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Das Frühwerk von Marc Chagall
Die Jahre des Durchbruchs

Das Kunstmuseum Basel widmet sich ausführlich dem Künstler Marc Chagall: In der Ausstellung "Chagall - die Jahre des Durchbruchs 1911 bis 1919" werden ausschließlich seine Frühwerke gezeigt. Diese lassen auch Einblicke in seine Persönlichkeit und sein Leben zu.

Von Christian Gampert |
    I and the Village, 1911, by Marc Chagall. The work contains many soft, dreamlike images overlapping one another in a continuous space. In the foreground, a cap-wearing green-faced man stares at a goat or sheep with the image of a smaller goat being milked on its cheek. Marc Zakharovich Chagall (1887 – 1985) Russian-French artist. WHA PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: WHA Marc Chagall 1887 – 1985 Russian French Artist Wha Regard date estimated Copyright Wha UnitedArchivesWHA_078_0938
    Während seiner Zeit in Paris erfährt Marc Chagall einen Schock - das ganze Weltbild des Künstlers kommt ins Wanken. Das äußert er in Bildern mit intensiven Farben, wie im Gemälde "Ich und das Dorf" (1911) (imago stock&people)
    Lässt man die Chagall-Ausstellungen der letzten Jahre Revue passieren, so überwiegt bei den Kuratoren die Tendenz, das Träumerisch-Verspielte des Werks in den Vordergrund zu rücken. Das Rezept für eine erfolgreiche Chagall-Ausstellung lautet ja sowieso: Man zeige den Künstler als netten Märchenonkel, der sowohl der jüdischen Frömmigkeit des alten Russland und als auch den avantgardistischen Verführungen der Kunstmetropole Paris zugetan ist - und diese beiden Welten amalgamiert. Und: Man führe möglichst alle Motive vor, die sich inzwischen - leider - als Kalenderblätter etabliert haben.
    Die Basler Ausstellung tut das nicht: ihr geht es um die Entwicklung des Werks in der Frühphase - und um Chagalls Judentum. Das ostjüdische Schtetl ist als Folie immer präsent, als irgendwie dunkel raunender, religiöser, geschlossener und ja, auch gesellschaftlich zurückgebliebener Kosmos. Aber die Ankunft des jungen Juden Moshe Segal, russisch Moishe Schagalow, 1911 in Paris wird als Schock geschildert - das ganze Weltbild des Künstlers kommt ins Wanken, die Farben werden intensiver und bunter und greller, die Tische beginnen in den Bildern zu tanzen und die Stühle zu schweben, zwischendrin geistern Tiere herum, die ersichtlich aus der russischen Agrargesellschaft stammen, und in den Bars sitzen viele betrunkene Dichter. Ein Trauma, sagt Kurator Josef Helfenstein.
    "Er lebt diese Spannung seiner eigenen Herkunft, seiner ostjüdischen, sehr ärmlichen und auch ghettoisierten Herkunft, kommt nach Paris, hat da einen tüchtigen Kulturschock, aber ich glaube, dieser Schock hilft ihm, sich selbst zu finden als Künstler."
    Vom Ersten Weltkrieg überrascht
    Also: "Das gelbe Zimmer" ist wirklich giftgelb, das Atelier moosgrün, und das alles arbeitet mit einer aus dem Kubismus entlehnten Formensprache, die aber hartnäckig auf Gegenständlichkeit beharrt. Alles stürzt formal in sich zusammen, wie bei der Pariser Avantgarde der Eiffelturm; Chagall aber besteht auf seine Herkunft aus dieser - schon damals - abgehängten, versunkenen ostjüdischen Welt, er verleugnet sie nicht, sondern macht sie zum Ausgangspunkt für seine ganz persönliche Annäherung an die Abgründe der Moderne.
    Gerade dieser erste Teil der Ausstellung ist grandios, und man kann nun sehen, wie sich überall verdrehte Gesichter und auf dem Kopf fahrende Eisenbahnen durch ein skurriles Pariser Panoptikum bewegen. Andererseits wirkt das Fromme, schicksalsergeben Agrarische und auch Animalische, mit dem Chagalls russisch-jüdische Heimat in die Großstadt einbricht, tröstlich und märchenhaft.
    Dann der Bruch: Nach einer erfolgreichen Ausstellung bei Herwarth Walden in Berlin fährt Chagall 1914 nach Russland zurück - und wird dort vom Ersten Weltkrieg überrascht. Wieder sitzt er im Niemandsland fest.
    Und da entsteht nun ein faszinierendes Werk. Zurückgezogen und quasi in der Falle dieser Provinz, die ihm selbst ein bisschen fremd geworden ist. In Witebsk malt er nun diese Rabbiner, diese berühmten Gemälde.
    Chagalls Welt des ostjüdischen Volksglaubens
    Und diese großen, großartigen Portraits kann man nun in Basel sehen. Das Wahnwitzige ist, dass diese Rabbiner eigentlich Obdachlose sind, Verarmte, Ausgegrenzte, Depressive. Manchmal schweben auch Viehhändler oder Kinder oder Bräute über die Dächer der verschneiten Dörfer; Chagalls Formensprache wird nun wieder konkreter - aber nicht konkret genug, um bei der sozialistisch inspirierten Kunst der Sowjetunion mitzumachen; das Märchenhafte bleibt. Zwar ist Chagall kurzzeitig Kommissar an der Kunstschule von Witebsk, sucht aber bald das Weite - weil er von dem abstrakten Hardliner Kasimir Malewitsch ideologisch gemobbt wird.
    Die großartige Basler Ausstellung holt den Besucher tief herein in Chagalls Welt des ostjüdischen Volksglaubens. Und sie überzeugt vor allem deshalb, weil sie mit feinen historischen Fotos von Salomon Judowin, Filmen von der Oktoberrevolution und jüdischen Kultgegenständen belegt, aus welcher Armut und kriegsbedingter Härte sich da ein Künstler emanzipierte. Gerade diese kulturhistorische Grundierung der Ausstellung ist ein großes Plus.