Einmal pro Woche fährt der Schriftsteller Sergio Del Molino von Saragossa nach Madrid. In der Hauptstadt sind die Verlage, bei denen seine Bücher erscheinen, und hier ist auch die bekannte Tageszeitung „El País“ ansässig, für die er als Kolumnist arbeitet. Doch eine komplette Rückkehr in seine Geburtsstadt kommt für den Mann mit dem wuscheligen Haar, dem Vollbart und der eckigen dunklen Brille nicht infrage. In Saragossa hat er für sich und seine Familie eine geräumige Wohnung gekauft.
„Es ist angenehmer hier als in Madrid. Die Stadt hat eine sehr humane Größe. Ich mag es außerdem, ein wenig Abstand zu haben von der kulturellen Welt und den kulturellen Kriegen in Madrid in diesem Exil und zugleich nicht weit entfernt zu sein.“
Knapp anderthalb Stunden braucht der Schnellzug für die 320 Kilometer lange Strecke von Saragossa nach Madrid. Wenn man aus dem Fenster schaut, bekommt man einen guten Eindruck von dem Spanien abseits der großen Metropolen und der dicht besiedelten Küstenregionen. Von diesem weithin kargen und entvölkerten Land erzählt Sergio Del Molino in seinem jetzt ins Deutsche übersetzten Buch, das ihn in Spanien berühmt gemacht hat. „Leeres Spanien“, so der prägnante Titel des 2016 im Original erschienenen Essays, wurde zu einem stehenden Begriff. Sein Erfinder, Sergio Del Molino, hat das spanische Hinterland ausgiebig erkundet.
„Als ich ein Reporter war und viel umhergereist bin in Spanien, habe ich damit begonnen, über die Landschaft, über diese Leere nachzudenken. Aber ich wollte nie ein journalistisches Buch schreiben. Ich war ein Reporter, ich bin es nicht mehr. Ich bin ein Schriftsteller.“
Exodus unter Franco
Die ländlichen Gegenden auf der iberischen Halbinsel waren noch nie dicht besiedelt. Doch zwischen 1950 und 1970 vollzog sich ein regelrechter Exodus. Dieser war nicht zuletzt das Ergebnis einer rücksichtslosen Industrialisierung unter Franco. Während sich die Einwohnerzahl vieler Städte verdoppelte und verdreifachte, entleerten sich die übrigen Gebiete fast vollständig. Rund 75 Prozent der Menschen leben heute im Großraum Madrid und in den urbanen Zentren entlang der Küste. Del Molino zeichnet diese Entwicklung nach, doch das ist erst der Anfang seines Buches. Ihn interessieren die Folgen der Landflucht.
„Die Migranten der ersten Generation haben all ihre Traditionen und Bilderwelten in die Städte mitgebracht. Dieses kulturelle Erbe wurde zu einem Phantom, weniger verbunden mit dem Land, sondern mehr mit der Imagination. Diese Vorstellungen von einer Welt, die verschwunden ist, umgeben uns. Wir haben sie geerbt und transformiert.“
Für Cervantes war die Provinz ein Witz
Die Zugezogenen verwandelten ihre Gefühle von Minderwertigkeit in eine Form von Stolz darauf, zu einem anderen, allem Städtischen fernen Ort zu gehören, glaubt Del Molino. Die intellektuelle Elite wiederum schaute überwiegend vorurteilsbeladen auf die Regionen außerhalb der urbanen Zentren, größtenteils wurden die abgelegenen Gegenden als hoffnungslos rückständig abgetan und lächerlich gemacht.
"Cervantes hat La Mancha erfunden. Für ihn war La Mancha ein Witz. Er hat bestimmt, wie die Spanier noch bis vor Kurzem auf das leere Spanien geblickt haben.“
„Leeres Spanien“ wurde nicht nur zu einem Bestseller, sondern entfaltete auch eine ungeahnte Wirkung: die Lage des ländlichen Spanien, lange Zeit vernachlässigt, rückte in den Fokus der Debatten. Die sozialistische Regierung schuf nach ihrem Wahlsieg 2019 eigens die Stelle eines Vizepräsidenten für Bevölkerungsfragen. Sergio Del Molino begrüßt die neue Aufmerksamkeit für die Probleme des ländlichen Raumes. Den Erfolg seines Buches jedoch kann er noch immer kaum nachvollziehen. Er vermutet, dass er auf einem Missverständnis basiert.
„Ich denke, die Leute glaubten, dass es ein aktivistisches Buch ist. Viele haben es als das ‚Kommunistische Manifest‘ der Entvölkerung betrachtet. Aber es ist etwas ganz anderes. Ich betrachte die Entvölkerung nicht als Problem, sondern als ein wichtiges Merkmal, um Spanien zu verstehen.“
Tatsächlich eröffnet der Essay einen so faszinierenden wie originellen Zugang zum Verständnis Spaniens. Sergio Del Molino plädiert für einen Perspektivwechsel und rückt die Bedeutung der urbanen Revolution neben die des Bürgerkriegs, der gemeinhin als zentrales Signum Spaniens gilt.
Aufstieg populistischer Parteien
Der phänomenale Erfolg des Buches hat das Leben von Sergio Del Molino verändert. Von den Einnahmen hat er die Wohnung gekauft, in der wir uns treffen. Die Wände im großen Wohnzimmer sind voller Bücher, im kleinen, schlichten Arbeitszimmer haben hingegen kaum mehr als ein Stuhl und ein Schreibtisch Platz.
„Ich bin der Autor des leeren Spanien. Das ist jetzt mein Label, obwohl ich über viele andere Dinge geschrieben habe. Das hat meine Karriere beeinflusst, die Art wie die Leser auf mich blicken.“
In einem etwas abseits stehenden Regal reihen sich Originalausgaben und Übersetzungen der Werke Del Molinos. Auch eine Ausgabe seines 2021 veröffentlichten Essays „Gegen das leere Spanien“, mit der er sich in die Diskussion um sein Buch eingemischt hat, zieht der Autor hervor. Die Probleme der Entvölkerung sind ein Feld für populistische, antidemokratische Parteien, wie die aufstrebende rechtsextreme Vox geworden. Sergio Del Molino schreibt mit Verve gegen einen neuen Nationalismus in seinem Land an. Sich einzumischen, das sei die Pflicht eines Intellektuellen, sagt er. Dieser so bescheiden wirkende und dabei so bestimmt auftretende Mann hat in Spanien seit fünf Jahren eine Stimme, die weithin gehört wird. Er nutzt sein Renommee, um seinem Land einen Spiegel vorzuhalten, in dem es sich erkennen kann.
Sergio Del Molino: „Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab“
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Wagenbach Verlag, Berlin. 304 Seiten, 30 Euro.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Wagenbach Verlag, Berlin. 304 Seiten, 30 Euro.