Stählern die Stimme, triumphal der Ton - die "Deutsche Wochenschau", Ende Juni 1941 - vor genau 75 Jahren:
"Eine hart umstrittene Kampfstätte. Hier wurde in den frühen Morgenstunden des 22. Juni der Kampf gegen die Bolschewisten eröffnet. Zur gleichen Stunde griffen an fast allen Abschnitten der gewaltigen Front die deutschen Divisionen den Feind an und warfen ihn im kühnen Ansturm aus seinen schwer befestigten Grenzstellungen ..."
Nur dreieinhalb Jahre später: keineswegs kämpferisch, geschweige denn triumphierend, blickt vom Titelbild des Bandes auf seine Soldaten. Bang ahnende Melancholie - umrieselt von leichtem Schneegestöber - strahlt Generaloberst Gotthard Heinrici aus, Oberbefehlshaber der 1. Panzerarmee, fotografiert während eines Truppenbesuchs an der Ostfront und exakt datiert auf den 9. Januar 1945. Darüber in großen, blutroten Lettern der Titel: "Notizen aus dem Vernichtungskrieg" - ein Krieg, den Heinrici bis zum militärischen und moralischen Zusammenbruch Deutschlands zu führen mitgeholfen hat. Buch-Gestalter Peter Lohse vermittelt dieser grafischen Komposition eindrucksvoll eine morbide Faszination. Die wiederum passt bündig zu einer Passage aus einem in diesem Band abgedruckten Brief Heinricis an seine Frau, kurz vor seiner Gefangennahme durch britische Truppen am 5. Mai 1945 im schleswigschen Niebüll:
"Dein pessimistischer Mann hat nun doch am Ende Recht behalten, das Ende ist da, das ich längst kommen sah. Grausig, furchtbar ist Gottes Gericht. Und doch hat es erst begonnen. Wer weiß, was Schlimmes noch folgen wird."
Pessimismus? Gottes Gericht? - Was hier aus Heinricis Füllfederhalter fließt, hat mit einsichtsvoller Reue kaum etwas zu tun, dagegen sehr viel mit Angst vor einer ungewissen Zukunft. Selbstvergewisserung klingt an, allenfalls "schuldlos schuldig" geworden zu sein - vermeintlich aus-weglos verstrickt in einer Tragödie nach klassischer Definition. Ein Argumentations-Grundmuster, das sich bald in den Memoiren vieler seiner Generalskameraden wiederfinden wird – "Rechtfertigungsliteratur", erschienen schon vor fünfzig, sechzig Jahren mit dem Leitmotiv der inzwischen schon längst widerlegten Legende von der "sauberen Wehrmacht".
"Ein ganz normaler Wehrmachtsgeneral"
Wärmen diese Notizen Altbekanntes also nur noch einmal auf? - Keineswegs. Diese jetzt pünktlich zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion von Johannes Hürter herausgegebenen Aufzeichnungen des Generals Heinrici von dessen Einsatz an der Ostfront 1941/42 bieten wertvolle neue Einsichten. Dieser kommentierte Nachlass ermöglicht aufschlussreiche Vergleiche zwischen offiziellen, für die Nachwelt verfassten Tagebucheintragungen und parallel dazu privaten Korrespondenzen. Mitläufertum, später dann vorsichtige, meist militärisch-handwerkliche Kritik an der Kriegsführung des Regimes - nicht nur für Fachleute, sondern auch für ein zeitgeschichtlich allgemein interessiertes Publikum sind die Ansichten und Reflexionen dieses Hitler'schen Spitzenmilitärs lohnenswert. – "Ein ganz normaler Wehrmachtsgeneral" - unter dieser Überschrift ordnet Hürter gut strukturiert Heinricis Werdegang ein, überzeugend verknüpft mit zeitgenössisch relevanten Stichworten wie zum Beispiel: Antisemitismus.
"Heinrici war Antisemit. So voreilig dieses Verdikt manchmal sein mag, so eindeutig sind die Belege in seinem Fall. Niederlage und Systemwechsel 1918/19, die Weimarer Republik, die angelsächsische Feindschaft im Zweiten Weltkrieg, all das war für ihn auch - Zitat: - 'jüdisch'. Die ersten antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes kommentierte Heinrici teils ablehnend, teils zustimmend. (...) Die polnischen 'Ostjuden' der Schtetl-Kultur waren ihm abstoßend und fremd, ihre Unterdrückung und Versklavung beschrieb er im Frühjahr 1941 ohne jedes Anzeichen von Mitgefühl. (...) Im Januar 1944 wurde er mit anderen Generalen in Posen von Himmler über den Holocaust informiert."
Doch Hürter lässt auch dies nicht unerwähnt:
"Eine direkte Mitwirkung am Judenmord konnte Heinrici bisher nicht nachgewiesen werden."
Im Einführungs-Abschnitt "Verbrechen" fast Hürter Heinricis Notizen und Ansichten mit den Worten zusammen:
"Der Widerstand der Roten Armee wurde bereits in den ersten Wochen nach dem völkerrechtswidrigen deutschen Überfall von Heinrici als - Zitat: - 'tückisch und verschlagen' beschrieben. Das sollte die die gnadenlose Kampfesweise der eigenen Truppen als verständliche Reaktion auf die - erneutes Zitat: - 'bolschewistische Heimtücke' begründen. (...) Dass Generale wie Heinrici sich bereits in der ersten Feldzugsphase widerspruchslos auf die von Hitler und seinen militärischen Beratern gesetzten Sonderregeln in einem Sonderkrieg einließen, war von richtungweisender Bedeutung für die Radikalisierung dieses Krieges."
Ein Befund, der dann folgerichtig die unteren Dienstgrade einschließt. Beispielhaft mag dafür dieser Pionier-Veteran stehen, der noch 1991 in der ZDF-Dokumentation "Der verdammte Krieg" in grotesker Umkehr der eigentlichen Opfer-Täter-Rollenverteilung den damals beiderseits gnadenlos geführten Partisanenkampf im Osten beklagt:
"Wir haben Partisanen nicht als Soldaten angesehen. Det war klar. Sie wollten also die militärische Maschinerie kaputt machen. Also det erkennt auch noch'n Soldat an, nich'? - Wat ick nich' anerkenne, det is also: Urlauberzüge in die Luft zu sprengen. Erkenn' ick nich' an! - Die ham uns ja hinterlistig angegriffen, nich'? Ohne sich zu erkennen zu geben, nich', als Soldaten, nich', in Uniform."
General Heinrici selbst verschonte gnädig das von ihm eingangs noch befürchtete "furchtbare Gottes-Gericht". Nach Kriegsende und kurzer britischer Gefangenschaft gehörte er als Pensionär und Privatmann bis zu seinem Tod 1971 aktiv zu jenen, die laut Hürter in Wort und Schrift mitwirkten am...
" ...dichotomischen Entlastungsnarrativ der Generalität: Hier die hochprofessionelle, unpolitische und anständige Militärelite, dort der militärische Dilettant Hitler, der mit Hilfe seiner Schergen alle Niederlagen und Verbrechen verantwortete. (...) Dagegen wurde die eigene Zustimmung, Beteiligung und Verantwortung in der NS-Diktatur und ihrem Krieg ohne jegliches Anzeichen von Selbstkritik bagatellisiert oder verleugnet. - Auch in dieser Hinsicht war Gotthard Heinrici ein ganz normaler Wehrmachtsgeneral."
Wie spannend und anregend solche vermeintliche Normalität sein kann – dafür ist diese Neuerscheinung ein gutes, empfehlenswertes Beispiel.
Johannes Hürter (Hrsg.): "Notizen aus dem Vernichtungskrieg - Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici" – Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016, 248 Seiten, 39,95 Euro.