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"Das erste Opfer waren die Polen"

Man dürfe in Deutschland die Sensibilität Polens angesichts Hitlers Überfall auf das Land am 1. September 1939 nicht vergessen, mahnt Hans-Dietrich Genscher - und erinnert daran, dass Polen einen erheblichen Anteil an der deutschen Wiedervereinigung hatte.

    Norbert Seitz: Herr Genscher, am kommenden 1. September jährt sich zum siebzigsten Mal der Überfall von Nazi-Deutschland auf Polen, der als Beginn des Zweiten Weltkriegs in die Geschichte eingegangen ist. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen, der Zweite Weltkrieg wurde entfesselt. Sie waren damals zwölf Jahre alt, welche Erinnerung haben Sie – hat Ihre Familie – an diesen Tag?

    Hans-Dietrich Genscher: An diesem Tag bestätigte sich für mich etwas, was mein Vater, so lange ich zurückblicken konnte, immer gesagt hatte: "Hitler, das bedeutet Krieg". Mein Vater starb im Januar 1937, da war ich noch nicht einmal zehn Jahre alt. Ich habe mit ihm natürlich keine Gespräche über Politik geführt, aber ich habe gehört, was die Eltern miteinander besprochen haben. Und das blieb bei mir hängen: "Hitler, das bedeutet Krieg". Nun dachte ich, dein Vater hat das richtig gesehen. Meine Mutter war tief betroffen, und sie sagte: "Es ist diesmal alles ganz anders als 1914". Damals war meine Mutter 13 Jahre alt gewesen. Sie hatte erlebt, wie die Leute eigentlich jubelnd die Truppen begleiteten, die an die Front gebracht wurden. Aber 1939 war eine große Betroffenheit, und man spürte, hier geschieht etwas ganz Ungeheuerliches. Und so war es ja auch. Hitler ließ endgültig die Maske fallen und begann einen Krieg, der – das konnte man fühlen – ja in einen Weltkrieg ausarten würde. Wie schrecklich er werden wird, haben wahrscheinlich nur wenige vorausgesehen. Jedenfalls gehört für mich die Erinnerung an jenen Tag zu den ganz dunklen und mich betroffen machenden Erinnerungen in meinem Leben – so, wie man das im Alter von zwölf Jahren überhaupt nur begreifen und empfinden kann. Und ich bin noch heute meinen Lehrern in meiner Schule dankbar, dass sie nicht etwa enthusiastisch dieses Ereignis begrüßt haben, sondern dass sie es mit tiefem Schweigen übergingen, was vielsagend genug war.

    Seitz: Ab wann waren Sie dann selber Kriegsteilnehmer?

    Genscher: Am 15. Februar 1943 wurden die Jahrgänge 1927 und 1926 als Luftwaffenhelfer zur Flak-Artillerie einberufen, das heißt, wir wurden "heimatnah", wie es hieß, in Flakstellungen gebracht. Damit begann für uns nun endgültig der ganze Ernst des Lebens. Drei Mal in der Woche kamen die Lehrer, unterrichteten uns, aber das war natürlich weniger Schule als normaler militärischer Betrieb, dem wir unterworfen waren. Ich kann auch da sagen, dass da nicht etwa eine Begeisterung vorhanden war, ganz im Gegenteil. Wir waren alle eigentlich betroffen davon, dass wir jetzt von zu Hause weg sollten, dass wir in militärische Einheiten kamen. Immerhin – meine Mutter hatte, als der Zweite Weltkrieg begann, noch gesagt: "Gott sei Dank ist mein Junge erst zwölf Jahre alt, der muss diesmal nicht mit." Und dann zeigte sich, dass schon 1943 der jetzt 15-Jährige zur Flak-Artillerie eingezogen wurde. Das zeigt, wie das ganze Volk hineingezogen wurde in das Kriegsgeschehen. Das ganze Ausmaß hat der damals Zwölfjährige natürlich nicht erkennen können und vielleicht auch viele Erwachsene nicht, nämlich dass Hitler einen Vernichtungskrieg plante, eine Ausrottung der Juden, aber auch einen besonders schrecklichen Vernichtungskrieg gegen das polnische Volk, das ja mit der Ausrottung der polnischen Intelligenz begann, das mit Massenumsiedlungen oder Vertreibungen in Polen selbst begann. Da kann man wirklich sagen: Er ließ endgültig die Maske fallen. Niemals darf man diesen 1. September 1939 vergessen, der einen Tiefpunkt in der deutschen und europäischen Geschichte bedeutet und der nachhaltige Auswirkungen auch gehabt hat auf das deutsch-polnische Verhältnis.

    Seitz: Wo waren Sie – oder wo kämpften Sie denn in der Flak-Artillerie?

    Genscher: Ich war eingesetzt im Umfeld meiner Heimatstadt Halle an der Saale und für einige Monate auch im Umfeld von Leipzig, wo ich am 4. Dezember 1943 den schweren Angriff auf Leipzig miterlebt habe. Und wir spürten dann sehr bald auch die Unaufrichtigkeit der Propaganda. Wir stellten fest, dass die großen Bomberflotten von unserer 8-8-Flak gar nicht mehr erreicht werden konnten, trotzdem wurde geschossen - man hatte fast das Gefühl, zur Beruhigung der Bevölkerung. Ich muss Ihnen sagen, in dieser Generation des Jahres '27 war sehr viel Skepsis. Ich habe neulich ein Buch gelesen, zu dem ich auch einen Beitrag geleistet habe. Da habe ich festgestellt, dass Leute meines Jahrgangs eigentlich ganz ähnlich diese Zeit erlebt haben. Wir waren in den Krieg einbezogen, aber ich kann nicht sagen, dass irgendjemand davon begeistert gewesen wäre. Wir sind ja dann auch zum Arbeitsdienst gekommen, mussten ins Wehrertüchtigungslager. Und Anfang Januar 1945 bin ich dann noch Soldat geworden. In Wittenberg wurde ich zu den Pionieren eingezogen und war dann bei der Armee Wenck, die Hitler in Berlin entsetzen sollte. Und wahrscheinlich verdanke ich mein Leben der Tatsache, dass der General Wenck ein Mann von großer Verantwortung war, der seinen Offizieren, wie wir heute wissen, gesagt hat: "Ich kann das nicht verantworten, dass ich die mir anvertrauten jungen Soldaten hier in eine Vernichtungsschlacht schicke, die so wie so völlig sinnlos ist," sondern der Verhandlungen mit den Amerikanern aufnahm und uns nach Tangermünde führte, wo wir dann in amerikanische Gefangenschaft gekommen sind – ich selbst am frühen Abend des 7. Mai 1945. Das war für mich dann auch das Ende des Zweiten Weltkrieges. Nein – dieser Krieg war ein verbrecherischer Krieg, nicht vergleichbar mit vorhergehenden. Und der Beginn war eben der 1. September, und das erste Opfer waren die Polen.

    Seitz: Aber täuscht nicht der Eindruck, dass der 1. September im deutschen Gedenkreigen keine herausragende Rolle mehr spielt? Womit könnte das zusammenhängen? Ist das Datum vielleicht mittlerweile schon weitgehend historisiert, das heißt von den Erinnerungsarbeitern, den Historikern, hinreichend bearbeitet? Das muss ja kein Nachteil sein. Oder erleben wir das, was die Erinnerungsforschung den Rückgang von Emotionen nennen, bei wachsender zeitlicher Distanz? Wie sehen Sie das?

    Genscher: Ich glaube, dass etwas anderes eine große Rolle spielt, nämlich die Tatsache, dass zunächst einmal die eigene Betroffenheit der Deutschen durch den Kriegsbeginn geringer war als später im Verlauf des Krieges. Das Inland war von diesem Krieg nicht betroffen, der Krieg war relativ schnell beendet gegen Polen. Viele hofften, damit sei der Krieg überhaupt beendet. Gewisse Hoffnungen mögen manche damit verbunden haben, dass die westliche Reaktion, vor allem die Englands und Frankreichs, doch eher milde war. Zwar erklärte man den Krieg, aber es geschah nichts, was Hitler hätte in die Sorge eines Zwei-Fronten-Krieges drängen können. Während des Fortlaufs des Krieges mit immer mehr gefallenen Soldaten, mit schweren Verlusten, die Umkehr im Bewusstsein auch der Öffentlichkeit durch die Schlacht von Stalingrad, die Bombardierung – das alles war ja noch nicht da. Und deshalb haben sich diese Ereignisse, wenn vom Zweiten Weltkrieg gesprochen wird, ganz im Gegenteil. Das war der entscheidende Tag, an dem Hitler erkennen ließ: Er will den großen Vorherrschaftskrieg über ganz Europa.

    Seitz: Für unsere Nachbarn jedoch bleibt der 1. September ein Trauma. Polen begeht den 70. Jahrestag als letztes großes Gedenkmoment mit noch lebenden Zeitzeugen. Dahinter steckt sicherlich auch die Intention, die historische Wahrheit und - vor allen Dingen - auch die polnische Opferrolle nochmals festzuklopfen, denn man kann es spüren, dass in Polen eine geradezu panische Angst vor einer Umdeutung der Geschichte zulasten der Polen vorhanden ist. Sie bezieht sich zum Beispiel auf der einen Seite auf die neuerlich wieder erstarkt aufkeimende Heroisierung der Roten Armee in Russland wie auch auf die leidige deutsche Debatte um ein Zentrum gegen Vertreibung. Frage an den langjährigen deutschen Chefdiplomaten: Was kann man tun, um solche Ängste, wie es sie gibt, zu entkräften?

    Genscher: Ich glaube, dass eine Sendung, wie wir sie gerade hier gemeinsam machen, ja ein wichtiger Beitrag sein kann. Ich kann nur begrüßen, dass Ihr Sender diesen Sonntag benutzt, um den wirklichen Sachverhalt, um den es jetzt nach 70 Jahren geht, zu erörtern. Man kann allerdings nicht sagen, dass man in Deutschland der Bedeutung dieses 1. September 1939 nicht gerecht wird. Deutsche Aufarbeitung der Geschichte ist beachtlich, und auch das Gefühl für die Empfindungen, das Verständnis für die Empfindungen des polnischen Volkes, ist in Deutschland groß. Ich kann verstehen, was es heißt, wenn Polen sich daran erinnert, dass Soldaten der Wehrmacht und der Roten Armee sich 1939 in Brest getroffen haben. Ich kann verstehen, dass man sich erinnert an die Zeit der polnischen Teilungen. Viele fragen sich – und in der Vergangenheit, also noch in der Zeit des Kalten Krieges, haben mich oft westliche Kollegen gefragt, wie ich eigentlich die starke Stellung der Katholischen Kirche in Polen erkläre. Und ich habe ihnen gesagt: Man darf nie vergessen, Polen war eingezwängt zwischen das orthodoxe Russland und das protestantische Preußen. Die Zeit der polnischen Teilung, der Verlust der polnischen Staatlichkeit, hat natürlich dazu geführt, dass die Katholische Kirche eine Identitätsbedeutung für das polnische Volk hatte, die sehr viel stärker war als in anderen europäischen Ländern. Und natürlich darf man auch nicht vergessen, dass eine Persönlichkeit wie der verstorbene Papst eine ganz erhebliche Rolle für eine positive Bewusstseinsbildung des polnischen Volkes gespielt hat. Man muss in diesem Zusammenhang auch immer darauf hinweisen, dass dann die Geschichte im weiteren Verlauf unsere Völker eng zusammengeführt hat. Für mich ist unvergesslich der Morgen nach der Öffnung der Mauer. Ich war mit dem Bundeskanzler Helmut Kohl in Warschau, und seit Langem hatte ich verabredet ein Gespräch mit Lech Walesa und Bronislaw Geremek, der damals sein außenpolitischer Berater war. Und Geremek sagte am Morgen nach dem Fall der Mauer: "Der Fall der Mauer – das bedeutet die Einheit Deutschlands. Das ist ein großer Tag für die Deutschen. Aber es ist auch ein großer Tag für uns Polen, denn wenn Deutschland vereinigt sein wird, dann wird Polen Nachbar sein der NATO und Nachbar sein der Europäischen Gemeinschaft." Heute ist Polen Mitglied von beiden. Das heißt, diese große europäische Freiheitsrevolution des Jahres 1989 hat Deutsche und Polen wieder zueinander geführt, und wir alle sind uns bewusst, dass eine Bewegung wie Solidarnosc eine der Voraussetzungen dafür war, dass Deutschland friedlich vereinigt werden konnte.

    Seitz: Sie hören den Deutschlandfunk mit dem Interview der Woche, heute mit dem früheren Außenminister Hans-Dietrich Genscher zum Thema 70. Jahrestag des Überfalls auf Polen. Sie haben es eben schon angedeutet, Solidarnosc – trotz aller guten Nachbarschaft und großer Fortschritte fühlen sich die Menschen in Polen von den Deutschen noch immer häufig, ich will mal sagen, übergangen, unverstanden oder unsensibel behandelt, denn es hat ja unzweifelhaft trotz aller Fortschritte einige Verstimmungen in den letzten Jahren gegeben, nicht nur wegen des Zentrums gegen Vertreibung, sondern auch wegen des deutsch-russischen Pipeline-Projekts. Und erinnert sei auch an die Einschätzung während des Irak-Krieges zwischen dem alten und dem neuen Europa, wo ja die Deutschen und die Polen wieder in Frontstellung waren. Neuerdings ist zum 20. Jahrestag des Epochenbruchs auch vom Undank gegenüber Solidarnosc und deren Beitrag zum Fall der Mauer die Rede. Diese Vorbehalte oder Verstimmungen, wie beurteilen Sie die?

    Genscher: Zunächst einmal, was die Freiheitsentwicklungen angeht, so war es ja so, dass die erste Freiheitsrevolution in der DDR stattfand am 17. Juni 1953, gefolgt `56 von Ungarn, `68 in der Tschechoslowakei, jeweils mit brutalem sowjetischen Militäreinsatz verhindert. In Polen war die Entwicklung gänzlich anders. Es war ein permanenter innerer Aufstand gegen die kommunistische Führung vorhanden. Hier spielte die Katholische Kirche eine ganz entscheidende Rolle. Und ich kann nur noch einmal unterstreichen, was ich zuvor schon gesagt habe, dass natürlich Solidarnosc eine ganz entscheidende Rolle spielte. Und die Polen haben sich natürlich auch gefragt, wie nehmen die Deutschen Solidarnosc wahr? Und ich habe mich frühzeitig mit Lech Walesa getroffen. Mir war völlig klar, was diese Entwicklung für Polen, aber auch für uns bedeutet. Und Sie bekommen als Außenminister viele Orden aus verschiedenen Staaten. Aber als ich in Brüssel aus der Hand von Lech Walesa an einem wichtigen Jahrestag von Solidarnosc die Medaille für Solidarnosc für solche westlichen Persönlichkeiten erhalten habe, die frühzeitig sich auf die Seite von Solidarnosc stellten, so hat das für mich außerordentlich viel bedeutet. Also, Solidarnosc war entscheidend, und wenn ich einmal das Wort so sagen darf, der polnische Papst natürlich auch. Eine andere Frage ist das Pipeline-Projekt. Ich glaube, dass hier die Entscheidung, diesen Weg zu gehen, richtig war. Das richtet sich auch nicht gegen Polen, denn wir haben ja eine innere Verbindung innerhalb unserer Europäischen Gemeinschaft in der Energieversorgung. Und jedes Öl oder Gas, das in ein europäisches Land kommt, kann ja auch zur Energieversorgung anderer Länder mit beitragen. Da sind wir auch völlig frei, das zu tun. Also, die Gefahr etwa, dass jemand Polen energiepolitisch unter Druck setzt und das zugunsten anderer in der Europäischen Union genutzt wird, diese Gefahr besteht nicht. Viel komplizierter ist die Angelegenheit Irak-Krieg. Hier war es so, dass die Entscheidung der damaligen Bundesregierung völlig richtig war, sich an diesem Angriffskrieg nicht zu beteiligen. Und wir sehen ja noch heute, welche Wirkungen das hat. Ich glaube, zu den schwerwiegenden Fehlern der Bush-Administration in den Vereinigten Staaten gehörte, dass sie auf die Aufsplitterung und Aufteilung Europas gesetzt haben, dass sie die NATO vernachlässigt haben, indem sie gesagt haben, wir gründen ein Bündnis der Willigen, was bald zu einem Bündnis der Unwilligen geführt hat. Ich kann mich noch an Kennedys Worte erinnern, der gefordert hat, dass ein europäischer Pfeiler entsteht für die NATO. Er wollte die Einheit Europas haben, und die Bush-Administration wollte Zwietracht in Europa säen. Das war eine Sache, die auch durchaus Wirkung hatte. Man muss die Empfindsamkeit Polens verstehen. Dafür habe ich großes Verständnis. Und deshalb habe ich ja 1991 vorgeschlagen, dass wir das Weimarer Dreieck gründen. Mir war klar, dass die historische Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland die Grundvoraussetzung für die Möglichkeit eines vereinigten Europas war. Mir war aber auch klar, dass die historische Versöhnung zwischen Deutschland und Polen eine genau so große Wirkung und Bedeutung hat in dem Augenblick spätestens, in dem in den Staaten des Warschauer Pakts Demokratie möglich wird. Versöhnung früher war aus historischen und moralischen Gründen schon notwendig, ist durch die Kirchen in hervorragender Weise geleistet worden und auch durch den deutsch-polnischen Vertrag Anfang der 70er-Jahre. Aber die Beteiligung nunmehr Polens an einer europäischen Einigungsrolle der deutschen Frage, das war entscheidend. Und ich muss bedauern, dass das Weimarer Dreieck nicht in der Weise benutzt worden ist, wie es eigentlich vorgesehen war von meinen Kollegen Roland Dumas und Krzystof Skubiczewski, denn ich habe ja nicht ohne Grund eingeladen nach Weimar, weil ich damit auch die kulturelle Identität Europas mit zum Ausdruck bringen wollte. Ich hätte nach Bonn einladen können oder nach Berlin, aber ich habe nach Weimar eingeladen. Mir ging es darum, zu zeigen: Uns verbindet unendlich viel. Und diese drei Völker sind in ihrem Verhältnis zueinander von schicksalhafter Bedeutung für Stabilität und Freiheit und Demokratie in Europa. Und dem muss man sich mit allen Kräften widmen. Beide Kirchen, die evangelische Kirche und die katholische Kirche, in Deutschland haben in der Versöhnungsarbeit Großartiges geleistet. Und das hat, wenn ich einmal auch politische Wirkungen von kirchlichen Handlungen betrachte, etwas ganz Eindrucksvolles. Natürlich haben wir immer auch in Deutschland Diskussionen gehabt über die Grenzfrage. Und diese Grenzfrage ist sehr oft auch missbraucht worden durch Erweckung falscher Hoffnungen, ja durch Behauptungen wie, dass die demokratischen Parteien der Bundesrepublik den Osten aufgegeben hatten. Den Osten verspielt hatte Hitler und weder die CDU noch die SPD noch die FDP. Und deshalb war es wichtig, dass mit dem deutsch-polnischen Vertrag von 1970, hier auch mit dem Warschauer Vertrag, eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen wurde und letztlich dann auch mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag aus dem Jahre 1990.

    Seitz: Im Anschluss daran noch ein Wort zum aktuellen Stand der Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibung?

    Genscher: Ich glaube, dass die Erinnerung in Deutschland ja gepflegt wird. Meine Frau ist Schlesierin, ist als Kind mit ihren Eltern aus Schlesien weggegangen. Sie liebt ihre Heimat und erinnert sich gerne an ihre Jugendzeit, aber sie kennt auch die Unabänderlichkeit der geschichtlichen Entwicklung, die eben nicht von Polen in Gang gesetzt worden ist, sondern durch den verbrecherischen Krieg Hitlers. Das darf man nie vergessen. Ich finde, dass da manche Erklärungen abgegeben worden sind, die nicht die historisch gebotene und moralisch gebotene Sensibilität gezeigt hat. Und ich glaube, dass manches von dem, was mit dem Zentrum verbunden ist, leider dann auch Missverständnisse erzeugt hat, die möglicherweise gar nicht erforderlich gewesen wären. Ich war von Anfang an der Meinung, dass ein europäisches Zentrum die richtige Antwort wäre. Und natürlich fragen die Polen auch, wenn sie prüfen, wie stehen die Deutschen, wie stehen einzelne Deutsche zum deutsch-polnischen Verhältnis, fragen sie auch, wie hat wer abgestimmt im Deutschen Bundestag, als es um die Anerkennung der deutschen Ostgrenze ging. Und das ist damit natürlich auch eine Personalfrage, wo ich nur allen raten kann, nicht Vorschub zu leisten für neue Missverständnisse, sondern sich der historischen Bedeutung der deutsch-polnischen Aussöhnung und nicht nur Verständigung bewusst zu sein.

    Seitz: Was hätte denn die Aussöhnung mit Polen noch zu leisten? Was fiele Ihnen da noch ein?

    Genscher: Ich glaube, dass wir sehr viel mehr in die Zukunft hinein zeigen sollten und herausfinden sollten, was wir gemeinsam tun können. Da ist das Weimarer Dreieck eine wichtige Sache. In manchen Bereichen ist es sehr viel weiter fortgeschritten. Ich erinnere mich, dass ich vor einiger Zeit in Greifswald an der Universität eine Laudatio auf meinen früheren polnischen Kollegen Skubiczewski gehalten habe: Im Publikum sah ich einen deutschen General, d0en General Ramms sitzen, und ich sagte hinterher zu ihm: "Was führt Sie nach Greifswald?" Und da sagte er: "Ich bin in Stettin, ich bin dort Oberkommandierender der dänischen und polnischen und deutschen Einheiten." Das ist die Zukunft. Das heißt, dass wir gemeinsam auf gemeinsamen Wertgrundlagen für unsere Sicherheit sorgen, für Zusammenarbeit sorgen. Und vielleicht ist ein solches Beispiel auch Ansporn in anderen Bereichen, in die Zukunft zu sehen, die Vergangenheit niemals zu vergessen und auch zu beachten, dass jedes Volk seine eigene Geschichte hat und seine eigene Würde. Und ein Volk wie das der Polen, das immer wieder Opfer auch von Großmacht und Vormachtstreben war, und zwar von seinen westlichen wie seinen östlichen Nachbarn, hat hier Sensibilität, der man mit guten Gründen Rechnung tragen sollte.

    Seitz: Herr Genscher, vielen Dank für das Gespräch.