"Ich glaube, es ist eine innere Entwicklungsgeschichte einer zentralen Figur, dieses Kindes, das zunächst stumm ist und dann aus dieser Stummheit zu einer Sprache findet - zu einer sehr merkwürdigen am Anfang, es ist eine sehr eigene reduzierte Sprache und diese Sprache mithilfe der Musik weiter entwickelt. Es kam mir nicht so sehr darauf an, diese ganzen äußeren Szenarien, die ja gleichzeitig mitlaufen, auch noch abzubilden. Die Geschichte beginnt ja in den 50er-Jahren und umfasst einen Bogen von fast 50 Jahren. Die äußere Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik etwa oder die Kulturgeschichte der kleinen Dinge - was haben die Menschen gegessen, was haben sie gelesen - das war für mich nicht von Gewicht. Es war kein Kempowski-Projekt, sondern genau das Gegenteil, das Projekt einer inneren Entwicklungsgeschichte, der Psychologie einer Entwicklung, darauf liegt das Gewicht."
Rund zehn Jahre brauchte Hanns-Josef Ortheil, um diesen Roman seiner Kindheit zu schreiben; immer wieder unterbrochen von Innehalten, Erschrecken, Zweifeln, ob sich diese persönliche Geschichte überhaupt erzählen lässt. Er wuchs auf als stummes Kind einer stummen Mutter; erst mit sieben Jahren begann er durch ein anrührendes Erlebnis zu sprechen. Das Klavierspiel war lange Zeit sein Ersatz für den Ausschluss aus der Welt und das Eingesperrtsein in die Stummheit, durch die Musik konnte sich das Kind bemerkbar machen. Der Heranwachsende war talentiert und sollte ein großer Pianist werden - eine Sehnenscheidenentzündung machte dieser Karriere ein jähes Ende. Wieder eine traumatische Erfahrung, die alle Hoffnungen auf die Zukunft zerstörte.
"Ich bin einfach relativ stark dem autobiografischen Material gefolgt, auch wenn ich manchmal gestutzt habe, als wäre alles Autobiografische zugleich schon Roman. Das hat mich teilweise ganz außerordentlich verblüfft an dieser Arbeit. Ich habe teilweise zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können. Ich wollte keine Autobiografie schreiben. Ich habe also die mir unwesentlich erscheinenden faktischen Dinge, die Fülle der ganzen Begegnungen, die ich in meiner Kindheit und Jugend hatte, oder die sieben Klavierlehrer, die müssen ja nicht alle vorkommen, da kann man einen nehmen, den wichtigsten, oder auch die Orte, an denen ich gelebt habe, die sind zum Teil nicht von großer Bedeutung für mich gewesen. Dann lass ich sie halt weg und konzentriere mich auf den einen großen Ort, das ist Köln. Also es ist keine Autobiografie, aber die gesamten Szenen sind so etwa vorgefallen. Im Kern sind diese Szenen alle erlebt und sind so gewesen, wie ich sie dargestellt habe."
Johannes, das Kind, und die beiden Eltern leben wie in einem Geheimbund, abgeschirmt, aber auch isoliert von der Außenwelt:
Jeder hatte seine Rolle und hielt sich genau daran, das gab uns eine kurzfristige Sicherheit und band uns eng aneinander. Wir drei waren sogar so eng miteinander verbunden, dass jeder von uns sofort in Panik geriet, wenn unsere Rituale durch irgendeine Kleinigkeit durcheinandergerieten. Meist kamen sie durch Entwicklungen von außen durcheinander, und meist taten wir dann beinahe zwanghaft und hektisch alles, um Störenfriede zu vertreiben oder auf andere Weise aus unserem Kreis zu verdrängen.
So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit allen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte.
Erst als das Kind in die Schule kommt und dort zu scheitern droht, weil alle ihn für einen Idioten halten, unternimmt der einfühlende Vater einen gewagten Schritt, er verreist mit ihm allein an den Heimatort der Großeltern im Westerwald, wo Johannes auf einem Bauernhof mit Gastwirtschaft aufzuleben beginnt und schließlich seine Sprache findet. Hanns-Josef Ortheil beschreibt diese Kindheit sehr vorsichtig, so als ob er Angst hätte, es könne wieder etwas zerbrechen. Das Leben ist fragil, diese Erfahrung ist für ihn elementar. Die Mutter ist stumm, so erzählt der Vater dem Kind, weil sie vor ihm vier Knaben verloren hat; woran die Kinder gestorben sind, erfährt Johannes zunächst nicht, aber er ist erleichtert, nun nicht mehr allein zu sein. Er hat vier Brüder, die irgendwie von oben ihn beobachten und bei ihm sind. Hanns-Josef Ortheil erzählt trotz all der dramatischen Verschattungen in einem leichten, ruhigen Ton. Kein Wort zu viel, keine überflüssigen Erklärungen, kein Pathos, keine Psychologisierung.
"Ich habe ganz bewusst darauf verzichtet, zum einen, weil ich in der Psychologie überhaupt nicht gut bewandert bin und auch ein gewisses Misstrauen gegenüber dem psychologischen und vor allem dem psychoanalytischen Vokabular habe. Zum andern, weil die entscheidenden Szenen, in denen etwas geschieht, sehr stark sind, und ich sie jetzt verkleinern würde, wenn ich sie deuten würde. Ich glaube, jeder Leser sitzt bei der Lektüre bestimmter Szenen ein wenig mit offenem Mund da und hat selbst Mühe zu begreifen, was ist da eigentlich geschehen. Und das will ich dem Leser überlassen, diese Szenen zu deuten."
Es ist ein Onkel, ein Pfarrer in Essen, der später dem erwachsenen Johannes erzählt, dass seine ersten beiden Brüder durch Kriegseinwirkungen zu Tode kamen; nach dem Krieg hatte die Mutter zwei Totgeburten und verlor ihre Sprache. Das sind Erinnerungs-Bilder, die den Autor sein Leben lang nicht losgelassen haben. Während er sonst zu all seinen Romanen frühere Aufschriebe konsultierte, die von Kindheit an vollgeschriebenen schwarzen Kladden, und Skizzenbücher beim Schreiben seiner Bücher angefertigt hat, erging es ihm mit diesem Roman ganz anders:
"Das ist wirklich das erste Buch, das ich ohne eine einzige Notiz und ohne ein solches Skizzenbuch und ohne jede Vorbereitung geschrieben habe. Ich habe mich einfach hingesetzt und hatte immer das Gefühl, ich fahre durch einen Tunnel und hoffentlich bleiben die Bilder und kommen sie wieder. Ich muss nur die Augen schließen und jetzt stellen sich die Bilder ein, und ich muss sie ruhig nacheinander erzählen und darf mich nicht verwirren lassen und darf mich auch nicht verlocken lassen, sie zu deuten. Ich bekomme das alles in der Erinnerung wieder geschenkt. So habe ich dies Buch mehr oder minder in einem unbewussten Abrufen dieser Bilder geschrieben."
Um sich dieser Vergangenheit stellen zu können und zwischendurch Abstand zu gewinnen und sich von der Wucht der Erinnerungsbilder zu lösen, hat Hanns-Josef Ortheil eine Rahmenhandlung als Struktur eingezogen. Der Ich-Erzähler lebt dreißig Jahre später in Rom, in der Stadt, in die er nach der verhassten Schule geflohen war und wo er zum ersten Mal befreit aufatmen konnte und Pianist werden wollte. Dort lernt der Erwachsene als Nachbarin eine Mutter, Antonia, und ihre Tochter Marietta kennen, die seit Jahren auf dem Klavier übt. Sie freunden sich an, mehr nicht, und Johannes unterrichtet das kleine Mädchen im Klavierspielen. Er selbst hat das Piano längst wegen seiner Erkrankung aufgegeben; sein früherer Klavierlehrer, der erst entsetzt ist, erinnert ihn daran, dass er schon als Kind immer geschrieben habe; er solle doch Schriftsteller werden. Vorlesen statt Pianospielen.
Das Schlussbild dieses wunderbaren und wundervollen Romans über die Untiefen und Abgründe einer "Sprachwerdung" und die immer neue Erfindung des Lebens ist heiter und tröstlich:
"Das Schlusstableau ist ein Konzert, das er zusammen mit diesem Mädchen, das er unterrichtet hat, auf einem kleinen römischen Platz gibt. Und der kleine römische Platz ist eigentlich der Platz seiner Kölner Kindheit; er ist fast identisch aufgebaut. Er geht also eigentlich auf seinen Kölner Platz zurück, auf dem er als Kind nicht spielen konnte, weil er nicht sprechen konnte und keinen Kontakt mit den anderen Kindern hatte. Auf diesen Platz geht er jetzt wieder zurück und kann spielen, spielt jetzt für andere, vor anderen. Das heißt, ich werde einmal die anderen unterhalten, sie werden Freude an mir haben, ich werde etwas zurückgeben. Das tut er zusammen mit einem Mädchen, das er unterrichtet hat, und das jetzt als Kind auch wieder für die anderen da ist, etwas spielt. Also, es ist eine Szene, in der sich ganz viele Zeit- und auch Raumschichten übereinander lagern. Dadurch ist das ein wirkliches Abschlusstableau, in dem sämtliche Motive des Romans noch mal zusammenkommen."
Hanns-Josef Ortheil: "Die Erfindung des Lebens". Luchterhand Verlag, 591 S., 22,95 Euro
Rund zehn Jahre brauchte Hanns-Josef Ortheil, um diesen Roman seiner Kindheit zu schreiben; immer wieder unterbrochen von Innehalten, Erschrecken, Zweifeln, ob sich diese persönliche Geschichte überhaupt erzählen lässt. Er wuchs auf als stummes Kind einer stummen Mutter; erst mit sieben Jahren begann er durch ein anrührendes Erlebnis zu sprechen. Das Klavierspiel war lange Zeit sein Ersatz für den Ausschluss aus der Welt und das Eingesperrtsein in die Stummheit, durch die Musik konnte sich das Kind bemerkbar machen. Der Heranwachsende war talentiert und sollte ein großer Pianist werden - eine Sehnenscheidenentzündung machte dieser Karriere ein jähes Ende. Wieder eine traumatische Erfahrung, die alle Hoffnungen auf die Zukunft zerstörte.
"Ich bin einfach relativ stark dem autobiografischen Material gefolgt, auch wenn ich manchmal gestutzt habe, als wäre alles Autobiografische zugleich schon Roman. Das hat mich teilweise ganz außerordentlich verblüfft an dieser Arbeit. Ich habe teilweise zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können. Ich wollte keine Autobiografie schreiben. Ich habe also die mir unwesentlich erscheinenden faktischen Dinge, die Fülle der ganzen Begegnungen, die ich in meiner Kindheit und Jugend hatte, oder die sieben Klavierlehrer, die müssen ja nicht alle vorkommen, da kann man einen nehmen, den wichtigsten, oder auch die Orte, an denen ich gelebt habe, die sind zum Teil nicht von großer Bedeutung für mich gewesen. Dann lass ich sie halt weg und konzentriere mich auf den einen großen Ort, das ist Köln. Also es ist keine Autobiografie, aber die gesamten Szenen sind so etwa vorgefallen. Im Kern sind diese Szenen alle erlebt und sind so gewesen, wie ich sie dargestellt habe."
Johannes, das Kind, und die beiden Eltern leben wie in einem Geheimbund, abgeschirmt, aber auch isoliert von der Außenwelt:
Jeder hatte seine Rolle und hielt sich genau daran, das gab uns eine kurzfristige Sicherheit und band uns eng aneinander. Wir drei waren sogar so eng miteinander verbunden, dass jeder von uns sofort in Panik geriet, wenn unsere Rituale durch irgendeine Kleinigkeit durcheinandergerieten. Meist kamen sie durch Entwicklungen von außen durcheinander, und meist taten wir dann beinahe zwanghaft und hektisch alles, um Störenfriede zu vertreiben oder auf andere Weise aus unserem Kreis zu verdrängen.
So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit allen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte.
Erst als das Kind in die Schule kommt und dort zu scheitern droht, weil alle ihn für einen Idioten halten, unternimmt der einfühlende Vater einen gewagten Schritt, er verreist mit ihm allein an den Heimatort der Großeltern im Westerwald, wo Johannes auf einem Bauernhof mit Gastwirtschaft aufzuleben beginnt und schließlich seine Sprache findet. Hanns-Josef Ortheil beschreibt diese Kindheit sehr vorsichtig, so als ob er Angst hätte, es könne wieder etwas zerbrechen. Das Leben ist fragil, diese Erfahrung ist für ihn elementar. Die Mutter ist stumm, so erzählt der Vater dem Kind, weil sie vor ihm vier Knaben verloren hat; woran die Kinder gestorben sind, erfährt Johannes zunächst nicht, aber er ist erleichtert, nun nicht mehr allein zu sein. Er hat vier Brüder, die irgendwie von oben ihn beobachten und bei ihm sind. Hanns-Josef Ortheil erzählt trotz all der dramatischen Verschattungen in einem leichten, ruhigen Ton. Kein Wort zu viel, keine überflüssigen Erklärungen, kein Pathos, keine Psychologisierung.
"Ich habe ganz bewusst darauf verzichtet, zum einen, weil ich in der Psychologie überhaupt nicht gut bewandert bin und auch ein gewisses Misstrauen gegenüber dem psychologischen und vor allem dem psychoanalytischen Vokabular habe. Zum andern, weil die entscheidenden Szenen, in denen etwas geschieht, sehr stark sind, und ich sie jetzt verkleinern würde, wenn ich sie deuten würde. Ich glaube, jeder Leser sitzt bei der Lektüre bestimmter Szenen ein wenig mit offenem Mund da und hat selbst Mühe zu begreifen, was ist da eigentlich geschehen. Und das will ich dem Leser überlassen, diese Szenen zu deuten."
Es ist ein Onkel, ein Pfarrer in Essen, der später dem erwachsenen Johannes erzählt, dass seine ersten beiden Brüder durch Kriegseinwirkungen zu Tode kamen; nach dem Krieg hatte die Mutter zwei Totgeburten und verlor ihre Sprache. Das sind Erinnerungs-Bilder, die den Autor sein Leben lang nicht losgelassen haben. Während er sonst zu all seinen Romanen frühere Aufschriebe konsultierte, die von Kindheit an vollgeschriebenen schwarzen Kladden, und Skizzenbücher beim Schreiben seiner Bücher angefertigt hat, erging es ihm mit diesem Roman ganz anders:
"Das ist wirklich das erste Buch, das ich ohne eine einzige Notiz und ohne ein solches Skizzenbuch und ohne jede Vorbereitung geschrieben habe. Ich habe mich einfach hingesetzt und hatte immer das Gefühl, ich fahre durch einen Tunnel und hoffentlich bleiben die Bilder und kommen sie wieder. Ich muss nur die Augen schließen und jetzt stellen sich die Bilder ein, und ich muss sie ruhig nacheinander erzählen und darf mich nicht verwirren lassen und darf mich auch nicht verlocken lassen, sie zu deuten. Ich bekomme das alles in der Erinnerung wieder geschenkt. So habe ich dies Buch mehr oder minder in einem unbewussten Abrufen dieser Bilder geschrieben."
Um sich dieser Vergangenheit stellen zu können und zwischendurch Abstand zu gewinnen und sich von der Wucht der Erinnerungsbilder zu lösen, hat Hanns-Josef Ortheil eine Rahmenhandlung als Struktur eingezogen. Der Ich-Erzähler lebt dreißig Jahre später in Rom, in der Stadt, in die er nach der verhassten Schule geflohen war und wo er zum ersten Mal befreit aufatmen konnte und Pianist werden wollte. Dort lernt der Erwachsene als Nachbarin eine Mutter, Antonia, und ihre Tochter Marietta kennen, die seit Jahren auf dem Klavier übt. Sie freunden sich an, mehr nicht, und Johannes unterrichtet das kleine Mädchen im Klavierspielen. Er selbst hat das Piano längst wegen seiner Erkrankung aufgegeben; sein früherer Klavierlehrer, der erst entsetzt ist, erinnert ihn daran, dass er schon als Kind immer geschrieben habe; er solle doch Schriftsteller werden. Vorlesen statt Pianospielen.
Das Schlussbild dieses wunderbaren und wundervollen Romans über die Untiefen und Abgründe einer "Sprachwerdung" und die immer neue Erfindung des Lebens ist heiter und tröstlich:
"Das Schlusstableau ist ein Konzert, das er zusammen mit diesem Mädchen, das er unterrichtet hat, auf einem kleinen römischen Platz gibt. Und der kleine römische Platz ist eigentlich der Platz seiner Kölner Kindheit; er ist fast identisch aufgebaut. Er geht also eigentlich auf seinen Kölner Platz zurück, auf dem er als Kind nicht spielen konnte, weil er nicht sprechen konnte und keinen Kontakt mit den anderen Kindern hatte. Auf diesen Platz geht er jetzt wieder zurück und kann spielen, spielt jetzt für andere, vor anderen. Das heißt, ich werde einmal die anderen unterhalten, sie werden Freude an mir haben, ich werde etwas zurückgeben. Das tut er zusammen mit einem Mädchen, das er unterrichtet hat, und das jetzt als Kind auch wieder für die anderen da ist, etwas spielt. Also, es ist eine Szene, in der sich ganz viele Zeit- und auch Raumschichten übereinander lagern. Dadurch ist das ein wirkliches Abschlusstableau, in dem sämtliche Motive des Romans noch mal zusammenkommen."
Hanns-Josef Ortheil: "Die Erfindung des Lebens". Luchterhand Verlag, 591 S., 22,95 Euro