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Das Erhabene wabert in cooler Verkleidung über die Bühne

Die belgische Choreografin und Tänzerin Anne Teresa de Keersmaeker und der französische Choreograf und Tänzer Jérôme Bel stehen zusammen im Programm der Ruhrtriennale, aber mit zwei beziehungsweise drei Aufführungen, wie sie verschiedener nicht sein könnten.

Von Wiebke Hüster |
    In der Natur existiert das schönste Licht. Dieser Beobachtung widersprechen auch die berühmtesten Lichtdesigner nicht. Die Stimmung eines frühen Morgens oder einer Abenddämmerung mit den Mitteln der Bühnenbeleuchtung zu erzeugen, kann nur annäherungsweise gelingen. Wer draußen Theater spielt, tut das entweder nachts und braucht daher künstliche Lichtquellen, oder tut es tagsüber und muss sich mit einer für die Spieldauer mehr oder weniger unveränderten Lichtstimmung von Himmelsseite abfinden. Nur in den Zeiten des Übergangs von Tag zu Nacht und vom Dunkel zum Morgen lassen sich kontinuierliche Veränderungen beobachten. Genau in diesen neunzig Minuten zwischen gestern und heute, zwischen Schwärze und Helligkeit, hat Anne Teresa de Keersmaeker ihre letzten beiden Werke spielen lassen. "En atendant", ihr Stück über das Warten, währenddem die Nacht hereinbricht, kam 2010 beim Festival in Avignon heraus. Das Gegenstück "Cesena", über dem der Morgen dämmern soll, entstand im vergangenen Jahr ebenfalls für Avignon. Es oblag der Ruhrtriennale in ihrem ersten Jahr unter der Leitung von Heiner Goebbels, beide Choreografien so zu programmieren, dass man abends "En atendant" sehen kann und nach einer kurzen Nacht dann morgens "Cesena".

    "En atendant" zeigt acht schwarz gekleidete Tänzerinnen und Tänzer mit Turnschuhen auf einer leeren schwarz ausgelegten Tanzfläche. Doch bevor sie auftreten, stellt sich ein Musiker sehr dicht vor das Publikum und bläst minutenlang einen Ton auf der Querflöte. Danach erst setzen das Ensemble Cour et Coeur und die Sängerin Els van Laethem ein mit Kompositionen der sechshundert Jahre alten musikalischen Schule der Ars Subtilior. Anders als man erwarten mochte, bilden Alte Musik und minimalistischer zeitgenössischer Tanz keine spannungsvollen Kontraste, sondern treffen sich in einem vage emotionalen, wenig aufregenden Manierismus kühler Schönheit.

    Eindringlicher ist am folgenden frühen Morgen um kurz nach fünf dann "Cesena". Neunzehn Sänger und Tänzer bilden ein vom Atem und vom Rhythmus gelenktes Ensemble, das sich gehend, laufend oder in Galoppsprüngen zu Pulks und Linien ordnet. Die einen leiten die anderen, lauschen, oder schauen zu.

    Leiden, Verlust, schmerzliche körperliche Erfahrungen und Tod werden nur angedeutet, wenn Körper weggeschleift oder Leiber geborgen werden.

    Avignon, wo beide Stücke entstanden, war ein Zentrum der Ars Subtilior. Gleichzeitig will de Keersmaeker mit dem Titel "Cesena" an das Blutbad in der gleichnamigen Stadt erinnern, das der spätere Papst Clemens VII 1377 anrichten ließ. Man rätselt, was de Keersmaeker mit der Erinnerung an die Gleichzeitigkeit manieristischer Kunstproduktion und entsetzlicher religiös begründeter Gräueltaten bezwecken will.

    Obwohl das Licht, das durch Glasdach und Stirnseite in das Industriedenkmal Jahrhunderthalle Bochum hereinfällt, ein ganz undramatisches Naturschauspiel bietet, wirken das Abend- wie das Morgenstück schön, aber auf Dauer fade. Das muss an dem unaufgelösten Widerspruch zwischen ihrer abstrakten Konstruktion, der gefühlvollen, aber textlich unverständlichen Musik und konzentrierten Sexyness der Musiker und Tänzer liegen.

    Hier wabert das Erhabene in einer besonders coolen Verkleidung über die Bühne. Andacht als ideale Zuschauerhaltung war am Abend zuvor bei Jérôme Bel glücklicherweise so gar nicht gefragt. "Disabled Theater" ist ein großartiges, Wochen zuvor in Avignon uraufgeführtes Konzeptstück für elf geistig behinderte professionelle Schauspieler des Zürcher Theaters Hora. Welche befreiende, mitteilsame Natur Tänze haben können, das zeigten Bels wunderbare Akteure jeweils in einem Solo. Ans Ende stellte Bel die unverblümten Aussagen seiner Schauspieler über das Stück selbst. Damian Bright, Schauspieler mit Downsyndrom, fand es toll; seine Mutter fand es eine Freak Show, aber eine wundervolle.