Die Lesebiografien der meisten Menschen, ein Blick auf die wöchentliche "Spiegel"-Bestsellerliste illustriert es eindrucksvoll, spielt sich keineswegs nur auf weltliterarischen Höhenkämmen ab. Wie aber steht es um unsere Schriftsteller? Thomas Keul, Herausgeber des in Wien erscheinenden Literaturmagazins "Volltext", befragte 29 renommierte deutschsprachige Autoren der jüngeren und mittleren Generation nach ihren "geheimen Leselastern" und stellte die Antworten in der Anthologie "Unwürdige Lektüren" zusammen.
Ein schöner Titel.
Findet Felicitas Hoppe und zwinkert uns schelmisch zu:
Altmodisch und verheißungsvoll, ein bisschen französisch. Wie ein früher gern gesehener Film, in dem es viel Schatten gab, weniger Licht, sehr wenig Tempo und viel Geheimnis. Das Blaubartzimmer verbotener Bücher.
Heute, wo die Schlachten zwischen U und E längst geschlagen und selbst professionelle Kritiker von der ewigen Aufrechnerei gelangweilt sind, lässt sich ein Darkroom der Literatur wohl nur noch ironisch imaginieren. Die Konfessionen der zumeist in den sechziger und frühen siebziger Jahren geborenen Autoren können uns denn auch kaum schocken: Bastei-Hefte und italienische Fotoromanzi, Vicki Baum und "Salz auf unserer Haut", Karl May, Perry Rhodan und Jason Dark - die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften muss nicht tätig werden. "Es ist sehr leicht, sogenannte Unterhaltungsliteratur zu unterschätzen und dabei naserümpfend so einiges zu verpassen", gibt die Stephen-King-Leserin Zoe Jenny artig zu bedenken, während Ernst Molden seinem Idol hemdsärmeliger beisteht: "Noch immer muss ich mit Trotteln über ihn streiten."
Wenn aber nur noch ewiggestrige Wirrköpfe bestreiten, dass King Kult ist und man beim Wort "Leselaster" an eine Fahrbibliothek oder den Bücherwagendienst der Barsortimente denken mag, erscheint es logisch, dass nicht wenige Autoren ihr "Outing" auf frühe Erfahrungen mit der Droge Literatur beziehen.
Paul Ingendaay etwa stiehlt sich mit dem "Bronzemann" und anderen Pulp-Klassikern aus der Enge eines bischöflichen Jugendinternats; für den siebenjährigen Georg Klein wird die schlichte Mixtur aus Gefahren-Schauder und dem Schwindel gesteigerter Größe, wie sie Hal Forsters Ritterepos "Prinz Eisenherz" evoziert, zu "magischem Kerosin"; Klaus Modick verbindet die Lektüre-Räusche der Kindheit ganz handfest mit dem Rauch von Papas Sanoussi-Zigaretten.
Schmökern und schmöken: "Die Seiten als Scheite, entflammt von Lesenden." Ob die Sehnsucht nach den ersten, entgrenzenden Lektüre-Räuschen "unwürdig" ist, steht dahin; nur die wenigsten Beiträger stoßen sich, wie Alex Capus, an der titelgebenden Dichotomie der Lektüre. "Es gibt", so der Wahlschweizer, "keine unwürdigen Lektüren, nur unwürdige Leser".
Die gelegentlichen Versuche, dem Thema einen theoretischen Überbau zu zimmern, bleiben merkwürdig unterbelichtet: "Wichtig ist beim Lesen doch nicht nur, was reingeht, sondern auch, was dabei rauskommt", nimmt Judith Kuckart unbewusst ein altes Helmut-Kohl-Diktum auf, während Thomas Glavinic den Reiz des Unterkomplexen wie folgt auf den Punkt bringt:
Man mag über Trivialliteratur sagen, was man will, aber wer kommt ohne sie aus? Wir sind einem speziellen Trägheitsprinzip unterworfen, das von uns verlangt, zuweilen einfache Antworten zu suchen und für eine kurze Zeit anzunehmen, im Bewusstsein, dass es sich um Unwahrheiten handelt. Sind doch einfache Antworten die einzigen, die Bestand haben - auch wenn sie falsch sind.
Die Qualität der Texte, die allesamt bereits in "Volltext" erschienen sind, ist - wie bei Sammlungen dieser Art üblich - durchwachsen. Brilliante Essays stehen neben redlich bemühten Kolumnen; mal wird selbstironisch gespöttelt, mal leidenschaftlich bekannt. Glücklicherweise haben längst nicht alle der befragten Autoren eine heimliche Vorliebe für Genre-Literatur. Das Spektrum der peinlichen Lieblingslektüren reicht vom Ikea-Katalog bis zum Teletext; vor allem die Vielfalt des deutschsprachigen Pressewesens scheint bei den Angehörigen des Literaturbetriebs mannigfaltige Lektüregelüste freizusetzen - Gelüste, auf die man nicht eben stolz ist, derer man sich jedoch nicht enthalten kann.
So offenbart sich Julia Franck, Trägerin des Deutschen Buchpreises 2007, als "verhinderte Naturwissenschaftlerin", die sich, statt Science oder Nature zu abonnieren, mit dem "eitlen Achtelwissen" der Wissenschafts-Seiten in der Tagespresse begnügt. Ein harmloser Fall, verglichen mit Kollegen, die das pralle Kiosk-Angebot ohne Scheu für ihre Arbeit verwursten: Das "Goldene Blatt" als ultimatives Mittel gegen Schreibblockaden, die "Vogue"-Lektüre als "erlaubter Eintritt in die weibliche Intimzone". Während Norbert Niemann treulich Lokalzeitungs-Artikel über Trachtenvereinsvorstandswahlen und Kaninchenzüchtertreffen seiner bayrischen Heimatgemeinde ausschneidet, ist Arne Rautenberg schon einen Schritt weiter: Er tippte das Anzeigen-Konvolut einer Domina aus der Hamburger "Morgenpost" ab, um es - klassischer Fall von found poetry - anschließend noch einmal zu veröffentlichen: In einer Literaturzeitschrift. Was aber ist die Faszination für Sex-Annoncen oder Wrestling-Magazine gegen die "Schrecken des Spiegels" - die auch von Profis nicht immer zu vermeidende Begegnung mit dem eigenen Werk?
Auf einer einsamen Insel sein und nichts zu lesen haben als das eigene Werk, so stelle ich mir die Hölle vor. Lieber noch hätte ich Anthologien mit Tiergeschichten, verblichene Reader's-Digest-Bände, den Ikea-Katalog oder eine Gesamtausgabe von Botho Strauß bei mir. Ich hätte lieber gar keine Bücher.
Mit einer derart vorlauten Bemerkung wäre es vermutlich selbst für Daniel Kehlmann eng geworden, in eine Textsammlung aufgenommen zu werden, die unter dem Titel "Schule des Lesens" erschienen ist und "prägende Leseerfahrungen" von 33 Schriftstellern und Künstlern versammelt - "würdige Lektüren", wenn man so will.
Das zeigt sich schon an der aufwändigen Verpackung des Ganzen: Jeder der 33 Texte wurde, in jeweils eigener Schrift, separat auf geripptes Büttenpapier gedruckt; gesammelt ist das Konvolut in einer in Halbleinen gebundenen Mappe - verschließbar mit "feinem Satinband", was ein bisschen nach "guter Butter" klingt. Dass in diesem wohltemperierten Kanon neben der Bibel, Grimms Märchen, Robinson Crusoe und Huckleberry Finn, Hesse, Thomas Mann, Astrid Lindgren oder den Gedichten von Garcia Lorca auch Karl May und Vicki Baum auftauchen, muss nicht weiter verwundern - schließlich dürfen bei jedem guten Deutschlehrer einmal im Jahr auch die Lümmel von der letzten Bank ihre Lieblingsschwarten mitbringen.
Um nicht missverstanden zu werden: Vielen der persönlichen Lese-Initiations-Geschichten prominenter Autoren - von Doris Dörrie und Martin Suter bis zu Paul Maar oder Tanja Kinkel - mangelt es nicht an Originalität und Witz. Viele würden sich auch in der "Volltext"-Anthologie gut machen - und vice versa. In der Summe wirkt die Sammlung jedoch zu glatt, zu sehr auf den pädagogischen Effekt hin getrimmt. Und wie in jeder Schule heißt es auch in der "Schule des Lesens" am Ende: Hefte raus, Leistungskontrolle!
Im vorliegenden Fall kann ein beiliegender "persönlicher Fragebogen" mit 18 Zeilen ausgefüllt werden. Von "Mein Lieblingsbuch" und "Wie kam ich dazu?" bis "Was kann Literatur bewirken?" und "Hat das Internet mein Leseverhalten verändert?" Fast überflüssig, zu erwähnen, dass ein Euro jedes verkauften Exemplars dieser überaus korrekten Mappe in die Projektarbeit der Stiftung Lesen, Europas größter Leseförderungsinstitution, fließt.
Wer indes aufmerksam blättert, begegnet auch hier dem anarchischen Element, dem verwirrenden Störfeuer, das Leser verändert zurücklässt. So etwa, wenn Reinhard Jirgl - leider in normalisierter Schreibung - davon berichtet, wie er sich mit Mark Twain, August Stramm, James Joyce und schließlich Arno Schmidt aus den Fesseln der Rechtschreib-Normen befreite: "Wie viele hunderte Seiten habe ich gelesen, die mir nun erschienen wie Gefängnishöfe, bewacht von Aufsehern der Orthographie, vor deren Augen die Wörter und die Satzperioden als Gefangene im Drillich ... zur Zwangsarbeit ans Ende ihrer Geschichte trabten...". Böse Menschen haben keine Bücher; Lesen steigert die Lebensqualität? Vielleicht braucht es den fremden Blick des in der Türkei geborenen, heute in Köln lebenden Schriftstellers Selim Özdogan, um solchen Sinnsprüchen zu misstrauen. Özdogan plädiert für genaues Hinschauen, für mehr Aufmerksamkeit im Land der Worte. Und schmuggelt am Ende sogar ein Weinflaschenetikett in die "Schule des Lesens" ein.
Ich weiß, dass Menschen, die es können, auch lesen. Alle. Sie lesen die Rückseiten von Cornflakes-Packungen, die Bastelanleitung in Überraschungseiern, Gebrauchstexte aller Art. Wie beispielsweise Etiketten von Weinflaschen im Supermarkt, auf denen häufig Angaben zur Trinktemperatur gemacht werden, zum Geschmack und zu welchen Gerichten das Getränk passt. Auf einem Etikett las ich vor einiger Zeit: Dieser Wein passt sich den Erfordernissen einer modernen Gastronomie an. Das hörte sich gut an, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was das bedeutet. Dieser Wein passt sich den Erfordernissen einer modernen Gastronomie an. Ein Satz, der sich nur selten auf Weinflaschenetiketten findet. Zu Hause habe ich festgestellt, dass diese Umschreibung eine gekonnte Formulierung war für: Dieses Getränk schmeckt nach fast gar nichts. Doch da war die Flasche bereits gekauft und geöffnet.
Thomas Keul (Hrsg.): Unwürdige Lektüren. Was Autoren heimlich lesen.
SchirmerGraf 2008, 240 Seiten, 17,80 Euro
Die Schule des Lesens.
Prägende Leseerfahrungen von Schriftstellern und Künstlern
36 gestaltete Textblätter in einer Mappe
Collection Büchergilde in Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen 2008
19,95 Euro (Mitglieder Büchergilde: 17,90 Euro)
Ein schöner Titel.
Findet Felicitas Hoppe und zwinkert uns schelmisch zu:
Altmodisch und verheißungsvoll, ein bisschen französisch. Wie ein früher gern gesehener Film, in dem es viel Schatten gab, weniger Licht, sehr wenig Tempo und viel Geheimnis. Das Blaubartzimmer verbotener Bücher.
Heute, wo die Schlachten zwischen U und E längst geschlagen und selbst professionelle Kritiker von der ewigen Aufrechnerei gelangweilt sind, lässt sich ein Darkroom der Literatur wohl nur noch ironisch imaginieren. Die Konfessionen der zumeist in den sechziger und frühen siebziger Jahren geborenen Autoren können uns denn auch kaum schocken: Bastei-Hefte und italienische Fotoromanzi, Vicki Baum und "Salz auf unserer Haut", Karl May, Perry Rhodan und Jason Dark - die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften muss nicht tätig werden. "Es ist sehr leicht, sogenannte Unterhaltungsliteratur zu unterschätzen und dabei naserümpfend so einiges zu verpassen", gibt die Stephen-King-Leserin Zoe Jenny artig zu bedenken, während Ernst Molden seinem Idol hemdsärmeliger beisteht: "Noch immer muss ich mit Trotteln über ihn streiten."
Wenn aber nur noch ewiggestrige Wirrköpfe bestreiten, dass King Kult ist und man beim Wort "Leselaster" an eine Fahrbibliothek oder den Bücherwagendienst der Barsortimente denken mag, erscheint es logisch, dass nicht wenige Autoren ihr "Outing" auf frühe Erfahrungen mit der Droge Literatur beziehen.
Paul Ingendaay etwa stiehlt sich mit dem "Bronzemann" und anderen Pulp-Klassikern aus der Enge eines bischöflichen Jugendinternats; für den siebenjährigen Georg Klein wird die schlichte Mixtur aus Gefahren-Schauder und dem Schwindel gesteigerter Größe, wie sie Hal Forsters Ritterepos "Prinz Eisenherz" evoziert, zu "magischem Kerosin"; Klaus Modick verbindet die Lektüre-Räusche der Kindheit ganz handfest mit dem Rauch von Papas Sanoussi-Zigaretten.
Schmökern und schmöken: "Die Seiten als Scheite, entflammt von Lesenden." Ob die Sehnsucht nach den ersten, entgrenzenden Lektüre-Räuschen "unwürdig" ist, steht dahin; nur die wenigsten Beiträger stoßen sich, wie Alex Capus, an der titelgebenden Dichotomie der Lektüre. "Es gibt", so der Wahlschweizer, "keine unwürdigen Lektüren, nur unwürdige Leser".
Die gelegentlichen Versuche, dem Thema einen theoretischen Überbau zu zimmern, bleiben merkwürdig unterbelichtet: "Wichtig ist beim Lesen doch nicht nur, was reingeht, sondern auch, was dabei rauskommt", nimmt Judith Kuckart unbewusst ein altes Helmut-Kohl-Diktum auf, während Thomas Glavinic den Reiz des Unterkomplexen wie folgt auf den Punkt bringt:
Man mag über Trivialliteratur sagen, was man will, aber wer kommt ohne sie aus? Wir sind einem speziellen Trägheitsprinzip unterworfen, das von uns verlangt, zuweilen einfache Antworten zu suchen und für eine kurze Zeit anzunehmen, im Bewusstsein, dass es sich um Unwahrheiten handelt. Sind doch einfache Antworten die einzigen, die Bestand haben - auch wenn sie falsch sind.
Die Qualität der Texte, die allesamt bereits in "Volltext" erschienen sind, ist - wie bei Sammlungen dieser Art üblich - durchwachsen. Brilliante Essays stehen neben redlich bemühten Kolumnen; mal wird selbstironisch gespöttelt, mal leidenschaftlich bekannt. Glücklicherweise haben längst nicht alle der befragten Autoren eine heimliche Vorliebe für Genre-Literatur. Das Spektrum der peinlichen Lieblingslektüren reicht vom Ikea-Katalog bis zum Teletext; vor allem die Vielfalt des deutschsprachigen Pressewesens scheint bei den Angehörigen des Literaturbetriebs mannigfaltige Lektüregelüste freizusetzen - Gelüste, auf die man nicht eben stolz ist, derer man sich jedoch nicht enthalten kann.
So offenbart sich Julia Franck, Trägerin des Deutschen Buchpreises 2007, als "verhinderte Naturwissenschaftlerin", die sich, statt Science oder Nature zu abonnieren, mit dem "eitlen Achtelwissen" der Wissenschafts-Seiten in der Tagespresse begnügt. Ein harmloser Fall, verglichen mit Kollegen, die das pralle Kiosk-Angebot ohne Scheu für ihre Arbeit verwursten: Das "Goldene Blatt" als ultimatives Mittel gegen Schreibblockaden, die "Vogue"-Lektüre als "erlaubter Eintritt in die weibliche Intimzone". Während Norbert Niemann treulich Lokalzeitungs-Artikel über Trachtenvereinsvorstandswahlen und Kaninchenzüchtertreffen seiner bayrischen Heimatgemeinde ausschneidet, ist Arne Rautenberg schon einen Schritt weiter: Er tippte das Anzeigen-Konvolut einer Domina aus der Hamburger "Morgenpost" ab, um es - klassischer Fall von found poetry - anschließend noch einmal zu veröffentlichen: In einer Literaturzeitschrift. Was aber ist die Faszination für Sex-Annoncen oder Wrestling-Magazine gegen die "Schrecken des Spiegels" - die auch von Profis nicht immer zu vermeidende Begegnung mit dem eigenen Werk?
Auf einer einsamen Insel sein und nichts zu lesen haben als das eigene Werk, so stelle ich mir die Hölle vor. Lieber noch hätte ich Anthologien mit Tiergeschichten, verblichene Reader's-Digest-Bände, den Ikea-Katalog oder eine Gesamtausgabe von Botho Strauß bei mir. Ich hätte lieber gar keine Bücher.
Mit einer derart vorlauten Bemerkung wäre es vermutlich selbst für Daniel Kehlmann eng geworden, in eine Textsammlung aufgenommen zu werden, die unter dem Titel "Schule des Lesens" erschienen ist und "prägende Leseerfahrungen" von 33 Schriftstellern und Künstlern versammelt - "würdige Lektüren", wenn man so will.
Das zeigt sich schon an der aufwändigen Verpackung des Ganzen: Jeder der 33 Texte wurde, in jeweils eigener Schrift, separat auf geripptes Büttenpapier gedruckt; gesammelt ist das Konvolut in einer in Halbleinen gebundenen Mappe - verschließbar mit "feinem Satinband", was ein bisschen nach "guter Butter" klingt. Dass in diesem wohltemperierten Kanon neben der Bibel, Grimms Märchen, Robinson Crusoe und Huckleberry Finn, Hesse, Thomas Mann, Astrid Lindgren oder den Gedichten von Garcia Lorca auch Karl May und Vicki Baum auftauchen, muss nicht weiter verwundern - schließlich dürfen bei jedem guten Deutschlehrer einmal im Jahr auch die Lümmel von der letzten Bank ihre Lieblingsschwarten mitbringen.
Um nicht missverstanden zu werden: Vielen der persönlichen Lese-Initiations-Geschichten prominenter Autoren - von Doris Dörrie und Martin Suter bis zu Paul Maar oder Tanja Kinkel - mangelt es nicht an Originalität und Witz. Viele würden sich auch in der "Volltext"-Anthologie gut machen - und vice versa. In der Summe wirkt die Sammlung jedoch zu glatt, zu sehr auf den pädagogischen Effekt hin getrimmt. Und wie in jeder Schule heißt es auch in der "Schule des Lesens" am Ende: Hefte raus, Leistungskontrolle!
Im vorliegenden Fall kann ein beiliegender "persönlicher Fragebogen" mit 18 Zeilen ausgefüllt werden. Von "Mein Lieblingsbuch" und "Wie kam ich dazu?" bis "Was kann Literatur bewirken?" und "Hat das Internet mein Leseverhalten verändert?" Fast überflüssig, zu erwähnen, dass ein Euro jedes verkauften Exemplars dieser überaus korrekten Mappe in die Projektarbeit der Stiftung Lesen, Europas größter Leseförderungsinstitution, fließt.
Wer indes aufmerksam blättert, begegnet auch hier dem anarchischen Element, dem verwirrenden Störfeuer, das Leser verändert zurücklässt. So etwa, wenn Reinhard Jirgl - leider in normalisierter Schreibung - davon berichtet, wie er sich mit Mark Twain, August Stramm, James Joyce und schließlich Arno Schmidt aus den Fesseln der Rechtschreib-Normen befreite: "Wie viele hunderte Seiten habe ich gelesen, die mir nun erschienen wie Gefängnishöfe, bewacht von Aufsehern der Orthographie, vor deren Augen die Wörter und die Satzperioden als Gefangene im Drillich ... zur Zwangsarbeit ans Ende ihrer Geschichte trabten...". Böse Menschen haben keine Bücher; Lesen steigert die Lebensqualität? Vielleicht braucht es den fremden Blick des in der Türkei geborenen, heute in Köln lebenden Schriftstellers Selim Özdogan, um solchen Sinnsprüchen zu misstrauen. Özdogan plädiert für genaues Hinschauen, für mehr Aufmerksamkeit im Land der Worte. Und schmuggelt am Ende sogar ein Weinflaschenetikett in die "Schule des Lesens" ein.
Ich weiß, dass Menschen, die es können, auch lesen. Alle. Sie lesen die Rückseiten von Cornflakes-Packungen, die Bastelanleitung in Überraschungseiern, Gebrauchstexte aller Art. Wie beispielsweise Etiketten von Weinflaschen im Supermarkt, auf denen häufig Angaben zur Trinktemperatur gemacht werden, zum Geschmack und zu welchen Gerichten das Getränk passt. Auf einem Etikett las ich vor einiger Zeit: Dieser Wein passt sich den Erfordernissen einer modernen Gastronomie an. Das hörte sich gut an, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was das bedeutet. Dieser Wein passt sich den Erfordernissen einer modernen Gastronomie an. Ein Satz, der sich nur selten auf Weinflaschenetiketten findet. Zu Hause habe ich festgestellt, dass diese Umschreibung eine gekonnte Formulierung war für: Dieses Getränk schmeckt nach fast gar nichts. Doch da war die Flasche bereits gekauft und geöffnet.
Thomas Keul (Hrsg.): Unwürdige Lektüren. Was Autoren heimlich lesen.
SchirmerGraf 2008, 240 Seiten, 17,80 Euro
Die Schule des Lesens.
Prägende Leseerfahrungen von Schriftstellern und Künstlern
36 gestaltete Textblätter in einer Mappe
Collection Büchergilde in Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen 2008
19,95 Euro (Mitglieder Büchergilde: 17,90 Euro)