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Das Experiment des "offenen Politikers"

Auch wenn altgediente Kollegen anderer Parteien belustigt den Kopf schütteln: Marina Weisband lebt ihre Idee des "offenen Politikers" vor: Während andere Politiker jedes Wort auf die Goldwaage legen, chattet, bloggt und twittert die 24-Jährige über das, was ihr spontan einfällt.

Von Melanie Longerich |
    Kellnerin:"Bitte schön, was darf’s sein?"

    Weisband:"Für mich einen Latte Macchiato und ein Croissant."

    Kellnerin:"Ok."

    Früher Nachmittag in einer kleinen Bäckerei am Münsteraner Hauptbahnhof. Verschlafen und etwas blass sieht Marina Weisband aus, während sie sich aus ihrem schwarzen Mantel schält. Ihr Freund Markus Rosenfeld kommt gerade aus der Uni und sitzt hellwach daneben. Seit Weisband als politische Geschäftsführerin im Bundesvorstand der Piratenpartei sitzt, tippt sie politische Texte - statt Hausarbeiten für ihr Psychologiestudium:

    "Ich hab mir in letzter Zeit angewöhnt, von Mitternacht bis vier Uhr morgens zu arbeiten, weil das das Zeitfenster ist, wo ich nicht von Journalisten angerufen werde und auch nicht von Piraten genervt, sondern dann kann ich in Ruhe Texte tippen. Ich schlaf dann irgendwie halt bis Mittags, wobei ich heute schon wieder geweckt wurde von N24""

    Kellnerin: "Bitteschön, guten Appetit wünsche ich Ihnen dann."

    Weisband:"Dankeschön."

    N24, Günter Jauch, Maybrit Illner: Die zarte und eloquente 24-Jährige mit den ständig wechselnden Zopffrisuren ist gern gesehener Interview- und Talkshowgast. Trotz ihrer Ankündigung, Ende April auf dem Bundesparteitag der Piraten nicht mehr zu kandidieren. Auch ohne politisches Amt kann sie politische Themen platzieren, sagt sie:

    "Dass das Früchte trägt, zeigt ja auch den ganzen Rummel um meine Person, der ja eben nicht nur an meinem Lippenstift begründet ist, sondern auch so an den Ideen, die ich so äußere.""

    Ideen hat die gebürtige Ukrainerin viele. Besonders was die politische Zunft betrifft. Sie will einen neuen Politiker-Typ, einen "offenen Politiker" – wie sie es nennt. Einen, der authentisch und nachvollziehbar in seinem Handeln ist – und so anderen Lust macht, sich auch einzumischen. Wie die alten Routiniers auf der Berliner Bühne wollte sie nie sein:

    "Politiker machen keine Fehler. Das ist zumindest das, was sie verkaufen wollen. Und das ist etwas, was nicht stimmt. Diesen Widerspruch entdecken immer mehr die Bürger."

    Die Piratin will es anders machen - und zeigt sich in allen Facetten. Auf ihrem Blog "Marinas Lied" erfährt der Leser – und damit der Bürger – eine ganze Menge über sie, ihre Interessen, ihre politischen Ansichten. Die gläubige Jüdin schreibt über ihre Religion – und über Dostojewski, den sie liest. Sie malt - und veröffentlicht die Bilder auf ihrer Webseite. Daneben twittert sie zum Datenschutz. Und findet sie eine Zugfahrt langweilig, twittert sie auch das. Ihre Idee eines "offenen Politikers" – Weisband lebt sie vor.

    "Wir werden zeigen, man kann als Mensch mit seinen Fehlern in der Politik aktiv sein kann. Und dafür habe ich mich dann als Beispiel sozusagen aufgestellt und habe versucht, von mir demonstrativ Privates und Politisches nicht zu trennen."

    20.000 Follower lesen nun alles, was ihr schon morgens im Bett kurz nach dem Aufwachen einfällt: Ihre Ansicht zum Sozialverhalten von Computer-Freaks. Ihre Meinung zum bedingungslosen Grundeinkommen oder zur Aufarbeitung des Holocaust. Twittern oder Frühstücken? Marina Weisband würde sich jederzeit fürs Twittern entscheiden, sagt sie und bohrt in ihrem Croissant. Während andere Politiker jedes Wort auf die Goldwaage legen – veröffentlicht sie, was ihr spontan einfällt. Dass das Netz nichts vergisst, stört sie nicht:

    "Ich stehe zu allem, was ich sage. Und vieles von dem, was ich sage, wird sich im Nachhinein als Fehler rausstellen. Und wenn sich das in zehn Jahren als falsch erweist, dann werde ich das genauso sagen. Und ich stehe dazu, dass ich diese Fehler gemacht habe."

    Marina Weisband will in der Politik Mensch sein - und keine Allzweckwaffe. Sie will nicht auf alle Fragen sofort Antworten parat haben, sondern nachdenken dürfen – auch öffentlich. Altgediente Kollegen anderer Parteien schütteln über so viel Offenheit belustigt den Kopf. Weisband nimmt’s gelassen:

    "Die alten, weißen Männer sagen mir immer: Ja, das ist ja jetzt ganz putzig, was Sie sich zusammengesponnen haben, aber Sie werden mit dem Konzept ja eh scheitern. Natürlich sichern sie sich dadurch ihre bequeme Stellung. Denn mein Gott, es ist bequem Politik zu machen im Moment. Man ist niemandem Rechenschaft schuldig, man kann machen, was man will. Man hat 10 000 Referenten und Vorzimmerdamen, die einen beschützen vor der großen, weiten Welt. Man verliert vollkommen den Kontakt zur Welt."

    Während seine Freundin noch schildert, wie sich die Politikerkaste – ihrer Meinung nach – vom Bürger abschottet, stupst Markus Rosenfeld sie sanft von der Seite an und schiebt ihr sein Smartphone unter die Nase: Dort laufen neue Tweets zum Anti-Piraterie-Abkommen ACTA ein. Beide werden dabei sein, wenn übermorgen gegen das Abkommen in über 50 deutschen Städten demonstriert wird:

    Rosenfeld: "... Da wurde Acta dargestellt als der Kampfroboter aus Robocop, der gerade einen der armen Internetaktivisten plattstampft."
    Weisband: "Das ist aber schon ein wenig polemisch."
    Rosenfeld: "Das macht doch überhaupt nichts."
    Weisband: "Doch das macht schon was."
    Rosenfeld: "Nein, das macht überhaupt nichts. Dieses Thema ist so unbekannt, dass ..."

    Ihre kleine offline-Kabbelei führt das Paar gerne auch online. Das können dann alle auf Twitter verfolgen – und sich einmischen. Wirklich private Dinge aber kommen auch bei den beiden nicht ins Netz: Anders als die Post-Privacy-Bewegung, die nicht mehr trennen will zwischen Öffentlichem und Privatem, ist für sie Privatsphäre kein Relikt der vordigitalen Ära. Denn: wer zu viel von sich preisgibt, ist ohne Schutz – weiß Marina Weisband. Antisemitische Mails, die die Jüdin anfangs noch empörten, klickt sie heute einfach weg. Kritik an politischen Aussagen aber, versucht sie anzunehmen – auch wenn es manchmal am Ego kratzt. Kontroversen um Inhalte gehören nun mal zum digitalen Politikgeschäft dazu, sagt sie. Freund Markus tut sich da schwerer:

    "Selbstverständlich trifft es mich auch, wenn Marina davon betroffen wird in manchen Fällen Wenn jemand dort schreibt tatsächlich bewusst unfair, bewusst provozierend, beleidigend und diffamierend. Natürlich macht einen das wütend, wenn das einen Menschen trifft, der einem so nahe steht."

    Ist ihr Selbstversuch, ihr Experiment einer "offenen Politikerin" also gescheitert? Hört sie damit auf, wenn sie Ende April aus dem Bundesvorstand der Piraten ausscheidet? Marina Weisband schüttelt den Kopf:

    "Ich ziehe mich nicht zurück, ich nehme Anlauf. Danach geht das unvermittelt weiter. Ich glaube, dass ich jetzt demonstrieren kann: Wisst Ihr was: Ihr solltet ein Leben vor der Politik haben und Ihr solltet eines danach haben. Damit Ihr Euch nicht so krallen müsst an die Politik."