schützengräben und die Soldatenfriedhöfe zu besichtigen und davon, dass sie ihr Geld hier auszugeben.
Auch Stewen Vangheluwe lebt zu einem großen Teil vom Tourismus, von den Kunden, die bei ihm Poppy-Bonbons und Schokolade mit Weltkriegsmotiven kaufen. Doch der Erste Weltkrieg ist nicht nur Teil seiner finanziellen Existenz. Er wurde in Ypern geboren, wie schon sein Vater und sein Großvater. Und auch wenn seine Familie vor dem Krieg geflohen sei, habe dieser seine Spuren hinterlassen.
"Haben Sie noch Zeit? Dann hole ich kurz was", sagt er und verschwindet im hinteren Teil des Ladens, in die Wohnung. Zurück kommt er mit zwei Fundstücken.
"Mein Großvater war Bauer und hat das vor Jahren auf seinem Acker gefunden. Das ist ein Fernrohr, aus dem Jahr 1917. Und das andere ist etwas größer, das ist die Patrone einer Kanone, hergestellt in Karlsruhe. Manchmal finden Bauern noch heute Überreste aus dem Krieg, die sind natürlich lange nicht mehr so gut erhalten."
Auch Grietje de Groote, die Ladennachbarin, profitiert von der Geschichte und betont doch, dass die Erinnerung an den Krieg für sie mehr sei als nur ein Geschäft. Dass es ihr nicht nur darum geht, Tassen und T-Shirts zu verkaufen.
"Ich mache jeden Tag in der Mittagspause einen Spaziergang um den Festungswall, da habe ich Zeit nachzudenken. Das ist gut. Und ich denke viel nach. Denn von meinem Laden aus höre ich jeden Abend auch den "Last Post", die Hornklänge des Gefallenensaluts. Und dann stehe ich auch ein paar Minuten still da und lasse die Vergangenheit Revue passieren."
Eine Produktion des Deutschlandfunk 2014