Das Sterben lässt sich nur von außen beobachten, und diesen Anblick meiden wir, weil er uns mit einer so schrecklichen Hilflosigkeit erfüllt. Trost spenden allenfalls Nahtodberichte, die besagen, dass der Vorgang für den Sterbenden weniger schlimm sei, als er dem Zuschauer erscheint. Seinen Essay verfasste der Journalist und Publizist Florian Felix Weyh ursprünglich 2006. Nach Pandemieerfahrungen ist er wieder hochaktuell.
Diese Sendung wurde erstmals am 5. Juni 2006 ausgestrahlt.
Was auf die einsame Insel mitnehmen, damit es nie langweilig wird? Wie wäre es mit „Die Dinge des Lebens“, dem Essay-, Hörspiel- und Featureprogramm für den Sommer? In 13 Kapiteln geht es hier um alle großen Lebens-Themen: um Kindheit, Liebe, Drogen, Familie, Sex, Reisen und zuletzt auch um den Tod. Um Anfänge und Abschiede. Und um alles, was dazwischen passiert. „Die Dinge des Lebens“ ist eine Sendereihe in Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur von Anfang Juli bis Ende September 2023.
Ich mag sie. Sie ist eine Großtante meiner Frau … nein, das trifft es nicht. Die verwirrenden Verhältnisse in modernen Patchworkfamilien haben uns Johanna zugeführt. Als ich sie kennenlernte, strahlte sie eine selbstbewusste, fast trotzige Autonomie aus. Gewiss, einmal, vor einem halben Jahrhundert, hatte sie sich elterlichem Druck gebeugt und ihren Lebensgefährten geheiratet. Sie musste ihm von Berlin in die tiefste pfälzische Provinz folgen, wo sie sich als Schuhverkäuferin im Laden des Gatten versuchte, obwohl sie eigentlich härtere Kundschaft gewohnt war, sie, die Jugendfürsorgerin aus der Großstadt. Die Ehe scheiterte rasch, und als einziges Andenken an diese Zeit blieb ihr der fremde Nachname. Johanna legte ihn zwar nie wieder ab, lebte aber fortan selbstbestimmt in Berlin, nahm Heimkinder in Pflege, was ihr nicht in jedem Fall entgolten wurde und einmal sogar gründlich schief ging. Auf dem Jugendamt muss sie in ihrer Direktheit und Unerschrockenheit eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein. Ihr ganzes Leben war Energie. Das änderte sich auch nach der Pensionierung nicht, denn zu ihren großen Leidenschaften zählt der Sport: Skifahren, Schwimmen, Bergsteigen. Bis hoch in ihre 70er hinein hat sie immer kräftig mitgetan bei den Naturfreunden. Dass sie mit ihrem Motorboot noch als weißhaarige, wilde Alte regelmäßig Strafzettel wegen Geschwindigkeits-überschreitungen kassierte, erzählt sie mit Trotz und etwas kindlichem Stolz in der Stimme. Sie ist halt schnell, immer gewesen. Sie hasst Stagnation, Stillstand, beengte Verhältnisse. Kurzum: Johanna könnte in guten Tagen Modell gestanden haben für die jüngsten Werbekampagnen der expandierenden Altersprodukte-Industrie. Eine Vorbild-Alte, wie wir Jüngeren sie uns wünschen. Wenn in den nächsten Jahrzehnten das Bild der Gesellschaft schon vom Alter geprägt sein soll, dann bitteschön in dieser agilen, niemandem einen Schreck einjagenden Form.
Doch nun macht Johannas Körper nicht mehr mit. Es begann mit einer harmlosen Altersdiabetes, die beherrschbar wäre, würde Johanna ein disziplinierteres Leben führen. Als nächstes versagten die Knie, erst das rechte, dann das linke. Eine Operation half Schmerzen lindern, brachte aber nicht wie erhofft die alte Mobilität zurück. Immer deutlicher schrumpfte der Radius ihres Lebens auf 70 Quadratmeter, denn ihre Altbauwohnung im vierten Stock verwandelte sich in ein Zimmer mit Aussicht, doch ohne Bewegung. Das Sportboot, das sommers wie winters Liegeplatzgebühren verschlingt, vermag sie nicht zu verkaufen, obwohl sie seit drei Jahren nicht mehr damit gefahren ist; zu Kapitulationen solcher Art verstand sie sich ein Leben lang nicht. Kurz vor ihrem 80. Geburtstag kollabierte sie. In der Klinik stellte man astronomische Blutzuckerwerte fest; seither kommt zweimal täglich jemand vorbei, um ihr Insulin zu spritzen. Lästig findet sie das, überflüssig obendrein. Dabei ist es ein Minimum an Betreuung, dem deutlich mehr folgen müsste.
Weil ich sie mag, stehe ich ebenso ratlos wie all die anderen, die sie mögen – und das sind nicht wenige –, vor der Frage, ob fürsorgliche Gedanken autoritär sein dürfen. Gewiss hat sich Johanna diese Frage als Jugendfürsorgerin mehr als einmal gestellt. Durch die juristische Unmündigkeit ihrer Schützlinge war die Antwort jedoch vorgegeben: ja, natürlich! Erwachsenen Menschen hingegen kann man nichts befehlen. Sie leben, wie sie es wünschen, und selbst wenn sie offenen Auges einem möglicherweise unschönen Ende zustreben, drückt sich darin der freie Wille aus. Sie zu drängeln, zu lenken, zu erweichen, sich wenigstens in Gedanken mit einer altersgemäßen Veränderung der Lebensumstände zu befassen, erscheint ungebührlich. Jeder entscheidet, ob und wann er sich mit seinem Ende beschäftigt ... oder sich von ihm überraschen lässt.
„Ich wurde zwischen elf und zwölf Uhr mittags am letzten Tag des Februars eintausendfünfhundertdreiunddreißig nach unsrer jetzigen Zeitrechnung geboren, in der das Jahr mit dem Januar beginnt. Es sind gerade erst vierzehn Tage her, dass ich mein neununddreißigtes Jahr zurückgelegt habe, und mir stehn also noch mindestens ebenso viele zu; es wäre daher Narretei, mich jetzt schon mit Grübeleien über eine so ferne Sache wie den Tod abzumühn.“
Diese Worte sind weltberühmt. Der Seigneur Michel de Montaigne schrieb sie 1533 auf dem Château de Montaigne nieder und begründete damit jene literarische Gattung, die sich am besten eignet, über die Sterblichkeit nachzudenken: den Essay. Ich, in diesem Juni des Jahres zweitausendnullhundertundsechs, bin nun 43 und habe, gemessen an der Lebenserwartung meiner Geburtskohorte, den Zenit überschritten. Seit etlichen Jahren liegt weniger vor mir als hinter mir. Auch wenn mir der selbstbewusste Gestus eines Montaigne abgeht, der darauf beharrt, ihm stünde noch einmal so viel Leben zu, wie er bereits genossen hat, erscheint es mir tatsächlich grotesk, mich mit einer derart fernen Sache wie dem Tod zu beschäftigen. Meine kleine Tochter, die eben erst die Schwelle zum Leben überschritt, lenkt den Blick der Familie auf eine weit ausgedehnte, schier unerschöpfliche Zukunft. Gewiss, das war schon immer ein elterlicher Trick, die Lebenszeit der Kinder aufs eigene Konto zu buchen. Wenn ich hingegen ehrlich zu mir bin – und Erlebnisse wie mit Johanna drängen dazu –, dann weiß ich sehr wohl, dass ich mich nicht mehr auf dem Aufstieg, sondern bereits auf dem Abstieg befinde. Abstiege können schön sein, etwa beim Bergwandern. Der Weg hinunter verspricht eine geruhsame Heimkehr, die erschöpften Beine ausstrecken und einen tiefen Schlaf genießen zu können. Wäre da nicht der letzte Abschnitt. Noch ist man nicht angekommen, doch die Kräfte schwinden. Das Wetter wird schlechter, es beginnt zu regnen, die Trittsicherheit lässt nach, und plötzlich rutscht man aus. Statt selbst den Weg nach Hause zu wählen, schliddert man zu Tal, zieht sich Blessuren zu und muss sich zu schlechter Letzt von Helfern bergen lassen. Eigentlich war es ganz anders gedacht gewesen. Heimkehr ist immer etwas Ruhiges, fern jenes Blaulichtalarms, der Rettungsaktionen begleitet.
„Ich beendete kürzlich mein siebenundfünfzigstes Lebensjahr und fühle mich im Gemüt behaglicher als bisher. Dem Übel und Schmerz konnte ich nie viel wirkliche Bedeutung beimessen. Wenn aber jetzt meine Frau vielleicht sagte, die Geschwulst an deiner Schulter ist Krebs, würde ich ihr entgegnen: Und wenn das schon so wäre –?“
Noch ein junger Altersphilosoph, dessen Gelassenheit uns provokant erscheinen mag. Wie kann man mit 57 schon innerlich mit dem Leben abgeschlossen haben und einer zum Tode führenden Krankheit angstfrei entgegen blicken? Als Ralph Waldo Emerson diese Zeilen 1860 in sein Tagebuch schrieb, befand sich seine Selbsteinschätzung, nunmehr im letzten Abschnitt angekommen zu sein, durchaus im Einklang mit den Tatsachen. Statistisch gesehen blieb ihm nicht mehr allzu viel Lebenszeit, so wie, statistisch gesehen, auch der 39-jährige Michel de Montaigne im ausklingenden Mittelalter viele seiner Zeitgenossen bereits überlebt hatte. Die Provokation der Emersonschen Sätze liegt jedoch nicht nur im heute jung erscheinenden Alter des Philosophen. Es ist dieselbe Provokation, die die Analogie zwischen Bergwanderung und Lebenslauf, Heimkehr und Tod bereithält. Heimkehr nämlich, wie sie uns am Ende einer Wanderung erwartet und die letzten Schritte anspornt, kann der moderne Mensch nicht mehr erhoffen. Er kehrt nicht heim im Tod, sondern er verpufft, verliert sich im Tanz der entschwirrenden Moleküle, wird annihiliert. Für den philosophierenden Christen Emerson, der sein Priesteramt wegen etlicher Glaubenskonflikte niederlegte, doch deshalb nicht weniger fromm wurde, gab es noch ein Ende in Gott, das nicht Auflösung bedeutete. Und weil hinter den Qualen des Sterbens etwas Kommendes lag, konnte er sie als Begleitumstände einer Passage begreifen, nicht als furchtbar endgültigen Abschluss. Und Sterben ist wirklich nicht schön, beileibe nicht:
„Ich habe nur selten Würde beim Sterben erlebt. Das Bemühen um Würde scheitert, wenn der Körper uns im Stich lässt. In seltenen, sogar höchst seltenen Fällen mögen einmalige Umstände dafür sorgen, dass ein Mensch mit ausgeprägter Persönlichkeit sein Leben in Würde beschließt. Dass so viele günstige Faktoren zusammenkommen, ist jedoch ungewöhnlich und darf nur bei sehr wenigen Menschen erwartet werden.“
Wir müssen sterben. Alle. Und wir wissen nicht, wie das geht. Keiner. Das Sterben lässt sich nur von außen beobachten, und diesen Anblick meiden wir, weil er uns mit einer so schrecklichen Hilflosigkeit erfüllt. Trost spenden allenfalls Nahtodberichte, die besagen, dass der Vorgang für den Sterbenden weniger schlimm sei, als er dem Zuschauer erscheint. Doch auf diese Berichte ist kein Verlass. Sie sind so invalide wie schriftstellerische Sterbedeutungen, vielleicht sogar ihrerseits volkstümliche Dichtungen. Faktisch können wir nur auf die nüchternen Außenbeobachtungen von Ärzten zurückgreifen, wie auf die hier zitierten Zeilen des Pathologen Sherwin B. Nuland, der vor zwölf Jahren mit seinem akribischen Beschreibungsbuch Wie wir sterben großes Aufsehen erregte.
„Das Sterben ist in erster Linie ein ästhetisches Problem, und zwar für diejenigen, die weiterleben müssen.“
Das sind nicht Nulands Worte, obwohl er sie unterschreiben würde. Es sind die Worte eines Betroffenen. Peter Noll starb. Er wusste, dass er starb, er hatte es sogar billigend in Kauf genommen. Die Operation seines von den Ärzten als inoperabel eingestuften Blasentumors lehnte er ab – Zeitverlängerung bei zweifelhafter Lebensqualität. Stattdessen schrieb sich der Schweizer Staatsrechtler und Publizist zum Tode vor. Notierte, wann immer und so lange er konnte, all seine Regungen, Beobachtungen, Gedanken. Ersparte sich nichts, und uns nichts, den Lesern, Überlebenden, Nachgeborenen. Seine Diktate über Sterben und Tod sind eine Furchtlektüre. Und doch: Man muss sie lesen. Man muss.
„Der Sterbende sieht hässlich aus, so ganz anders, als man ihn früher kannte. Der Sterbende leidet nicht darunter, er reckt sich nicht mehr vor dem Spiegel, doch sein Anblick schreckt die anderen. Wenn er nur tot wäre, dann wäre die Sache wieder klar, die Angelegenheit schnell erledigt. Der Sterbende aber führt den Tod vor, der Krebskranke tut es über längere Zeit, zuletzt als lebende Leiche, und das ist ästhetisch – für die meist gezwungenen Zuschauer – schwer zu ertragen. Die Zuschauer erleben ein ganz anderes Sterben und einen ganz anderen Tod als der Schauspieler. Das muss ich mir merken. Gegen Ende ist es für die Zuschauer nur noch eine Besichtigung, ekelerregend, erzwungen durch Freundschaft und Pietätsgefühle. Hat der Sterbende die Pflicht, diese Gefühle zu respektieren? MUSS er seine eigenen Reste wie Abfall noch sauber wegräumen?“
Peter Noll starb, wie seine Tochter überliefert, einen mehrtägigen, schwierigen, qualvollen Tod. Auch er wusste nicht, was ihn erwartete, obwohl er sich von den Ärzten vorab hatte schildern lassen, wie die Organe im finalen Stadium seiner Krebserkrankung kollabieren würden. Wissen schützt vor Erfahrung nicht. So wie Noll andere im Leben hatte abgehen sehen, konnte er daraus für seinen persönlichen Abgang dennoch nichts Verbindliches ableiten.
„Der lebende Mensch betrachtet den Sterbenden von hinten.“
… sagt der Soziologe Jean Ziegler. Von hinten, den anderen in eine Ungewissheit entlassend, die keiner kennt, von der aber alle gewiss sein können, dass sie eine allgemeingültige Ungewissheit darstellt. Schlimm daran ist weniger das Undenkbare des Todes als das, was ihm konkret vorausgeht. Den Tod als Abstraktum kann ich mir schön malen; die Phase davor nicht.
Der hoch betagte ungarische Dichter Sándor Márai will nicht mehr, als er diese zwei kurzen Sätze 1984 in seinem Tagebuch niederlegt. Er will den Tod, aber nicht das Sterben. Doch was sich auf dem Papier so leicht voneinander trennen lässt, stellt sich in der Realität als Lebensaufgabe im doppelten Wortsinn dar. Márai, der im amerikanischen Exil unbeachtet vor sich hin kümmert, strebt tatsächlich das irdische Ende an. Doch dazu braucht er Zeit.
„Ich will nicht sterben …“
… schreibt er zwei Jahre nach der ersten Notiz.
„… noch nicht. Aber ich habe den Revolver in den Nachttisch gelegt, damit er zur Hand ist, wenn ich sterben will.“
Der über 80 Jahre alte Greis hat sich bewaffnet. Mit unerbittlicher Disziplin übt er die Selbsttötung ein, ja absolviert bei der US-Polizei eine für Amateure angebotene Schießausbildung. Nun besitzt er zum Revolver auch die notwendige Bedienungskompetenz; dennoch verstreichen weitere drei Jahre. Sándor Márais letzte schriftliche Äußerung vom 15. Januar 1989 beschränkt sich auf drei lakonische Worte:
„Es ist Zeit.“
Ist es Zeit? Nein. Abermals verstreichen fünf Wochen. Am 22. Februar 1989 erschießt sich Sándor Márai in seinem 90. Lebensjahr. Aus diesem allerletzten Abschnitt gibt es keine Aufzeichnungen mehr. Fünf lange Wochen zwischen Entschluss und Exekution, 24 Stunden am Tag, 60 Minuten die Stunde – eine grausam überdehnte Vor-Sterbensphase, geboren aus dem Wunsch, das Sterben zu umgehen. Vielmehr: Es zu konzentrieren, die Gefilde des Todes über eine minimale zeitlicher Schwelle hinweg zu erreichen. Natürlich weiß jeder, der mit dem Freitod kokettiert, dass es einen Moment des Übertritts geben muss, doch mit dem Schuss, dem Sprung, dem Biss auf die Giftkapsel soll der nur Millisekunden dauern. Worauf wartet Sándor Márai dann fünf unendlich lange Wochen? Psychologisch scheint die Antwort klar: auf den Mut zur endgültigen Tat. Anthropologisch lässt sich auch anderes vermuten: auf sein natürliches Sterben. Er ist 90, es wäre an der Zeit, er will Freund Hein eine Chance geben … und dann noch eine … und noch eine ... und noch eine ...
„Die Wahrheit ist – aber es ist schwierig, das einem Jüngeren begreiflich zu machen –, dass der Abstieg ins Nirgendwo sehr lange dauert, länger als ich jemals gedacht hätte, und dass er langsam ist, so langsam, dass er kaum wahrnehmbar scheint (ich spüre ihn allerdings durchaus). Der Abstieg ist unaufhaltsam und, was schlimmer ist, unumkehrbar: du steigst jedes Mal nur eine kleine Stufe herab, aber sobald du den Fuß auf die tiefere Stufe gesetzt hast, weißt du, dass du nicht mehr auf die höhere zurückkehren wirst. Wie viele es noch sind, weiß ich nicht. Über eines jedoch herrscht kein Zweifel: es werden immer weniger.“
So aufrichtig, wie der hoch betagte italienische Philosoph Norberto Bobbio seinen letzten Abschnitt beschreibt, wird in der Literatur selten darüber berichtet. Denn es tut weh, sich schwindende Möglichkeiten und Kompetenzen einzugestehen:
„Wer in den letzten Lebensabschnitt eingetreten ist, macht eine Erfahrung, die ihn mal mehr, mal weniger erschrecken wird: Es ist der Gegensatz zwischen der Langsamkeit, zu der er gezwungen ist, wenn er seine tägliche Arbeit verrichtet, für deren Erledigung er eigentlich viel mehr Zeit zur Verfügung haben müsste, und dem unvermeidlichen Nahen des Endes. Der junge Mensch ist schneller und hat mehr Zeit vor sich. Der alte Mensch kommt nicht nur langsamer voran, auch die Zeit, die ihm noch bleibt, um die Arbeit, die er in Angriff genommen hat, zu Ende zu führen, wird immer knapper.“
Mir ist durchaus klar, warum ich mit 43 über den letzten Abschnitt schreibe, während Johanna mit 80 lieber nicht darüber nachdenkt. Die Schöpfer einer Ars moriendi, einer Kunst zu sterben, waren stets weit genug entfernt vom eigenen Tage X, um die nötige Gelassenheit aufzubringen. Mit seiner Schrift Vom Alter – De senectute gehörte der fast 90-jährige Bobbio zu den Ausnahmen unter den Sterblichkeitsphilosophen. Wir Jüngeren riskieren wenig. Über den letzten Abschnitt lässt sich trefflich räsonieren, so lange die praktischen Implikationen für einen selbst theoretisch bleiben. Das ändert sich mit abnehmender Zukunft. Voller Unbehagen erinnere ich mich der Worte eines 60-jährigen Kollegen, der mir nach einem Umzug mit galligem Humor mitteilte, er habe sich zu diesem Anlass sein Sterbebett gekauft. Betten benutzt man schon mal 20 Jahre, es ist nicht unwahrscheinlich, dass er Recht behalten wird. Aber mit 60 sein Sterbebett kaufen? Eine erschreckende Vorstellung, weit entfernt von aller „Zweiten-Frühlings“-Romantik, wie sie uns seit 30 Jahren vorgegaukelt wird, überreicht in einer semantischen Mogelpackung. 1974 erfand die SPD den „Berliner Seniorenplan“, und der geschmeidige Senioren-Terminus ersetzte in Politik und Werbung sofort den schroffen Begriff der „Alten“ mit den eindeutigen Bildern von Kraftlosigkeit, Krankheit und Verfall. Seither gibt es keine Alten mehr in unserem Leben, jedenfalls keine altersgemäßen Alten. So lange sie nicht sabbern, heißen sie Senioren, und wenn sie dement werden, verstecken wir sie in Heimen und machen so den letzten Abschnitt unsichtbar. Denn wie der Soziologe Gerd Göckenjan zutreffend feststellt:
„Ideen von alt und schwach oder alt und lebenssatt haben für niemanden projektiven Reiz.“
Das Problem ist, dass eine Projektion, die sich nicht mit der Wirklichkeit deckt, ein jähes Erwachen nach sich ziehen muss. Johannas Tragödie, als 80-Jährige von einem Monat auf den anderen unerwartet alt geworden zu sein, hat viel damit zu tun, dass sie als 75-Jährige zwar durchaus die Malaisen ihres Körpers spürte, aber kein Bild dafür besaß. Müsste man freilich bloß Bilder austauschen, gäbe es keine gravierenden Probleme mit dem letzten Abschnitt. Faktisch aber hat sich in nur 100 Jahren der Lebensabschnitt „Alter“ so dramatisch verändert, dass er sich nicht mehr in jenen Lebensbogen einfügt, der seit Menschengedenken vorgegeben war. Zwei Faktoren zeichnen dafür verantwortlich, der Fortschritt in Medizin, Hygiene und Ernährung und ein Rentensystem, das im Alter bei verordneter Untätigkeit den früheren Lebensstandard garantiert. Letzteres, mit dem Terminus „Ruhestand“ geadelt, ist geschichtlich beispiellos:
„Der Kultur der west- und mitteleuropäischen Gesellschaft war bis ins 19. Jahrhundert hinein der Ruhestand fast völlig fremd.“
… gibt der Historiker Peter Borscheid zu Protokoll.
„Geläufig war dagegen eine Reduzierung der Arbeit entsprechend dem Nachlassen der Körperkräfte oder als Folge partieller Invalidität.“
Ein solch gleitender Übergang hatte andere mentale Auswirkungen als der heutige, abrupte Übertritt vom Tätigsein in die Untätigkeit aufgrund bürokratisch gesetzter Altersgrenzen, die zudem auf dem Papier weitaus höher ausfallen als in der Realität. Für sein Auskommen muss er nichts tun, und sein Zeitreservoire in der Gegenwart ist schier unerschöpflich. Im Grunde hat er es sogar besser als in der Jugend. Einmal fallen die Bezüge viel höher aus als seinerzeit das magere Taschengeld, dann gibt es keine Bevormundung durch die Eltern mehr, und er muss auch keine Zukunftsvorsorge betreiben, weder materiell in Form von Sparsamkeit, noch immateriell als Bildungsanstrengung. Er ist zum Freizeitwesen geworden und handelt auch so. Wo Rente nicht an individuelle Morbidität geknüpft wird, sondern an allgemeinverbindliche Altersgrenzen, schwindet automatisch der Bezug zwischen individueller Lebensphase und sozioökonomischem Status. Die Zeichen, die den Menschen früher auf seine ablaufende Lebensuhr hinwiesen, sind heute unsichtbar:
„Das Fehlen von Frontzähnen und erst recht der vollständige Zahnverlust machen die Sprache unschön und schwer verständlich, daher wurden früher Höflinge und Beamte mit Publikumsverkehr wegen Zahnverlust vorzeitig pensioniert, auch Pfarrer ‚um Mümmelns willen‘.“
Was sich mit diesem medizinhistorischen Zitat von Horst Gravenkamp in Erinnerung rufen lässt, ist die Verschiebung von der Invalidenrente, die historisch den Ursprung aller Altersbezüge ausmacht, hin zum Ruhegeld heutiger Gestalt. Invalidenrente kompensiert körperliche Ausfälle – nur diese! –, ob durch Krankheit oder im Alter hervorgerufen. Ruhegelder sind voraussetzungslos und entstanden im Kern als Reaktion des Staates auf die Wirtschaftsentwicklung nach dem Ersten Weltkrieg. Gerd Göckenjan:
„Alter als Ruhestand ist eine historisch spezifische Lösung des Problems der Massenarbeitslosigkeit und der faktisch dauerhaft sinkenden Arbeitsmarktposition von Personen im höheren Alter seit den 1920er Jahren.“
Die integeren Motive der Politik, nicht von der Massenarbeitslosigkeit in die massenhafte Altersarmut hinübergleiten zu wollen, ändern nichts daran, dass die Besserstellung der alten Menschen Lebensentwürfe befördert hat, die nur auf den ersten Blick vorteilhaft erscheinen. Die entstandene zweite Jugend im Alter sprengt nämlich das biografische Kontinuum des Menschen und führt dazu, dass er im Kopf und in der Seele als Jugendlicher stirbt. Teleologisch arbeitet die Medizin darauf hin, ihn irgendwann auch mit jugendlichem Körper sterben zu lassen; vom faustischen Endziel der Unsterblichkeit hat man sich immerhin verabschiedet. Im Verbund von medizinischem Fortschritt, Anti-Aging-Programmen und Wellness-Angeboten verlängert sich die Phase des Nichtalt-Seins immer weiter. Dabei wäre etwas anderes mindestens ebenso dringlich wie die fortgesetzte Befindlichkeitssteigerung jenseits der 70. Neudeutsch ausgedrückt Aging statt Anti-Aging, ein Wechsel in den geistigen Modus zunächst der Altersgewissheit, dann der Altersweisheit, statt sich nur mit dem Aufschub äußerer Verfallssymptome zu befassen. Der eigene Lebensplan, empfiehlt der Historiker Arthur Imhof, habe die unermessliche Zeit des Ruhestands …
„… nicht in erster Linie auf Bauchhöhe zu platzieren, das heißt diese nicht nur für körperliche Belange zu nutzen, sondern auf Kopfhöhe.“
Ein aufgeschobener Verfall kommt dennoch als Verfall daher. Je später er einsetzt, desto verhärteter sind dann die Charakterstrukturen, auf die er trifft. Das muss nicht einmal der berüchtigte Altersstarrsinn sein. Es genügt, dass die „Umschwungsmöglichkeiten“, wie es der Kunsthistoriker Franz Roh einst nannte, die unsere Biografie offen und flexibel halten, beim alten Menschen schwach ausgeprägt sind. Eine Kraftfrage, denn jeder Umschwung fordert den ganzen Menschen, und vor dem Hintergrund eines langen Lebens kann das Umschwungspotenzial im Alter nicht mehr opulent sein. Aber natürlich macht es durchaus einen Unterschied, ob man mit 65, 70 oder gar erst mit 80 jene Veränderungen initiiert, die der zunehmenden Gebrechlichkeit Rechnung tragen.
Hätte Johanna lange vor ihren Kniebeschwerden die Wohnung im vierten Stock gegen ein Appartement zu ebener Erde getauscht, wäre der Umzug keineswegs mit dem Beginn des eigenen Sterbens assoziiert gewesen. Sie hätte sich sagen können, dass dieser biografische Umschwung nicht der letzte in ihrem Leben bleiben müsse. Jetzt, mit 80, lässt sich dieser Konnex kaum mehr leugnen. Mit 80 bedeutet jede Bewegung weg aus den vertrauten Verhältnissen einen aktiven Schritt aufs Grab zu. Lieber erstarren als sich bewegen! Freund Hein jagt den, der vor ihm wegläuft und verschont jene, die sich unauffällig wegducken. Der private Katechismus der Lebensverlängerung hat viele Tausend trügerische Seiten …
Wahrscheinlich klingt das alles überheblich. Ein 43-Jähriger kann keine Aussagen über finale Entscheidungen von 80-Jährigen treffen. Aber er darf durchaus etwas anderes behaupten: Ich als 43-Jähriger weiß es womöglich besser denn ich als 80‑Jähriger. Innerhalb der eigenen Biografie wächst die Lebenskompetenz zwar kontinuierlich, doch existiert ein Umkipppunkt, ab dem sie wieder schrumpft. Entscheidungen, die letzte Dinge berühren, sollte man vor diesem Punkt treffen. Selbstredend lässt er sich nicht exakt bestimmen, man vermag aber ein Sensorium dafür zu entwickeln. Als bester Indikator taugt der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit. So lange ich mich emotional unberührt, gleichsam theoretisch als sterblich denke (wie jetzt, in diesem Moment), bin ich weit entfernt vom Umkipppunkt. Registriere ich dagegen ein Unbehagen bei jeder Todesnachricht und beginne insgeheim, den zeitlichen Abstand zum jeweiligen Verstorbenen auszuzählen, nähere ich mich bereits seinen Gemarkungen. Kann ich die eigene Sterblichkeit nicht mehr denken, weil sie so manifest geworden ist, dass ich jedes gedankliche Aufflackern daran massiv verdrängen muss, habe ich den Punkt deutlich überschritten. Irgendwo in der Mitte zwischen letzteren Signalen liegt die Kehrtwende zwischen steigender und nachlassender Entscheidungskompetenz. Vielleicht äußert sie sich nur als unspektakuläres Verantwortungsgefühl, als moralischer Appell aus tieferen Bewusstseinsschichten: „Es ist Zeit, die Bedingungen deines Abgangs zu ordnen.“
Botho Strauß bringt es auf den Punkt:
„Das im Alter zunehmende Individuum wird in einer überalterten Gesellschaft eher eine Seltenheit sein. Ein perverser Konservativismus hält darauf, dass den 80‑Jährigen unverändert dasselbe bewegt wie den 35-Jährigen.“
Der 80-Jährige wird als Kunde vereinnahmt wie der 35-Jährige. Allein das schon verkennt die Aufgaben, vor die ihn sein letzter Lebensabschnitt stellt: Vertiefung, Abschluss, Resümee. Konsumieren bedeutet fortgesetzter Anfang, und in welchem Maßstab die Verhältnisse entglitten sind, lässt sich auf dem expandierenden Markt der Seniorentouristik beobachten. Früher waren Reisen im Alter eine Anknüpfung. Man besuchte Freunde, frischte Kontakte auf und erneuerte Beziehungen, die man während der Berufstätigkeit nur mühsam hatte pflegen können. Heute markiert jede Reise einen neuen Aufbruch: Mit 74 fliegt man nach Thailand, mit 75 nach Kuba, mit 76 nach Ägypten. Eine Kette ununterbrochener Anfänge, die keine Zeit zu irgendwelchen Vertiefungen lässt, weder die der neuen Eindrücke, noch die älterer Erlebnisse. Auch hier waltet wieder der fortgesetzte Jugendrhythmus, der zwanghaft nach Abwechslung ruft, um sich mit nichts ausgedehnt beschäftigen zu müssen. Trügerisch freilich, sagt Odo Marquard, sei auch die entgegengesetzte Hoffnung, man könne im Leben etwas zu Ende bringen:
„Auch das ist eine Illusion; denn wir sind alsbald ohne Rücksicht auf Vollendungen am Ende. Wir sind stets mehr unsere Endlichkeit, als unsere Vollendungen; unsere Mortalität besiegt unsere Finalität; unser Tod ist stärker als unsere tagtäglichen Teleologien, als unsere Lebensteleologie, als die Menschheitsteleologie. Justament das Alter macht das evident.“
Nein, man schafft keinen Abschluss, so oder so wird man zum falschen Zeitpunkt abberufen. Doch das ist die conditio humana des Menschen, der man nur gedanklich ein Schnippchen zu schlagen vermag, indem man das Unfertige vom Ende her betrachtet: Wäre der Weg, auf dem man sich befindet, wenn der Tod zuschlägt, richtig oder falsch gewesen? Mit Gewissheit lässt sich nur sagen, dass man die Richtung verloren hat, lässt man sich von der puerilen Gesellschaft am Nasenring kreuz und quer herumführen. Wer hingegen der eigenen Sterblichkeit wenigstens hin und wieder gedenkt, der genügt vielleicht nicht gleich dem Herderschen Diktum, es komme im Leben darauf an, den künftigen Engel in sich auszubilden. Doch schließt er vielleicht zur Altersweisheit Goethes auf:
„Der Greis (…) sieht, dass so vieles vom Zufall abzuhängen scheint: das Unvernünftige gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich unerwartet ins Gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist, der da war und der da sein wird.“