Nadeschda Zalojewa-Gurijewa ist Lehrerin an der Schule Nummer 1 in Beslan und Mutter dreier Kinder. Sie ist mit ihnen zum ersten Tag nach den großen Sommerferien in die Schule gekommen. Es ist ein Festtag, ganz Russland beginnt ein neues Schuljahr.
Dann plötzlich fallen Schüsse, Männer in Militäruniformen und Maschinengewehren brüllen, und treiben die Menschen, auch Nadeschda und ihre Kinder, in der Sporthalle zusammen. Es ist heiß. Wasser bekommen die Geiseln nicht.
"Es war schwer. Es gab so einen Moment, als ich fühlte, wie schwach ich wurde, auch mit dem Herzen hatte ich Probleme. Da habe ich Alexandra gesehen, unsere Direktorin. Sie saß nicht weit von mir entfernt. Sie bedeutete mir mit dem Finger: Behalte sie im Auge. Ich musste mich also am Riemen reißen. Und fand dann, dass ich mich an alles erinnern muss, was geschieht, weil das vielleicht danach noch gebraucht werden wird."
Moskau zeigt sich hart und unnachgiebig
Die Terroristen, darunter auch manche Frauen, waren aus den beiden muslimischen Teilrepubliken Tschetschenien und Inguschetien in das mehrheitlich orthodox-christliche Nordossetien gelangt. Sie stellten Forderungen, unter anderem einen Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien, wo die unter Befehl Moskaus gegen Separatisten kämpften, Verhandlungen mit Präsidenten der Teilrepubliken und den Rücktritt des russischen Präsidenten, Wladimir Putin.
Der russische Staat ließ sich auf keine der Forderungen ein, auch nicht auf die nach Verhandlungen. Von Anfang an wurde die Öffentlichkeit über das Ausmaß der Geiselnahme systematisch getäuscht: Die Anzahl der Geiseln und der Terroristen wurde kleiner angegeben. Ein Sprecher des Einsatzstabs erklärte zum Beispiel: "Zu dieser Stunde sprechen wir über 354 Nachnamen auf der Liste mit Geiseln. Diese Liste haben wir durch Befragungen recherchiert." Die landesweiten Fernsehkanäle verbreiteten folgsam diese Lüge, koordiniert von Dmitrij Peskow, der heutzutage Sprecher des russischen Präsidenten in Moskau ist.
Verhandlungen nicht erwünscht
Offenkundig wollte der Staat vermeiden, dass die russische Öffentlichkeit angesichts hunderter Kinder in Geiselhaft gegen einen gewaltsamen Zugriff protestiert und Verhandlungen fordert. Journalisten, wie etwa Anna Politkowskaja, die im Kaukasus von vielen Seiten geachtet wurde und ihre Verhandlungsmoderation anbot, wurde im Flugzeug nach Südrussland offenbar vergiftet – sie erreichte Beslan nicht. Nichts sollte die harte Haltung Moskaus stören.
Lediglich Mütter mit zu stillenden Kindern durften die Turnhalle verlassen. Am 3. September erschütterten Explosionen die Schule, das Dach der Turnhalle fing Feuer und kollabierte schließlich, begrub viele Menschen unter sich. Der Einsatzstab erklärte, die Bomben gezündet hätten die Terroristen. Spätere Untersuchungen sowohl in Russland als auch am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kamen jedoch zu dem Schluss, dass Einsatzkräfte mit teils schweren Waffen und Flammenwerfern die Schule angegriffen hatten.
Bis heute keine Untersuchung
Dass es überhaupt zu solchen Verfahren kam, ist der Hartnäckigkeit von Augenzeugen wie Ella Kessajewa von der Organisation "Stimme Beslans" zu verdanken. Sie nennt die wichtigsten Ergebnisse des Straßburger Verfahrens: "Es hat die Schuld des Staates anerkannt, dass auf die Schule geschossen wurde, auch aus einem Hubschrauber. Und es hat nachdrücklich empfohlen, eine Untersuchung durchzuführen."
Die hat es bis heute nicht gegeben. Allerdings hat Russland die von Straßburg zugesprochene Entschädigung Überlebenden und Angehörigen der Opfer ausgezahlt. Für viele Augenzeugen steht fest: Es ging bei dieser Operation vorrangig darum, Terroristen zu töten, von denen nur einer lebendig gefasst wurde, nicht um den Schutz Unschuldiger. 334 Geiseln kamen ums Leben, darunter 186 Kinder. Auch Nadeschda, die Lehrerin, verlor zwei ihrer drei Kinder, Vera und Borja. Sie sagt: "Ich wäre heute wahrscheinlich schon Großmutter."
Spuren vernichtet
Schon kurz nach dem Ende der Geiselnahme wurden Wände der Schule abgerissen, Spuren also vernichtet. Präsident Putin verschärfte die Medienzensur und brachte die Regionen unter noch stärkere Kontrolle des Kremls.
Die ersten Septembertage sind in Beslan seither keine Tage mehr, an denen der Beginn des Schuljahres gefeiert wird. Sie sind Trauertage. Die Reste der Turnhalle sind mit einer goldenen Konstruktion überbaut und zum Museum geworden.