Archiv


Das finnische Goldkind

Am 19. Juni 1924 läuft Paavo Nurmi zwei Weltrekorde - innerhalb von 50 Minuten. Kurz vor den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles wird er vom IOC zum Profi erklärt und lebenslang für Olympia gesperrt. Erst 1952, zur Eröffnung der Spiele von Helsinki, kehrt Nurmi auf die olympische Bühne zurück.

Von Thomas Jaedicke |
    "Nurmi kommt. Mit langem Schritt, wie wir ihn sahen, als er noch jünger war. Paavo Nurmi, das Idol von Finnland, der die Fackel des Sportes hierher trug."

    50.000 im Stadion von Helsinki haben sich erhoben, jubeln; stolz und gerührt. Für die Funktionäre des Internationalen Olympischen Komitees ist es dagegen ein Schlag ins Gesicht, dass am Abend des 19. Juli 1952 ausgerechnet Paavo Nurmi als letzter Fackelläufer das olympische Feuer in die Arena tragen darf. Für den hageren, 55-jährigen Läufer auf der Aschenbahn ist es eine späte Genugtuung.

    "Jetzt ist er in der Südkurve, läuft auf das Fackelbecken zu und die Flamme flackert auf im Becken unter der olympischen Flagge mit den fünf Ringen."

    20 Jahre zuvor, 1932 in Los Angeles, wollte der Langstreckenspezialist seine Karriere mit einem Olympiasieg im Marathonlauf krönen. Es wäre sein zehntes Olympiagold gewesen. Doch kurz vor Beginn der Wettkämpfe in den USA fliegt Nurmi auf. Der Schwede Sigfrid Edström, Präsident des Leichtathletikverbandes, präsentiert Abrechnungen, aus denen hervorgeht, dass der geschäftstüchtige Finne Personen erfunden hat, um mehr Reisespesen einstreichen zu können. Das IOC erkennt zusätzlich auf Verletzung des Amateurstatuts und erklärt Nurmi zum Berufsläufer. Paavo Nurmi darf nie wieder bei Olympia starten.

    Nicht nur Nurmi ist durch die harte Bestrafung irritiert. Sind doch immer schnellere Zeiten und immer sensationellere Leistungen, die das Publikum elektrisieren, nur möglich, wenn die Athleten ihren Sport zum Beruf machen.

    "Die Erinnerungen gehen zurück in die 20er-Jahre. Wir sehen ihn noch die Aschenbahnen Europas umkreisen. Wir sehen dieses markante Gesicht mit den herausgemeißelten Backenknochen. Der große Schweiger wurde er genannt."

    1924 ist Paavo Nurmis bestes Jahr. Am 19. Juni testet er bei einem Vorbereitungswettkampf in Helsinki seine Olympiaform. Weil er weiß, dass die Läufe auch bei den Spielen in Paris kurz hintereinander angesetzt sind, wählt er in der finnischen Hauptstadt einen ähnlich engen Zeitplan. Innerhalb von 50 Minuten stellt er auf einer sehr schlechten, sandigen Bahn zwei neue Weltrekorde auf. Den 1500-Meter-Rekord verbessert er um zwei Sekunden auf 3:52,6 Minuten. Seine 5000-Meter-Zeit von 14:28,2 ist knapp sieben Sekunden schneller als die alte Bestmarke, die er selbst zwei Jahre zuvor in Stockholm aufgestellt hatte.

    Auch drei Wochen später in Paris tritt er zunächst über 1500 Meter an. Von Anfang an in Führung liegend, wirft Nurmi ab und zu einen Blick auf die Stoppuhr in seiner linken Hand, um seinen persönlichen Zeitplan zu kontrollieren. Locker läuft der Mann im weißen Trikot mit dem blauen Kreuz auf der Brust das Rennen nach Hause, lässt der Konkurrenz keine Chance. 45 Minuten später startet der unerbittliche Finne im 5000-Meter-Rennen. Zu diesem Zeitpunkt liegt Henry Stallard, über 1500 Meter immerhin Dritter, noch im Krankenhaus. Im Ziel war der Engländer vor Überanstrengung bewusstlos zusammengebrochen. Die "Deutsche Zeitung" erkennt:

    "Er war barbarisch hart gegen sich selbst. Er rauchte nicht, trank keinen Alkohol, ging weder ins Kino noch ins Theater und gönnte sich nichts."

    Weil Nurmi in Paris schon fünf Goldmedaillen geholt hat, beschließt die Mannschaftsleitung der Finnen, ihn im Einzelrennen über 10.000 Meter nicht mehr starten zu lassen. Das Rennen gewinnt sein Landsmann Ritola in 30 Minuten und 23 Sekunden. Zur gleichen Zeit soll Paavo Nurmi auf einem Nebenplatz, trotzig und allein, dieselbe Strecke gelaufen sein. Seine Zeit: 29 Minuten und 58 Sekunden.
    Im Januar 1925 startet Paavo Nurmi eine Wettkampftournee in Nordamerika. In 140 Tagen absolviert er zwischen Los Angeles und Montreal 55 Rennen, gewinnt 54 Mal und verdient 250.000 Dollar. Weil Nurmi in den USA von Sieg zu Sieg eilt, sollen die enthusiastischen Amerikaner dem armen Finnland eine großzügige Finanzanleihe gewährt haben. Die "Deutsche Zeitung" schrieb: "Nurmi war Finnland und Finnland war Nurmi."