"Ich hatte kein Bedürfnis zu fliehen, weil ich ja keine andere Welt kannte. Ich bin da geboren, aufgewachsen, und kannte nur diese eine Sache."
Hans Schreiber ist in der Colonia Dignidad geboren. Wer seine Eltern, wer seine Geschwister waren, das wusste er lange Jahre nicht, denn die Babys wurden den Müttern weggenommen, sie wuchsen bei sogenannten Gruppentanten auf. Gefühle hat es nicht gegeben, erinnert sich der 43-Jährige heute, seine Mutter hat ihn nicht ein Mal im Leben umarmt.
Auch Hernan Escobar ist in der von Deutschen gegründeten Sekte aufgewachsen - sein chilenischer Vater ließ ihn dort, weil er mit dem Sohn nicht klarkam. Mit Psychopharmaka wurde er ruhiggestellt. Der Hass auf Sektengründer Paul Schäfer kam erst nach dessen Flucht, erzählt Escobar heute.
"Als ich nachher erfuhr von einem Mädchen, was in mich verliebt war, dass sie, weil wir uns einmal getroffen haben und von einer Gruppentante das gesehen wurde und sie mit Elektroschocks behandelt wurde, da habe ich tatsächlich zum ersten Mal so ein Gefühl gekriegt, wenn der Kerl jetzt vor mir stünde, ich würde ihn zusammendreschen."
Hernan Escobar, Hans Schreiber und die anderen Bewohner der früheren Colonia Dignidad sind auf Einladung der Gedenkstätte "Haus der Wannseekonferenz" und finanziert vom Auswärtigen Amt nach Berlin gekommen. Um das erste Mal überhaupt mit der anderen Seite zu reden - mit den chilenischen Folteropfern, mit den Angehörigen der in der Colonia verschwundenen Pinochet-Gegner. Bislang war ein Dialog nicht möglich, sagt Ricardo Brodsky. Er leitet in Santiago de Chile das Museum der Erinnerung an die Pinochet-Diktatur.
"Weil auf der einen Seite die Bewohner der 'Colonia Dignidad' - heute heißt es 'Bayerisches Dorf' - den Ideen und Zielen der chilenischen Opferverbände misstrauten. Und auf der anderen Seite die Opferverbände überhaupt gar nichts mit der Kolonie zu tun haben wollten - sie sollte am besten vom Erdboden verschwinden. Das ist eine sehr harte Situation für die Opfer, klar. Also deshalb war ein solches Treffen bislang nicht möglich."
Am ersten Tag noch kein Gespräch
Nun sitzen sie beim Mittagessen zusammen. Plaudereien auf Spanisch und Deutsch bei Gemüsesuppe und Nudeln. Die Mitglieder des chilenischen Opferverbandes haben Fotos ihrer verschwundenen und gefolterten Angehörigen an ihre Kleidung geheftet. An einem der Tische sitzt eine alte Dame im Rollstuhl - Adriana Borguez. Die Gegnerin des Pinochet-Regimes wurde in den 70er-Jahren von der Geheimpolizei in die Kolonie verschleppt.
"Die Folter war so extrem, dass sie große Folgen hatte für meinen Körper und für meine Seele. Es war sehr hart. Und es hat mich viele Jahre gekostet, dieses Trauma durch die Folter zu überwinden."
Am ersten gemeinsamen Tag in Berlin haben sie noch nicht miteinander geredet. Ein Gruppenfoto: nicht möglich. Unversöhnliche Positionen: auf der einen Seite die Opferverbände, die regelmäßig Demonstrationen vor den Toren der Kolonie veranstalten. Drinnen die Bewohner, die mit touristischen Attraktionen wie einem bayerischen Oktoberfest versuchen, sich wirtschaftlich über Wasser zu halten. Doch im Laufe der Tage haben sie sich angenähert - eigene festgefügte Feindbilder und Positionen wurden erschüttert.
"Wir, die wir versuchen, in Kommunikation zu reden, wissen auch nicht genau, wo ist oben, wo ist unten, woran sollte man glauben, woran sollte man besser nicht glauben."
"Beide Seiten haben gelitten, jeder auf seine Weise. Die politischen Opfer wie auch die Bewohner."
"Beide Seiten sind verwundet. Weil auf der Seite der chilenischen Opfer und ihrer Familien gibt es viel Schmerz. Und viel Unverständnis. Und auf der Seite der Koloniebewohner, da ist viel Angst. Ich bin mir sicher - sehr viel Angst."
Deutschland übernimmt Verantwortung
In Berlin ist gelungen, was 12.000 Kilometer entfernt, in Chile, bislang nicht glücken konnte - ein erstes gemeinsames Sprechen. Mit der Einladung zu diesem Seminar hat auch die deutsche Bundesregierung ihre Verantwortung wahrgenommen - klagen doch chilenische Menschenrechtsorganisationen schon lange über fehlende deutsche Unterstützung bei der Aufarbeitung der blutigen Colonia Dignidad-Geschichte.
"Dass wir jetzt persönlich sprechen können, dass sie auf mich zukommen und sagen, Anita, können wir sprechen, das ist ganz toll."
"Dieses Treffen war sehr gut, sehr nützlich. Weil wir uns bis jetzt gegenseitig als Feinde angesehen haben, dabei sind wir ja menschliche Wesen."