Demonstration vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires.
Tausende sind an diesem heißen November-Nachmittag gekommen, um gegen die geplante Rentenreform zu protestieren. Die Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner hatte überraschend angekündigt, dass die privaten Rentenfonds verstaatlicht werden sollen. Mit deren Einführung 1994 konnten die Argentinier sich aussuchen, ob sie ihre Beiträge in die staatliche Rentenkasse oder in einen privaten Fonds zahlen wollen.
Und nun plötzlich die Verstaatlichung. Auf dem Höhepunkt der internationalen Finanzkrise erklärt Präsidentin Kirchner, sie wolle das Vermögen der Rentner gegen Verluste an den Kapitalmärkten schützen.
"Wir brauchen eine strukturelle und strategische Veränderung, um unsere Rentner zu schützen. Wenn in den USA, Frankreich oder Deutschland der Staat eingreift, wird das als sympathisch oder intelligent betrachtet. Aber wenn wir bei uns Maßnahmen zur Verteidigung des Staates ergreifen, heißt es: schon wieder diese Staatsinterventionisten, diese Nostalgiker."
Doch das Argument, die Regierung wolle die Rentner schützen, nehmen viele Argentinier der Präsidentin nicht ab. "Wir sagen Nein zur Plünderung" steht auf den Transparenten, die die Demonstranten vor dem Kongressgebäude hochhalten, oder auch "Nein zum Raub der K." Das K steht für die Kirchners, Cristina und ihren Mann und Vorgänger Nestor Kirchner.
"Ich will nicht, dass man mir meine Ersparnisse raubt. Ich habe mich für einen privaten Rentenfonds entschieden. Das ist mein Geld. In das staatliche Rentensystem habe ich kein Vertrauen. Unsere Regierungen haben sich immer an den Renten vergriffen, "
sagt ein älterer Mann bei der Demonstration. Auch die meisten Oppositionsparteien sind gegen die Verstaatlichung der privaten Rentenfonds. Sie werfen der Regierung vor, Kasse machen zu wollen. Mit den Rentenfonds gehen immerhin mehr als siebzehn Milliarden Euro in Staatsbesitz über. Fernando Iglesias, Abgeordneter der oppositionellen Bürgerkoalition:
"Ich glaube, das wird schlimme Folgen für die argentinische Wirtschaft haben. Es kann doch keiner in einem Land investieren, in dem das Privateigentum der Rentner von der Regierung als Piratenbeute betrachtet wird."
Die Privatrenten-Verstaatlichung hatte auch Spekulationen über einen eventuell drohenden neuen Staatsbankrott Argentiniens ausgelöst. Inzwischen ist sie Gesetz. In nur zwei Wochen wurde sie von beiden Parlamentskammern abgesegnet. Agustín Rossi, Fraktionschef des mächtigen Kirchner-Bündnisses im Abgeordnetenhaus, rechtfertigt die Abschaffung des zweigleisigen und seiner Ansicht nach perversen Systems:
"Ein Großteil der Bürger zahlte in die privaten Rentenfonds ein. Die Rentenempfänger wiederum blieben im staatlichen System. Was machte also der Staat, um diese Renten zu bezahlen? Er lieh sich Geld von den privaten Rentenfonds. Diese aber kassierten dafür Zinsen. Und um diese Zinsen zu bezahlen, trieb der Staat Geld von den Bürgern ein. "
Die Rentenreform, die heftige Kursstürze an der Börse von Buenos Aires auslöste, war das umstrittenste Projekt der Regierung Kirchner in der zweiten Jahreshälfte. Nachdem Cristina Kirchner die Präsidentschaft vor einem Jahr von ihrem Mann Nestor übernahm, wurden die ersten sechs Monate ihrer Amtszeit von einem ebenfalls kontroversen Thema dominiert: der Erhöhung der Ausfuhrsteuern auf Soja.
Die Ölsaat Soja - gentechnisch verändertes Soja - ist seit Jahren der Exportschlager der argentinischen Landwirtschaft. Wegen des hohen Weltmarktpreises erzielten die Produzenten damit glänzende Gewinne, von denen der Staat durch stetig steigende Exportsteuern und andere Abgaben einen guten Teil abschöpfte. Als die Regierung im Februar schließlich die Einführung einer Weltmarktpreis-abhängigen Exportsteuer ankündigte, begann der größte Bauernprotest in der argentinischen Geschichte. Monatelang brachten die Landwirte ihren Unmut mit Straßenblockaden, Streiks und Lieferstopps zum Ausdruck.
In Buenos Aires unterstützten viele Hauptstadt-Bewohner den Bauernprotest mit so genannten Cacerolazos, dem Trommeln auf Kochtöpfe. Auf diese Weise war zuletzt zum Jahreswechsel 2001/2002 während der dramatischen Finanzkrise demonstriert worden, was zum Rücktritt des damaligen Präsidenten Fernando de la Rua beitrug.
Die Regierung Kirchner reagierte auf den hartnäckigen Widerstand der Landwirte mit mehreren Großkundgebungen, bei denen die Präsidentin die Exportsteuer-Erhöhung verteidigte.
"Als ich die Entscheidung traf, um eine gerechtere Einkommensverteilung zu erreichen, tat ich das nicht, um jemandem zu schaden. Sondern, damit alle Argentinier ein bisschen besser leben können. "
Erst unter dem Druck der Protestierenden ließ die argentinische Regierung schließlich den Kongress über die Einführung der Weltmarktpreis-abhängigen Exportsteuer auf Soja abstimmen. Nach der Zustimmung der Abgeordnetenkammer kam es im Senat zum Patt - und damit zu einer Situation, in der die Stimme des Vizepräsidenten den Ausschlag gab.
Der Satz "Meine Stimme ist nicht positiv" von Julio Cobos besiegelte am 17. Juli das Scheitern des Regierungsprojekts und damit das Ende des Konflikts mit den Agrarproduzenten. Außerdem besiegelte das negative Votum des Vize-Präsidenten sein Zerwürfnis mit Cristina Kirchner. Seitdem fristet Cobos, dessen politische Gruppierung bei der Wahl mit dem Kirchner-Bündnis angetreten war, in der Regierung eine Art Schattendasein.
Aber auch die Präsidentin ging nicht unbeschadet aus dem Konflikt hervor. Hatten im Januar noch 56 Prozent der Befragten ein positives Bild von Cristina Kirchner, waren es im Juni nur noch zwanzig Prozent. Seitdem ist der Zustimmungswert nur leicht gestiegen: auf 25 bis 30 Prozent. Viele Argentinier sehen die Verstaatlichung der privaten Rentenfonds in einer Linie mit der fehlgeschlagenen Exportsteuer-Erhöhung und anderen Geldbeschaffungsversuchen der Kirchner-Regierung:
"Nach dem gescheiterten Versuch, einen noch größeren Teil der Einnahmen der Landwirte einzustreichen, kündigte die Präsidentin völlig überraschend an, Argentinien werde seine Schulden beim Pariser Club bezahlen. "
Juan Buchet, argentinischer Korrespondent der französischen Wirtschaftszeitung La Tribune:
"Noch kurz zuvor hatte sie gesagt, dass die Tilgung dieser Schulden keine Priorität hätte. Nun aber ging es darum, wieder Zugang zu den Finanzmärkten zu bekommen und Kredite aufnehmen zu können. Als diese Rechnung wegen der globalen Finanzkrise nicht aufging, eignete sich die Regierung kurzerhand die mehr als siebzehn Milliarden Euro aus den privaten Rentenfonds an. "
Dass das Bemühen, um jeden Preis die Staatskasse zu füllen, in Argentinien mit Misstrauen betrachtet wird, hat einen einfachen Grund: Cristina und ihr Mann und Vorgänger Nestor Kirchner stehen im Ruf, staatliche Gelder willkürlich und zum eigenen Machterhalt einzusetzen. Fernando Iglesias, Abgeordneter der oppositionellen Bürgerkoalition und Autor eines Buches über das System Kirchner:
"Der Kirchnerismus ist ein System der Machtkonzentration. Es gleicht in vielerlei Hinsicht einer absolutistischen Monarchie, in der das Parlament und die anderen Staatsgewalten wie Leibeigene im Dienste des Präsidenten betrachtet werden. In diesem System existiert sogar, wie in einer Monarchie, ein Herrscherpaar. De facto heißt der argentinische Präsident immer noch Nestor Kirchner. Er trifft die Entscheidungen. Grundlage dieses autoritären Systems ist die Verfügungsgewalt über eine enorme Kasse. Mit diesem Geld manipuliert das Präsidentenpaar Provinzgouverneure, Lokalpolitiker und Gewerkschaften. "
Begünstigt wird dieses Vorgehen durch das System, das in Argentinien die Zuteilung der Steuereinnahmen von der Nationalregierung an die 24 Provinzen regelt. Dessen Reform ist seit langem überfällig. Auch die besonderen Vollmachten, mit denen sich die Exekutive nach der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise vor sieben Jahren ausstattete, sind immer noch in Kraft. Der Abgeordnete Fernando Iglesias:
"Wenn wir im Parlament über den Haushalt abstimmen, können wir in Wirklichkeit nicht über die Höhe der Ausgaben entscheiden, weil die Präsidentin mit einem Notstandsdekret die Summe jederzeit erhöhen kann. Auch wie das Geld ausgegeben wird, kann das Parlament nicht wirklich festlegen, da der Kabinettschef über so genannte Supervollmachten verfügt und den einzelnen Haushaltsposten Mittel neu zuteilen kann. "
Argentinien zum Jahreswechsel 2001/2002: Es herrscht Weltuntergangsstimmung. Nach einem Jahrzehnt neoliberaler Politik kollabieren Wirtschaft und Finanzsystem des hochverschuldeten südamerikanischen Landes. Argentinien muss seine Zahlungsunfähigkeit erklären. Die an den US-Dollar gekoppelte Währung Peso wird massiv abgewertet. Sparkonten werden eingefroren. Die Hälfte der Argentinier rutscht unter die Armutsgrenze, soziale Unruhen erschüttern das Land.
Dem tiefen Fall folgt eine baldige Erholung der argentinischen Wirtschaft. Ab 2003 verzeichnet sie Wachstumsraten von jährlich zwischen siebeneinhalb und neun Prozent. In jenem Jahr tritt Präsident Nestor Kirchner sein Amt an.
"Nach der Krise gab es einen klaren wirtschaftspolitischen Kurswechsel."
Aldo Ferrer, angesehener argentinischer Ökonom.
"Die Wirtschaftspolitik der Kirchners ist eine unorthodoxe Politik, in der der Staat eine Rolle spielt. In dieser Hinsicht war Argentinien den internationalen Ereignissen einen Schritt voraus, denn angesichts der globalen Finanzkrise hat der Staat nun überall wieder ein starkes Gewicht. Die argentinische Wirtschaftspolitik der letzten Jahre hing nicht vom guten Willen der Finanzmärkte ab, sondern von Maßnahmen, die die Ordnung wiederhergestellt haben. Und die Wirtschaft hat darauf mit starkem Wachstum reagiert, aber es gibt noch ungelöste Probleme im sozialen Bereich. Unsere Wirtschaft ist heute in einer stärkeren Position als in der Vergangenheit. Es gibt einen großen Handels- und Haushaltsüberschuss und hohe Zentralbank-Reserven."
Doch die Folgen der internationalen Finanzkrise bedrohten auch Argentinien, meint Aldo Ferrer, nicht zuletzt wegen des Verfalls der internationalen Rohstoffpreise. Als Exporteur von Agrarrohstoffen wie Soja hatte die argentinische Wirtschaft in den vergangenen Jahren stark vom hohen Preisniveau profitiert.
Die meisten argentinischen Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass sich nach Jahren des Aufschwungs das Wachstum im kommenden Jahr deutlich abschwächen wird. Die Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner kündigte als Reaktion auf die internationale Finanzkrise eine Reihe von Maßnahmen an. Das Ziel: die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Aktivität und die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Erreicht werden soll dies einerseits durch die Förderung der heimischen Produktion und privater Investitionen, andererseits durch öffentliche Infrastruktur-Maßnahmen. Um den Bau von Straßen, Wohnungen oder Krankenhäusern zu finanzieren, will die Regierung auf einen Teil des Geldes aus den vor kurzem verstaatlichten Privatrentenfonds zurückgreifen.
Nach Meinung von Juan Buchet, Korrespondent der französischen Wirtschaftszeitung La Tribune, ist der Kirchner'sche Anti-Krisen-Plan auch vor dem Hintergrund der Wahlen im nächsten Jahr zu sehen:
"Die Regierung will die Wirtschaft mit Blick auf die Parlamentswahlen im Oktober 2009 in Gang halten. Die öffentlichen Investitionen werden wahrscheinlich in diejenigen Provinzen und Kommunen fließen, die sich ruhig verhalten und die Regierung unterstützen. Auch da, wo Wählerstimmen gebraucht werden, wird es Baumaßnahmen geben."
Buchet glaubt, dass der Anti-Krisen-Plan wohl nicht ausreichen wird, um Argentiniens Wirtschaft vor schweren Turbulenzen zu bewahren, sondern dass strukturelle Veränderungen nötig sind. Wie er sind auch viele andere Experten der Ansicht, dass die wirtschaftspolitischen Rezepte, die dem Land aus der Krise halfen, dringend modifiziert werden müssen. Rosendo Fraga, Meinungsforscher und politischer Analyst, kritisiert das, was er ein autoritäres Wirtschaftsmodell nennt:
"Der Staat trifft die wirtschaftlichen Entscheidungen. Es geht nicht notwendigerweise um die Verstaatlichung aller Unternehmen. Aber der Staat will entscheiden, was diese machen. "
Argentinische Unternehmer klagen über einen Verlust von Rentabilität durch staatliche Preisregulierung - etwa bei Lebensmitteln wie Milch und Fleisch - und durch Exportbeschränkungen, von denen Fleisch und Benzin betroffen sind. Dahinter steht das Bemühen der Regierung, den Preisanstieg für Nahrung und Treibstoff im Inland zu bremsen. Eine kurzsichtige Politik mit verheerenden Folgen, meint der politische Analyst Rosendo Fraga:
"Argentinien hat beschlossen, seine Exporte zu zerstören. Unser kleiner Nachbar Uruguay exportiert inzwischen mehr Fleisch als wir! Kein Land der Region macht so eine Politik wie wir. Wonach streben denn heute Schwellenländer? Sie wollen Energie- und Lebensmittel-Exporteure sein. Argentinien kann beides exportieren. Aber wenn wir so weiter machen, werden wir zum Importland für Energie und Nahrungsmittel. Wir müssen die Exporte freigeben und den Armen durch Subventionen billiges Essen garantieren, ganz einfach! "
Argentinien mit seinen Öl- und Gasvorkommen war lange Zeit unabhängig von Energieimporten. Doch seit einigen Jahren muss das Land Schweröl von Venezuela und Gas von Bolivien kaufen. Der Grund: das Einfrieren der Energiepreise nach der Wirtschaftskrise 2001/2002 hat Argentinien in eine Versorgungskrise rutschen lassen. Nach der drastischen Abwertung des Peso wollte die Regierung zu hohe Gas- und Strompreise für die zum Teil verarmte Bevölkerung vermeiden.
Doch mit der Wiederbelebung der Konjunktur stieg die Nachfrage, während das Angebot sank. Den Energieerzeugern fehlt bei den niedrigen Preisen der Anreiz für Investitionen. Die argentinische Gas- und Ölproduktion geht seit Jahren zurück. Venezuela unter Präsident Hugo Chavez ist nicht nur durch seine Öllieferungen zu einem unverzichtbaren Partner für die Kirchner-Regierung geworden. Chavez hat seit der Krise argentinische Staatsanleihen für mehrere Milliarden US-Dollar gekauft, zuletzt zu einem üppigen Zinssatz von fünfzehn Prozent.
Die Abhängigkeit von dem zentralamerikanischen Caudillo ist der argentinischen Opposition ein Dorn im Auge. Fernando Iglesias, Abgeordneter der Bürgerkoalition:
"Weil Argentinien 2002 seine Zahlungsunfähigkeit erklärte und noch offene Schulden hat, besaß es keinen Zugang zu den internationalen Finanzmärkten. Dadurch wurden wir von Chavez abhängig, zu diesem hohen Preis."
Der Experte für Internationale Beziehungen Carlos Escudé von der Universität CEMA in Buenos Aires meint, trotz der argentinischen Abhängigkeit von Öl und Krediten gebe es in der politischen Beziehung zu Venezuela klare Grenzen.
"Hugo Chavez hat versucht, die Regierungen von Nestor und Cristina Kirchner in seine Allianz mit Iran hineinzuziehen. Argentinien hat immer Nein gesagt. Nicht nur das - sowohl Nestor als auch Cristina Kirchner haben vor der
UN-Vollversammlung Iran kritisiert. Das war vor allem eine Botschaft an Chavez. Das Verhältnis Argentiniens zu Venezuela ist finanzieller und energiepolitischer Natur. Aber die politischen Beziehungen zu Chavez sind auch wichtig. Denn gemeinsam mit anderen südamerikanischen Ländern ist es in diesem Jahr etwa gelungen, zu verhindern, dass sich die Spannungen zwischen Venezuela und Kolumbien nicht noch größer wurden."
Gute Beziehungen zu den Nachbarn in Südamerika hätten für Argentinien Vorrang, sagt Politikwissenschaftler Escudé. Für wichtig hält er auch das Verhältnis zu den USA, das besser sei als sein Ruf. Denn in entscheidenden Fragen ziehe Buenos Aires mit Washington an einem Strang: zum Beispiel bei der Terrorismusbekämpfung, beim Kampf gegen Drogenhandel und der Nichtverbreitung von Atomwaffen.
Vor einem Jahr übernahm Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner den Amts-Stab von ihrem Mann Nestor. Vieles ist gleich geblieben, manches hat sich verändert. Die Präsidentin ist reiselustiger als ihr Vorgänger. Doch zuhause hält sie - genau wie er - keine Kabinetts- Sitzungen ab. Cristina hat nicht nur viele Minister, sondern auch den Regierungsstil übernommen. Nur einmal machte sie eine Ausnahme: Auf dem Tiefpunkt ihrer Popularität gab sie im Juli die erste Präsidenten-Pressekonferenz der Ära Kirchner. Dabei betonte sie:
"Alles, was ich gemacht habe, würde ich noch einmal so machen."
Tausende sind an diesem heißen November-Nachmittag gekommen, um gegen die geplante Rentenreform zu protestieren. Die Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner hatte überraschend angekündigt, dass die privaten Rentenfonds verstaatlicht werden sollen. Mit deren Einführung 1994 konnten die Argentinier sich aussuchen, ob sie ihre Beiträge in die staatliche Rentenkasse oder in einen privaten Fonds zahlen wollen.
Und nun plötzlich die Verstaatlichung. Auf dem Höhepunkt der internationalen Finanzkrise erklärt Präsidentin Kirchner, sie wolle das Vermögen der Rentner gegen Verluste an den Kapitalmärkten schützen.
"Wir brauchen eine strukturelle und strategische Veränderung, um unsere Rentner zu schützen. Wenn in den USA, Frankreich oder Deutschland der Staat eingreift, wird das als sympathisch oder intelligent betrachtet. Aber wenn wir bei uns Maßnahmen zur Verteidigung des Staates ergreifen, heißt es: schon wieder diese Staatsinterventionisten, diese Nostalgiker."
Doch das Argument, die Regierung wolle die Rentner schützen, nehmen viele Argentinier der Präsidentin nicht ab. "Wir sagen Nein zur Plünderung" steht auf den Transparenten, die die Demonstranten vor dem Kongressgebäude hochhalten, oder auch "Nein zum Raub der K." Das K steht für die Kirchners, Cristina und ihren Mann und Vorgänger Nestor Kirchner.
"Ich will nicht, dass man mir meine Ersparnisse raubt. Ich habe mich für einen privaten Rentenfonds entschieden. Das ist mein Geld. In das staatliche Rentensystem habe ich kein Vertrauen. Unsere Regierungen haben sich immer an den Renten vergriffen, "
sagt ein älterer Mann bei der Demonstration. Auch die meisten Oppositionsparteien sind gegen die Verstaatlichung der privaten Rentenfonds. Sie werfen der Regierung vor, Kasse machen zu wollen. Mit den Rentenfonds gehen immerhin mehr als siebzehn Milliarden Euro in Staatsbesitz über. Fernando Iglesias, Abgeordneter der oppositionellen Bürgerkoalition:
"Ich glaube, das wird schlimme Folgen für die argentinische Wirtschaft haben. Es kann doch keiner in einem Land investieren, in dem das Privateigentum der Rentner von der Regierung als Piratenbeute betrachtet wird."
Die Privatrenten-Verstaatlichung hatte auch Spekulationen über einen eventuell drohenden neuen Staatsbankrott Argentiniens ausgelöst. Inzwischen ist sie Gesetz. In nur zwei Wochen wurde sie von beiden Parlamentskammern abgesegnet. Agustín Rossi, Fraktionschef des mächtigen Kirchner-Bündnisses im Abgeordnetenhaus, rechtfertigt die Abschaffung des zweigleisigen und seiner Ansicht nach perversen Systems:
"Ein Großteil der Bürger zahlte in die privaten Rentenfonds ein. Die Rentenempfänger wiederum blieben im staatlichen System. Was machte also der Staat, um diese Renten zu bezahlen? Er lieh sich Geld von den privaten Rentenfonds. Diese aber kassierten dafür Zinsen. Und um diese Zinsen zu bezahlen, trieb der Staat Geld von den Bürgern ein. "
Die Rentenreform, die heftige Kursstürze an der Börse von Buenos Aires auslöste, war das umstrittenste Projekt der Regierung Kirchner in der zweiten Jahreshälfte. Nachdem Cristina Kirchner die Präsidentschaft vor einem Jahr von ihrem Mann Nestor übernahm, wurden die ersten sechs Monate ihrer Amtszeit von einem ebenfalls kontroversen Thema dominiert: der Erhöhung der Ausfuhrsteuern auf Soja.
Die Ölsaat Soja - gentechnisch verändertes Soja - ist seit Jahren der Exportschlager der argentinischen Landwirtschaft. Wegen des hohen Weltmarktpreises erzielten die Produzenten damit glänzende Gewinne, von denen der Staat durch stetig steigende Exportsteuern und andere Abgaben einen guten Teil abschöpfte. Als die Regierung im Februar schließlich die Einführung einer Weltmarktpreis-abhängigen Exportsteuer ankündigte, begann der größte Bauernprotest in der argentinischen Geschichte. Monatelang brachten die Landwirte ihren Unmut mit Straßenblockaden, Streiks und Lieferstopps zum Ausdruck.
In Buenos Aires unterstützten viele Hauptstadt-Bewohner den Bauernprotest mit so genannten Cacerolazos, dem Trommeln auf Kochtöpfe. Auf diese Weise war zuletzt zum Jahreswechsel 2001/2002 während der dramatischen Finanzkrise demonstriert worden, was zum Rücktritt des damaligen Präsidenten Fernando de la Rua beitrug.
Die Regierung Kirchner reagierte auf den hartnäckigen Widerstand der Landwirte mit mehreren Großkundgebungen, bei denen die Präsidentin die Exportsteuer-Erhöhung verteidigte.
"Als ich die Entscheidung traf, um eine gerechtere Einkommensverteilung zu erreichen, tat ich das nicht, um jemandem zu schaden. Sondern, damit alle Argentinier ein bisschen besser leben können. "
Erst unter dem Druck der Protestierenden ließ die argentinische Regierung schließlich den Kongress über die Einführung der Weltmarktpreis-abhängigen Exportsteuer auf Soja abstimmen. Nach der Zustimmung der Abgeordnetenkammer kam es im Senat zum Patt - und damit zu einer Situation, in der die Stimme des Vizepräsidenten den Ausschlag gab.
Der Satz "Meine Stimme ist nicht positiv" von Julio Cobos besiegelte am 17. Juli das Scheitern des Regierungsprojekts und damit das Ende des Konflikts mit den Agrarproduzenten. Außerdem besiegelte das negative Votum des Vize-Präsidenten sein Zerwürfnis mit Cristina Kirchner. Seitdem fristet Cobos, dessen politische Gruppierung bei der Wahl mit dem Kirchner-Bündnis angetreten war, in der Regierung eine Art Schattendasein.
Aber auch die Präsidentin ging nicht unbeschadet aus dem Konflikt hervor. Hatten im Januar noch 56 Prozent der Befragten ein positives Bild von Cristina Kirchner, waren es im Juni nur noch zwanzig Prozent. Seitdem ist der Zustimmungswert nur leicht gestiegen: auf 25 bis 30 Prozent. Viele Argentinier sehen die Verstaatlichung der privaten Rentenfonds in einer Linie mit der fehlgeschlagenen Exportsteuer-Erhöhung und anderen Geldbeschaffungsversuchen der Kirchner-Regierung:
"Nach dem gescheiterten Versuch, einen noch größeren Teil der Einnahmen der Landwirte einzustreichen, kündigte die Präsidentin völlig überraschend an, Argentinien werde seine Schulden beim Pariser Club bezahlen. "
Juan Buchet, argentinischer Korrespondent der französischen Wirtschaftszeitung La Tribune:
"Noch kurz zuvor hatte sie gesagt, dass die Tilgung dieser Schulden keine Priorität hätte. Nun aber ging es darum, wieder Zugang zu den Finanzmärkten zu bekommen und Kredite aufnehmen zu können. Als diese Rechnung wegen der globalen Finanzkrise nicht aufging, eignete sich die Regierung kurzerhand die mehr als siebzehn Milliarden Euro aus den privaten Rentenfonds an. "
Dass das Bemühen, um jeden Preis die Staatskasse zu füllen, in Argentinien mit Misstrauen betrachtet wird, hat einen einfachen Grund: Cristina und ihr Mann und Vorgänger Nestor Kirchner stehen im Ruf, staatliche Gelder willkürlich und zum eigenen Machterhalt einzusetzen. Fernando Iglesias, Abgeordneter der oppositionellen Bürgerkoalition und Autor eines Buches über das System Kirchner:
"Der Kirchnerismus ist ein System der Machtkonzentration. Es gleicht in vielerlei Hinsicht einer absolutistischen Monarchie, in der das Parlament und die anderen Staatsgewalten wie Leibeigene im Dienste des Präsidenten betrachtet werden. In diesem System existiert sogar, wie in einer Monarchie, ein Herrscherpaar. De facto heißt der argentinische Präsident immer noch Nestor Kirchner. Er trifft die Entscheidungen. Grundlage dieses autoritären Systems ist die Verfügungsgewalt über eine enorme Kasse. Mit diesem Geld manipuliert das Präsidentenpaar Provinzgouverneure, Lokalpolitiker und Gewerkschaften. "
Begünstigt wird dieses Vorgehen durch das System, das in Argentinien die Zuteilung der Steuereinnahmen von der Nationalregierung an die 24 Provinzen regelt. Dessen Reform ist seit langem überfällig. Auch die besonderen Vollmachten, mit denen sich die Exekutive nach der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise vor sieben Jahren ausstattete, sind immer noch in Kraft. Der Abgeordnete Fernando Iglesias:
"Wenn wir im Parlament über den Haushalt abstimmen, können wir in Wirklichkeit nicht über die Höhe der Ausgaben entscheiden, weil die Präsidentin mit einem Notstandsdekret die Summe jederzeit erhöhen kann. Auch wie das Geld ausgegeben wird, kann das Parlament nicht wirklich festlegen, da der Kabinettschef über so genannte Supervollmachten verfügt und den einzelnen Haushaltsposten Mittel neu zuteilen kann. "
Argentinien zum Jahreswechsel 2001/2002: Es herrscht Weltuntergangsstimmung. Nach einem Jahrzehnt neoliberaler Politik kollabieren Wirtschaft und Finanzsystem des hochverschuldeten südamerikanischen Landes. Argentinien muss seine Zahlungsunfähigkeit erklären. Die an den US-Dollar gekoppelte Währung Peso wird massiv abgewertet. Sparkonten werden eingefroren. Die Hälfte der Argentinier rutscht unter die Armutsgrenze, soziale Unruhen erschüttern das Land.
Dem tiefen Fall folgt eine baldige Erholung der argentinischen Wirtschaft. Ab 2003 verzeichnet sie Wachstumsraten von jährlich zwischen siebeneinhalb und neun Prozent. In jenem Jahr tritt Präsident Nestor Kirchner sein Amt an.
"Nach der Krise gab es einen klaren wirtschaftspolitischen Kurswechsel."
Aldo Ferrer, angesehener argentinischer Ökonom.
"Die Wirtschaftspolitik der Kirchners ist eine unorthodoxe Politik, in der der Staat eine Rolle spielt. In dieser Hinsicht war Argentinien den internationalen Ereignissen einen Schritt voraus, denn angesichts der globalen Finanzkrise hat der Staat nun überall wieder ein starkes Gewicht. Die argentinische Wirtschaftspolitik der letzten Jahre hing nicht vom guten Willen der Finanzmärkte ab, sondern von Maßnahmen, die die Ordnung wiederhergestellt haben. Und die Wirtschaft hat darauf mit starkem Wachstum reagiert, aber es gibt noch ungelöste Probleme im sozialen Bereich. Unsere Wirtschaft ist heute in einer stärkeren Position als in der Vergangenheit. Es gibt einen großen Handels- und Haushaltsüberschuss und hohe Zentralbank-Reserven."
Doch die Folgen der internationalen Finanzkrise bedrohten auch Argentinien, meint Aldo Ferrer, nicht zuletzt wegen des Verfalls der internationalen Rohstoffpreise. Als Exporteur von Agrarrohstoffen wie Soja hatte die argentinische Wirtschaft in den vergangenen Jahren stark vom hohen Preisniveau profitiert.
Die meisten argentinischen Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass sich nach Jahren des Aufschwungs das Wachstum im kommenden Jahr deutlich abschwächen wird. Die Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner kündigte als Reaktion auf die internationale Finanzkrise eine Reihe von Maßnahmen an. Das Ziel: die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Aktivität und die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Erreicht werden soll dies einerseits durch die Förderung der heimischen Produktion und privater Investitionen, andererseits durch öffentliche Infrastruktur-Maßnahmen. Um den Bau von Straßen, Wohnungen oder Krankenhäusern zu finanzieren, will die Regierung auf einen Teil des Geldes aus den vor kurzem verstaatlichten Privatrentenfonds zurückgreifen.
Nach Meinung von Juan Buchet, Korrespondent der französischen Wirtschaftszeitung La Tribune, ist der Kirchner'sche Anti-Krisen-Plan auch vor dem Hintergrund der Wahlen im nächsten Jahr zu sehen:
"Die Regierung will die Wirtschaft mit Blick auf die Parlamentswahlen im Oktober 2009 in Gang halten. Die öffentlichen Investitionen werden wahrscheinlich in diejenigen Provinzen und Kommunen fließen, die sich ruhig verhalten und die Regierung unterstützen. Auch da, wo Wählerstimmen gebraucht werden, wird es Baumaßnahmen geben."
Buchet glaubt, dass der Anti-Krisen-Plan wohl nicht ausreichen wird, um Argentiniens Wirtschaft vor schweren Turbulenzen zu bewahren, sondern dass strukturelle Veränderungen nötig sind. Wie er sind auch viele andere Experten der Ansicht, dass die wirtschaftspolitischen Rezepte, die dem Land aus der Krise halfen, dringend modifiziert werden müssen. Rosendo Fraga, Meinungsforscher und politischer Analyst, kritisiert das, was er ein autoritäres Wirtschaftsmodell nennt:
"Der Staat trifft die wirtschaftlichen Entscheidungen. Es geht nicht notwendigerweise um die Verstaatlichung aller Unternehmen. Aber der Staat will entscheiden, was diese machen. "
Argentinische Unternehmer klagen über einen Verlust von Rentabilität durch staatliche Preisregulierung - etwa bei Lebensmitteln wie Milch und Fleisch - und durch Exportbeschränkungen, von denen Fleisch und Benzin betroffen sind. Dahinter steht das Bemühen der Regierung, den Preisanstieg für Nahrung und Treibstoff im Inland zu bremsen. Eine kurzsichtige Politik mit verheerenden Folgen, meint der politische Analyst Rosendo Fraga:
"Argentinien hat beschlossen, seine Exporte zu zerstören. Unser kleiner Nachbar Uruguay exportiert inzwischen mehr Fleisch als wir! Kein Land der Region macht so eine Politik wie wir. Wonach streben denn heute Schwellenländer? Sie wollen Energie- und Lebensmittel-Exporteure sein. Argentinien kann beides exportieren. Aber wenn wir so weiter machen, werden wir zum Importland für Energie und Nahrungsmittel. Wir müssen die Exporte freigeben und den Armen durch Subventionen billiges Essen garantieren, ganz einfach! "
Argentinien mit seinen Öl- und Gasvorkommen war lange Zeit unabhängig von Energieimporten. Doch seit einigen Jahren muss das Land Schweröl von Venezuela und Gas von Bolivien kaufen. Der Grund: das Einfrieren der Energiepreise nach der Wirtschaftskrise 2001/2002 hat Argentinien in eine Versorgungskrise rutschen lassen. Nach der drastischen Abwertung des Peso wollte die Regierung zu hohe Gas- und Strompreise für die zum Teil verarmte Bevölkerung vermeiden.
Doch mit der Wiederbelebung der Konjunktur stieg die Nachfrage, während das Angebot sank. Den Energieerzeugern fehlt bei den niedrigen Preisen der Anreiz für Investitionen. Die argentinische Gas- und Ölproduktion geht seit Jahren zurück. Venezuela unter Präsident Hugo Chavez ist nicht nur durch seine Öllieferungen zu einem unverzichtbaren Partner für die Kirchner-Regierung geworden. Chavez hat seit der Krise argentinische Staatsanleihen für mehrere Milliarden US-Dollar gekauft, zuletzt zu einem üppigen Zinssatz von fünfzehn Prozent.
Die Abhängigkeit von dem zentralamerikanischen Caudillo ist der argentinischen Opposition ein Dorn im Auge. Fernando Iglesias, Abgeordneter der Bürgerkoalition:
"Weil Argentinien 2002 seine Zahlungsunfähigkeit erklärte und noch offene Schulden hat, besaß es keinen Zugang zu den internationalen Finanzmärkten. Dadurch wurden wir von Chavez abhängig, zu diesem hohen Preis."
Der Experte für Internationale Beziehungen Carlos Escudé von der Universität CEMA in Buenos Aires meint, trotz der argentinischen Abhängigkeit von Öl und Krediten gebe es in der politischen Beziehung zu Venezuela klare Grenzen.
"Hugo Chavez hat versucht, die Regierungen von Nestor und Cristina Kirchner in seine Allianz mit Iran hineinzuziehen. Argentinien hat immer Nein gesagt. Nicht nur das - sowohl Nestor als auch Cristina Kirchner haben vor der
UN-Vollversammlung Iran kritisiert. Das war vor allem eine Botschaft an Chavez. Das Verhältnis Argentiniens zu Venezuela ist finanzieller und energiepolitischer Natur. Aber die politischen Beziehungen zu Chavez sind auch wichtig. Denn gemeinsam mit anderen südamerikanischen Ländern ist es in diesem Jahr etwa gelungen, zu verhindern, dass sich die Spannungen zwischen Venezuela und Kolumbien nicht noch größer wurden."
Gute Beziehungen zu den Nachbarn in Südamerika hätten für Argentinien Vorrang, sagt Politikwissenschaftler Escudé. Für wichtig hält er auch das Verhältnis zu den USA, das besser sei als sein Ruf. Denn in entscheidenden Fragen ziehe Buenos Aires mit Washington an einem Strang: zum Beispiel bei der Terrorismusbekämpfung, beim Kampf gegen Drogenhandel und der Nichtverbreitung von Atomwaffen.
Vor einem Jahr übernahm Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner den Amts-Stab von ihrem Mann Nestor. Vieles ist gleich geblieben, manches hat sich verändert. Die Präsidentin ist reiselustiger als ihr Vorgänger. Doch zuhause hält sie - genau wie er - keine Kabinetts- Sitzungen ab. Cristina hat nicht nur viele Minister, sondern auch den Regierungsstil übernommen. Nur einmal machte sie eine Ausnahme: Auf dem Tiefpunkt ihrer Popularität gab sie im Juli die erste Präsidenten-Pressekonferenz der Ära Kirchner. Dabei betonte sie:
"Alles, was ich gemacht habe, würde ich noch einmal so machen."