Nadas ist da. Endlich. Das Erscheinen der deutschen Ausgabe dieser "Parallelgeschichten" darf als europäisches Ereignis gefeiert werden. Das Gerücht war dem Roman vorausgeeilt. Jetzt stehen wir vor der Sensation. Das ungarische Original, bereits 2005 erschienen, hatte dem Autor zwar kräftige Lobeshymnen von seinen Kollegen und den ungarischen Intellektuellen, aber auch mächtige Schwierigkeiten von der aufgebrachten " Stimme des Volkes" eingebracht. Die "Parallelgeschichten" waren und sind eine Provokation nicht nur für das reaktionäre Ungarn eines Viktor Orbàn, sondern, das wird sich vielleicht auch bei uns erweisen, für den gesunden Menschenverstand überhaupt und den (klein-)bürgerlichen Biedersinn verklemmter Kleriker dazu.
Der Umfang dieses Werkes ist beträchtlich. Der Anspruch immens. Die Anforderungen an den Leser sind ebenfalls ordentlich. 1728 Seiten, in 39 Kapitel und drei Bücher gegliedert. Fürwahr ein Opus Magnum. Achtzehn Jahre soll, so sagt man, Nadas daran gearbeitet haben. Gelohnt hat es sich. Es sind tatsächlich parallele Geschichten, eine ganze Menge sogar, mit einer schieren Unmenge an Personal.
Menschen, die sich niemals begegnet sind oder sich nur sehr oberflächlich kennen und deren Schicksal trotzdem grundlegend voneinander bestimmt wird.
Am Anfang ein Toter im Berliner Tierpark. Vielleicht Agóst, der Diplomat? Am Ende ein Toter im Garten des Gefängniswärters. Gewiss der Brotdieb. Dazwischen die Geschichten.
Der Autor fragt sich deshalb, "ob ein solch verborgener und rätselhafter Zusammenhang in einer geschlossenen Erzählform" überhaupt möglich ist. Der Leser fragt sich das, fast bis zum Ende, auch. Ich habe die einzelnen Geschichten, fasziniert, teilweise begeistert, oft mit Bangen, manchmal mit Widerwillen und Abscheu, auch Verzweiflung, aber nie gleichgültig gelesen. Einen Zusammenhang habe ich über lange Strecken kaum oder gar nicht erkennen können. Erst beim Zurückblättern oder beim zweiten Lesen, schließlich unter Zuhilfenahme des Begleitbandes "Peter Nadas Lesen" hat sich mir dann so manche Parallele doch noch erschlossen.
Dabei geht es ja nicht nur um die großen Erzählstränge, die zu verschiedenen Zeiten vor allem in Ungarn und in Deutschland, Berlin und Budapest spielen. Vor und nach dem Krieg, bis zu den Wendejahren. Es geht auch um die kleinen, fast versteckten Parallelen da und dort, mal an der holländischen Grenze oder am Meer, auf dem platten Land in Ungarn, am Ufer der Donau. Mal sind es ein nur ein paar Fahrräder, dann versprengte ungarische Soldaten, die in unerwarteten Zusammenhängen wieder auftauchen. Auch solche Verknüpfungen wollen und sollen er-lesen werden. (Ärgerlich nur, dass trotz der vielen, teils unaussprechlichen, schwer zu merkenden ungarischen Namen, auf Wunsch des Autors, nicht einmal dem Begleitband ein Personenverzeichnis beigegeben werden durfte.)
Denn nicht nur die Perspektiven wechseln, auch die Erzählstimmen, manchmal, meint man, mitten im Satz. So wird, zum Beispiel, bei einer langen Taxifahrt quer durch Budapest das Gespräch zwischen dem Fahrer, einem enteigneten Adligen und seinen beiden Fahrgästen, den beiden weiblichen Hauptpersonen des Romans, durch die inneren Monologe aller drei Personen immer wieder durchbrochen. Alte Erinnerungen mischen sich mit gegenwärtigen Eindrücken und Überlegungen. Dabei ergeben sich nicht nur drei verschiedene Sichtweisen auf diese eine Autofahrt, sondern auch noch eine ganze Anzahl von Rückblenden auf vergangene Ereignisse, die in anderen Zusammenhängen aus anderer Perspektive bereits erwähnt worden waren oder erst im Fortgang noch eine Rolle spielen werden. Die beiden Frauen saßen sich "zugewandt wie Spiegelbilder." Es knistert geradezu hörbar vor (erotischer) Spannung.
Der Chauffeur spürte sehr wohl, dass zwischen den beiden Frauen hinter ihm etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Sie lachten ganz leise, ganz kurz auf. Er war die Bekräftigung des verstehenden Blitzens ihrer Augen. (…) Sie schienen sich auf den Sitz zu drücken, mit zusammengepressten Schenkeln, eingezogenem Bauch und den Oberkörper ein wenig vorgewölbt. Das war das Lustvolle, hier einander präsent zu sein. Sich dem anderen zu überlassen, was nicht nur nicht alltäglich war, sondern ihnen auf eine tiefere, sorglosere Art vertraut vorkam. Also konnte man tatsächlich von Ágost in Frau Erna übertreten, und Gyöngyvér hatte nicht einmal bemerkt, wie das vor sich gegangen war. Das, was der Augenblick beeinhaltete, hatte keinen Gegenpol, weder Anziehung noch Abstoßung, und so wurden sein Raum und Inhalt unendlich. Erna hatte nicht bemerkt, dass der sterbende Mann, der vielleicht gar nicht mehr lebte, aus ihrem Leben verschwunden war. Von einer platzenden Seifenblase bleibt mehr zurück. Ihr einander geöffneter Blick verriet, das sie auf diesem weniger übersichtlichen Gebiet, das kein Mann jemals betritt, nicht mehr unkundig waren. Von ihnen beiden war Gyöngyvér die Kundigere, aber auch die Vorsichtigere, Zurückhaltendere. Frau Erna hatte sich ihr ganzes Leben eher auf ihre Phantasie und ihr Gedächtnis verlassen und war deshalb fordernder, gewissermaßen gieriger. Der Chauffeur seinerseits hätte gern im Spiegel zurückgeblickt, aber er konnte jetzt nicht.
Zur Erklärung dazu noch: Agóst ist der Liebhaber von Gyöngyvér, die bei ihnen lebt. Frau Erna ist Agosts Mutter. An anderer Stelle, im Zentrum des Buches, tauchen Gestalten auf, die sich in das Bewusstsein der Protagonisten ebenso einbrennen wie in das Gedächtnis der Leser. Der Mann als bloßer "Rumpf" und die "Brandwunde auf zwei Beinen". Mann und Frau, zwei Allegorien des Schreckens und des Verlusts. Der Krieg liegt erst zehn Jahre zurück, der niedergeschlagene Aufstand nur einige Wochen. Das ganze Elend war noch öffentlich. Holzbeine und leere, lose herabhängende Ärmel, abenteuerliche Krücken, Blinde, die sich tastend durch den Verkehr schoben, Verkrüppelungen jeder Art, unverhüllt ausgestellt. Aufgerissene Straßen, Schienen aus den Straßenbahngleisen gerissen. Einschusslöcher an den Wänden. Und mittendrin in diesem Chaos, der junge Kristof, der seine Eltern verloren hat und nun in der Stadt umherirrt. Schwankend zwischen Anteilnahme und Abwehr. Er kann sich dem Elend nicht entziehen, und spürt doch eher Befremdung und Ekel.
Kristof, das alter ego des Autors, gehört nirgendwo dazu, weder zu dem großbürgerlichen Haushalt seiner Tante, Frau Erna, bei der er aufwächst, noch zu den winselnden Tunten, die um seinen "Schwanz" betteln. Er charakterisiert die gräflichen Freundinnen der Tante ebenso genau wie die Schwielen an den Händen der Arbeiter, die ihm in die Hose greifen. Kristof lebt seine homosexuellen Neigungen aus. Doch er verliebt sich auch in eine Klara. Er lässt sich treiben durch das Budapest der 50er- und 60er-Jahre. Kristof ist so etwas wie eine Membrane, in der das Zittern der Zeit spürbar wird, die kleinsten Erschütterungen ebenso wie die mächtigen Sensationen.
Fast jeden Morgen sah ich einen Mann, der nur noch aus Rumpf bestand. Er schob sich zwischen den Beinen der Fußgänger auf einem Brett mit Rollen vorwärts. (…) Er rollte aus der Szófia-Straße heraus, bremste mit den Händen, die in dicken Lederhandschuhen steckten. (…) Ich weiß nicht, woher er kam. Zu dieser Stunde hatten es die Menschen eilig. Er sagte immer die gleichen zwei Sätze. Der Angeredete war immer ein Mann.
Das Rollbrett konnte er zwar unter sich wegsacken lassen, aber auf der anderen Straßenseite musste es ihm jemand wieder unterschieben. Er nahm Schwung. und während er sich auf beide Fäuste stützte und anhob, ließ er das Brett unter sich wegrollen und über den Randstein kippen. Mit einem neuerlichen Schwung ließ er seine Schenkelstümpfe wieder aufs Brett fallen, musste aber gleichzeitig mit den behandschuhten Händen stark bremsen, um nicht gleich in die Mitte der Fahrbahn hinauszurollen. Was von ihm noch übrig war, war sauber, stark und ordentlich. Vielleicht lag es nur an der rein physischen Anstrengung, dass ihm der Schweiß über Stirn und Hals lief. Das schöne Gesicht schaute aus der Tiefe zu den Fußgängern hinauf, sein langes, dunkelbraunes glattes Haar war aus seiner nassen Stirn nach hinten gedrückt, er bat, man möge ihm auf der anderen Straßenseite wieder auf den Gehsteig hinauf helfen. Immer im gleichen Tonfall. Wenn ich auf der anderen Seite um etwas Hilfe bitten darf. Ein unglückseliger Kriegsversehrter dankt im Voraus für Ihre Freundlichkeit. Meist geriet der Angeredete in Verlegenheit, aber der verkrüppelte Mann sagte nichts mehr. Er nahm Schwung, hob sich, ließ sich zurückfallen und bremste (…)
Während er sich über die Fahrbahn schob, ging ihm der andere ergeben nach. Auf den stark gewölbten Pflastersteinen machten die vier kleinen Metallräder einen höllischen Lärm. Ich sah ihn oft und folgte ihm, um zu sehen, wohin er unterwegs war. Die Männer wurden von Scham gepackt, von panischer Angst. Und von einer Art kindlichem Eifer. (…) Auf ihren Gesichtern und in ihrer ganzen Haltung der gleiche Ausdruck von Scham. (…) Das Rollbrett ratterte, knatterte und klapperte über die unebenen Pflastersteine. Die Autos hielten an, manchmal auch die Straßenbahn.
Und wenn er auf der anderen Seite ankam, neigte sich der Torso vor, die beiden behandschuhten Hände stützten sich auf dem Gehsteig ab, die starke Schultermuskulatur spannte sich, und als wäre es eine Übung am Reck, schwang er sich leicht und elegant hinauf und vermochte seinen Rumpf sogar in der Schwebe zu halten. In diesem Moment musste man das Rollbrett unter die Stümpfe schieben.
Kristof versuchte, diesen Vorgang aus einem gewissen Abstand zu beobachten. Wenn er dem Mann folgte, schwankend zwischen Anteilnahme, Neugier und Befremdung, sah er sich hoffnungslos in seine eigenen Empfindungen verstrickt. In dieser Gegend waren solche Gestalten häufig anzutreffen. Den größten Schrecken verbreitete für ihn die "Brandwunde auf zwei Beinen". Eine elegante, vermutlich jüngere Dame.
Unter ihrem riesigen Hut ringelte sich keine Locke, kein einziges Haar hervor. Die tief heruntergezogene Krempe verdeckte die Stirn fast, hielt die Stelle ihres Gesichts im Schatten.
An der Stirn eine unwahrscheinliche Einbuchtung. Als wäre der Übergang zwischen Schädelknochen und Stirnknochen eingebrochen, unter irgendeiner Einwirkung (…) An ihrem Gesicht Narben, Schnitte, grob geschwollene Nähte. Keine Nase, keine Lippen, nur ein Spalt und zwei dunkle Löcher am Nasenansatz. (…) Ihr Atem ging pfeifend. (…) Wenn wir irgendwo zusammen anstehen mussten, tat ich, als hätte ich anderswo dringend etwas zu erledigen. Aus der Nähe ertrug ich dieses breiige Pfeifen nicht. Als würde mir von seinem Druck das Trommelfell platzen, obwohl mir doch das Herz brach, aber das durfte ich mir nicht eingestehen, was soll man mit fremden Schmerz anfangen.
Die Anziehungskraft, die von diesen erbarmungswürdigen Gestalten auf Kristof ausgeht, lässt in ihm eine Zwangsvorstellung entstehen, wenn er den Mann sieht, denkt er immer:
Mein Vater wäre ungefähr gleich alt gewesen, wäre er wenigstens in dieser Form am Leben geblieben.
Und:
Wenn ich ihn sah, konnte ich nicht anders, ich musste ihn mir als meinen Vater vorstellen.
Die Frau, diese "Brandwunde auf zwei Beinen", hätte seine Mutter sein können. Erstaunlicherweise geht selbst von solchen Gestalten, denen unsereiner nicht im Traum begegnen möchte, noch eine Art von Faszination aus. Selbst diese Schreckensbeschreibungen sind, wohl nicht nur in ihrem Zusammenhang gesehen, magisch aufgeladen. Es mag die Sehnsucht nach den verlorenen Eltern da mitschwingen, nach ihrer auf ewig verlorenen Liebe, die hier das fremde Leiden durchdringt.
Und es ist die Sprache von Nadas. Ein Geflecht aus Wahrnehmungen und Empfindungen, untrennbar ineinander verschlungen, zugleich in einem Rahmen zwischen Weit- und Weltläufigkeit eingespannt und mit einer geradezu atemberaubenden Präzision beschrieben. Ethnologen würden hier von "dichter Beschreibung" sprechen. Man darf auch, etwas schlichter, Poesie dazu sagen. Die ungarische Kritikerin Victória Radics hat das Verfahren der "Parallelgeschichten" sehr treffend Mikro-Realismus genannt. An diesem Punkt trifft sich Nadas mit seinem großen Vorgänger Proust, der ebenfalls eine "verlorene Zeit" und eine verlorene Welt aus der sinnlichen Wahrnehmung re-konstruieren (und dann reflektieren) konnte.
Marcel Reich-Ranicki, unser alter Literaturpapst, hatte einst, auf dem Höhepunkt seiner Macht, ex cathedra und kühn verkündet, dass ein jeder Roman über fünfhundert Seiten Umfang misslingen müsse. Er hat Recht gehabt. Natürlich ist es unmöglich, einen dann derartig umfangreichen Stoff so zu bändigen, dass sich der einst von Adorno gern zitierte deutsche "Oberlehrer" daran ergötzen kann. Der traditionelle Roman stößt zuweilen an seine (sicher nicht einmal engen) Grenzen. Nur, wo steht geschrieben, dass wir diese Beschränkungen der Tradition akzeptieren müssen. Die größten Romane des 20. Jahrhunderts sind alle schon darüber hinweggegangen, ohne um den Beifall der Traditionswächter zu buhlen. Ob Musils "Mann ohne Eigenschaften", ob Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit", oder auch Peter Nadas’ "Buch der Erinnerung". Immer sind aus diesen oft "dichten" Beschreibungen und ebenso kühnen Reflexionen neue Welten, jenseits etablierter Harmoniebedürfnisse, entstanden.
Das Motto aus dem Johannes-Evangelium (2.21), das dem "Buch der Erinnerung" vorangestellt war, könnte auch für die "Parallelgeschichten" gelten: "Er aber redete vom Tempel seines Leibes". Und der Vorspruch zeigt die direkte Beziehung:
'Buch der Erinnerung' ist ein Roman; ich habe damit nicht meine eigenen Memoiren geschrieben. Es war meine Absicht, Erinnerungen zu schreiben, ein wenig wie Plutarch, parallele Erinnerungen verschiedener Personen zu verschiedenen Zeiten, und die verschiedenen Personen wären alle ich, ohne daß ich es wirklich wäre.
Diese Orientierung an der "Schönheit meiner Regelwidrigkeit" hat Nadas jetzt auf höherer Stufenleiter weitergeführt. Das Ergebnis: ein Monumentalroman, der sich jeder Eingrenzung entzieht und sich souverän seine eigenen Gesetze gibt. Der Mikro-Realismus schafft die Dichte, pathetisch gesagt: das Leben. Plutarchs Parallelen schaffen die Weite, anders gesagt: die Welt. Die vielen Ichs, die sich hier tummeln, schaffen die vielen Geschichten, in den verschiedensten Formen, vom Krimi bis zum Familienroman, von der Abenteuergeschichte bis zum Kriegsbericht.
In der Beschreibung von Kristofs Besuch auf der Margareteninsel, seinerzeit einem verbotenen Schwulentreff, mit gelegentlichen Razzien (heute wird für "Gayfriendlyhotels" geworben), zittert noch immer die Spannung durch, unter der damals dieser junge Mann lebte. Sein Anpirschen, bange, ängstlich, die vorsichtige Distanz zu den fast unwirklichen Gestalten, etwa des "Riesen" und seines "Gehilfen", das drängende Verlangen, und schließlich das erhoffte, befürchtete Erlebnis, dann eine panische Flucht. Dieses Glanzstück des Romans hält jeden Vergleich, auch den mit einem Jean Genet aus.
Mag sein, dass Nadas ein Erotomane ist. Eine der großen Nebenfiguren der "Parallelgeschichten", Madzar, ein Architekt, auch er, wie viele der Männer in diesem Buch, bisexuell ist in eine verheiratete Frau verliebt.
Je weniger er es sich vorstellte, umso mehr bestärkte er sich darin, dass er diese Frau begehren musste. Er empfand es als skandalös, dass die Natur den Mann mit einem solchen Glied ausgestattet hat. Als hätten anspruchsvolle Götter das durch Schleimhäute empfindliche, rohe Innere seines Körpers nach außen gestülpt, ein inneres Organ entblößt, das keine an den anderen Teilen des Körpers messbare Ästhetik besaß.
Er vermochte nur zu denken, dass er auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, den einzigen greifbaren Wegweiser der Schöpfung in der Erektion finden würde.
Aber Nadas, anders als Henry Miller, der ähnlich dachte, wird darüber nicht zum Mystiker der Sexualität. "Nicht die Sexualität ist bei Nadas mystisch, auch nicht die Erotik, sondern die Sinneswahrnehmung." schreibt die ungarische Kritikerin Viktoria Radics. Und zwar deshalb, weil sie ans Unendliche stößt. Die Wahrnehmung, so hatte Nadas in seiner faszinierend toll-entsetzlichen Geschichte "Der eigene Tod" schon geschrieben, geht über die Zeitlichkeit hinaus und ist nicht an die Räumlichkeit gebunden. Der Wärmestrom, der sich durch die "Parallelgeschichten" zieht, und die Tausende und Abertausende von Einzelheiten durchströmt und mit seiner Energie auflädt, dieser Strom entspringt dieser Sinnlichkeit. Er hält sich nicht an den Grenzen auf, von Mann und Frau, von Blick oder Fick, von einem derben Hieb oder einem zärtlichen Griff. Er durchströmt alles Geschehen und jede der Figuren.
Auch, natürlich, den wohl längsten Begattungsakt der Weltliteratur. Agóst und Gyöngyvér. Vier Tage dauert dieser Akt an. Er wird mit der Präzision eines pathologischen Untersuchungsberichts in allen anatomischen Details, und zwar auf weit über hundert Seiten beschrieben und später immer wieder, auf vielen Seiten, von den beiden unmittelbar Beteiligten und einer zeitweiligen Zuschauerin in Erinnerung gerufen, weiter erzählt, gewichtet und bewertet, ohne, das ist das Wunderbare daran, dadurch an erotischer Spannung zu verlieren. Harold Brodkeys "Unschuld", auch ca. fünfzig Seiten lang, erscheint dagegen als unbeholfener Schnellschuss. Um eine solche Genauigkeit zu erreichen, hier ließen sich übrigens die Unterschiede zwischen Erotik, Sexualität und Pornographie mühelos entwickeln, hat Nadas ganze Bibliotheken konsultiert und die dann noch offenen Fragen von Medizinern klären lassen. Auch die sachliche Genauigkeit dient noch der Lust, genauer: ihrem Aufschub.
Das vermeintliche Übergewicht, das dieser orgiastischen Beschreibung an Ort und Stelle zuzukommen scheint, relativiert sich im Fortgang immer mehr. Je mehr nämlich die poetische Energie der "Parallelgeschichten" überhaupt erkennbar wird. "Er sah keinen Sinn in dieser ganzen Fickerei", dachte Àgost, während er an der "Wärme seiner Haut" die Brüste Gyöngyvérs spürte. Das heißt, auch die Akteure erfahren, was sie in Aktion erlebt haben, erst im Nachhinein. Wie die Leser. Das Buch wirkt nach. Wie der alte Gefängniswärter. Auch eine dieser unvergesslichen Gestalt. Er suchte, allein auf dem Land lebend, schon etwas verwirrt, nur noch seine Ruhe. Vergeblich.
Die Stimme seiner Mutter schluchzte in seinem Ohr auf. Das ist nichts für dich, mein Junge. (…) Klar war es nichts für ihn, aber woher zum Teufel wollte seine Mutter wissen, was dann für ihn war.
Die Unterhose warf er zu der schmutzigen Wäsche. Er suchte in der Nacktheit eigentlich die verlorene Ruhe, nur hätte er das Gewicht seines Körpers von seiner Seele ablösen müssen.
Parallelen schneiden sich bekanntlich im Unendlichen. Nadas’ Parallelelgeschichten treffen sich bereits hier, in dieser Intention: das Gewicht des Körpers von der Seele abzulösen.
Peter Nadas: "Parallelgeschichten". Roman.
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Rowohlt Verlag, Reinbek, 2012, 1728 Seiten, 39,95 €
* * *
Der Begleitband "Peter Nadas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten", herausgegeben, stellt keinen akademischen Begleitschutz für ein unvergleichliches Exempel von sogenannter Literatenliteratur dar. Im Gegenteil. Natürlich lassen die einzelnen der "Parallelgeschichten" fast problemlos einzeln lesen und verstehen. Schwierig ist nur, angesichts des riesigen Umfangs von fast zweitausend Seiten fast unvermeidlich, der Zusammenhang des Unternehmens zu erkennen und nachzuvollziehen. Da helfen die Ausführungen der Übersetzerin Christina Viragh schon einmal ein ganzes Stückchen weiter.
Viktoria Radics’ Beitrag "Statt einer Kritik", also etwas, das die Amerikaner "close reading" nennen, das heißt eine so genaue Lektüre, in der dann bereits die Deutung durchscheint, diese
Lektüre der Parallelgeschichten, alles andere als eine akademische Trockenübung, bietet eine Vielzahl von unverzichtbaren, teils verdeckten, teils versteckten Informationen und schließt damit Zusammenhänge auf, die das unübersichtliche Ganze dieses weiten Feldes sehr viel übersichtlicher werden lässt. Die "Parallelgeschichten" können solche Lesehilfe gut vertragen.
Daniel Graf & Delf Schmidt (Hg.): Péter Nádas lesen.
Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten, 239 Seiten, 16,95 €
Der Umfang dieses Werkes ist beträchtlich. Der Anspruch immens. Die Anforderungen an den Leser sind ebenfalls ordentlich. 1728 Seiten, in 39 Kapitel und drei Bücher gegliedert. Fürwahr ein Opus Magnum. Achtzehn Jahre soll, so sagt man, Nadas daran gearbeitet haben. Gelohnt hat es sich. Es sind tatsächlich parallele Geschichten, eine ganze Menge sogar, mit einer schieren Unmenge an Personal.
Menschen, die sich niemals begegnet sind oder sich nur sehr oberflächlich kennen und deren Schicksal trotzdem grundlegend voneinander bestimmt wird.
Am Anfang ein Toter im Berliner Tierpark. Vielleicht Agóst, der Diplomat? Am Ende ein Toter im Garten des Gefängniswärters. Gewiss der Brotdieb. Dazwischen die Geschichten.
Der Autor fragt sich deshalb, "ob ein solch verborgener und rätselhafter Zusammenhang in einer geschlossenen Erzählform" überhaupt möglich ist. Der Leser fragt sich das, fast bis zum Ende, auch. Ich habe die einzelnen Geschichten, fasziniert, teilweise begeistert, oft mit Bangen, manchmal mit Widerwillen und Abscheu, auch Verzweiflung, aber nie gleichgültig gelesen. Einen Zusammenhang habe ich über lange Strecken kaum oder gar nicht erkennen können. Erst beim Zurückblättern oder beim zweiten Lesen, schließlich unter Zuhilfenahme des Begleitbandes "Peter Nadas Lesen" hat sich mir dann so manche Parallele doch noch erschlossen.
Dabei geht es ja nicht nur um die großen Erzählstränge, die zu verschiedenen Zeiten vor allem in Ungarn und in Deutschland, Berlin und Budapest spielen. Vor und nach dem Krieg, bis zu den Wendejahren. Es geht auch um die kleinen, fast versteckten Parallelen da und dort, mal an der holländischen Grenze oder am Meer, auf dem platten Land in Ungarn, am Ufer der Donau. Mal sind es ein nur ein paar Fahrräder, dann versprengte ungarische Soldaten, die in unerwarteten Zusammenhängen wieder auftauchen. Auch solche Verknüpfungen wollen und sollen er-lesen werden. (Ärgerlich nur, dass trotz der vielen, teils unaussprechlichen, schwer zu merkenden ungarischen Namen, auf Wunsch des Autors, nicht einmal dem Begleitband ein Personenverzeichnis beigegeben werden durfte.)
Denn nicht nur die Perspektiven wechseln, auch die Erzählstimmen, manchmal, meint man, mitten im Satz. So wird, zum Beispiel, bei einer langen Taxifahrt quer durch Budapest das Gespräch zwischen dem Fahrer, einem enteigneten Adligen und seinen beiden Fahrgästen, den beiden weiblichen Hauptpersonen des Romans, durch die inneren Monologe aller drei Personen immer wieder durchbrochen. Alte Erinnerungen mischen sich mit gegenwärtigen Eindrücken und Überlegungen. Dabei ergeben sich nicht nur drei verschiedene Sichtweisen auf diese eine Autofahrt, sondern auch noch eine ganze Anzahl von Rückblenden auf vergangene Ereignisse, die in anderen Zusammenhängen aus anderer Perspektive bereits erwähnt worden waren oder erst im Fortgang noch eine Rolle spielen werden. Die beiden Frauen saßen sich "zugewandt wie Spiegelbilder." Es knistert geradezu hörbar vor (erotischer) Spannung.
Der Chauffeur spürte sehr wohl, dass zwischen den beiden Frauen hinter ihm etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Sie lachten ganz leise, ganz kurz auf. Er war die Bekräftigung des verstehenden Blitzens ihrer Augen. (…) Sie schienen sich auf den Sitz zu drücken, mit zusammengepressten Schenkeln, eingezogenem Bauch und den Oberkörper ein wenig vorgewölbt. Das war das Lustvolle, hier einander präsent zu sein. Sich dem anderen zu überlassen, was nicht nur nicht alltäglich war, sondern ihnen auf eine tiefere, sorglosere Art vertraut vorkam. Also konnte man tatsächlich von Ágost in Frau Erna übertreten, und Gyöngyvér hatte nicht einmal bemerkt, wie das vor sich gegangen war. Das, was der Augenblick beeinhaltete, hatte keinen Gegenpol, weder Anziehung noch Abstoßung, und so wurden sein Raum und Inhalt unendlich. Erna hatte nicht bemerkt, dass der sterbende Mann, der vielleicht gar nicht mehr lebte, aus ihrem Leben verschwunden war. Von einer platzenden Seifenblase bleibt mehr zurück. Ihr einander geöffneter Blick verriet, das sie auf diesem weniger übersichtlichen Gebiet, das kein Mann jemals betritt, nicht mehr unkundig waren. Von ihnen beiden war Gyöngyvér die Kundigere, aber auch die Vorsichtigere, Zurückhaltendere. Frau Erna hatte sich ihr ganzes Leben eher auf ihre Phantasie und ihr Gedächtnis verlassen und war deshalb fordernder, gewissermaßen gieriger. Der Chauffeur seinerseits hätte gern im Spiegel zurückgeblickt, aber er konnte jetzt nicht.
Zur Erklärung dazu noch: Agóst ist der Liebhaber von Gyöngyvér, die bei ihnen lebt. Frau Erna ist Agosts Mutter. An anderer Stelle, im Zentrum des Buches, tauchen Gestalten auf, die sich in das Bewusstsein der Protagonisten ebenso einbrennen wie in das Gedächtnis der Leser. Der Mann als bloßer "Rumpf" und die "Brandwunde auf zwei Beinen". Mann und Frau, zwei Allegorien des Schreckens und des Verlusts. Der Krieg liegt erst zehn Jahre zurück, der niedergeschlagene Aufstand nur einige Wochen. Das ganze Elend war noch öffentlich. Holzbeine und leere, lose herabhängende Ärmel, abenteuerliche Krücken, Blinde, die sich tastend durch den Verkehr schoben, Verkrüppelungen jeder Art, unverhüllt ausgestellt. Aufgerissene Straßen, Schienen aus den Straßenbahngleisen gerissen. Einschusslöcher an den Wänden. Und mittendrin in diesem Chaos, der junge Kristof, der seine Eltern verloren hat und nun in der Stadt umherirrt. Schwankend zwischen Anteilnahme und Abwehr. Er kann sich dem Elend nicht entziehen, und spürt doch eher Befremdung und Ekel.
Kristof, das alter ego des Autors, gehört nirgendwo dazu, weder zu dem großbürgerlichen Haushalt seiner Tante, Frau Erna, bei der er aufwächst, noch zu den winselnden Tunten, die um seinen "Schwanz" betteln. Er charakterisiert die gräflichen Freundinnen der Tante ebenso genau wie die Schwielen an den Händen der Arbeiter, die ihm in die Hose greifen. Kristof lebt seine homosexuellen Neigungen aus. Doch er verliebt sich auch in eine Klara. Er lässt sich treiben durch das Budapest der 50er- und 60er-Jahre. Kristof ist so etwas wie eine Membrane, in der das Zittern der Zeit spürbar wird, die kleinsten Erschütterungen ebenso wie die mächtigen Sensationen.
Fast jeden Morgen sah ich einen Mann, der nur noch aus Rumpf bestand. Er schob sich zwischen den Beinen der Fußgänger auf einem Brett mit Rollen vorwärts. (…) Er rollte aus der Szófia-Straße heraus, bremste mit den Händen, die in dicken Lederhandschuhen steckten. (…) Ich weiß nicht, woher er kam. Zu dieser Stunde hatten es die Menschen eilig. Er sagte immer die gleichen zwei Sätze. Der Angeredete war immer ein Mann.
Das Rollbrett konnte er zwar unter sich wegsacken lassen, aber auf der anderen Straßenseite musste es ihm jemand wieder unterschieben. Er nahm Schwung. und während er sich auf beide Fäuste stützte und anhob, ließ er das Brett unter sich wegrollen und über den Randstein kippen. Mit einem neuerlichen Schwung ließ er seine Schenkelstümpfe wieder aufs Brett fallen, musste aber gleichzeitig mit den behandschuhten Händen stark bremsen, um nicht gleich in die Mitte der Fahrbahn hinauszurollen. Was von ihm noch übrig war, war sauber, stark und ordentlich. Vielleicht lag es nur an der rein physischen Anstrengung, dass ihm der Schweiß über Stirn und Hals lief. Das schöne Gesicht schaute aus der Tiefe zu den Fußgängern hinauf, sein langes, dunkelbraunes glattes Haar war aus seiner nassen Stirn nach hinten gedrückt, er bat, man möge ihm auf der anderen Straßenseite wieder auf den Gehsteig hinauf helfen. Immer im gleichen Tonfall. Wenn ich auf der anderen Seite um etwas Hilfe bitten darf. Ein unglückseliger Kriegsversehrter dankt im Voraus für Ihre Freundlichkeit. Meist geriet der Angeredete in Verlegenheit, aber der verkrüppelte Mann sagte nichts mehr. Er nahm Schwung, hob sich, ließ sich zurückfallen und bremste (…)
Während er sich über die Fahrbahn schob, ging ihm der andere ergeben nach. Auf den stark gewölbten Pflastersteinen machten die vier kleinen Metallräder einen höllischen Lärm. Ich sah ihn oft und folgte ihm, um zu sehen, wohin er unterwegs war. Die Männer wurden von Scham gepackt, von panischer Angst. Und von einer Art kindlichem Eifer. (…) Auf ihren Gesichtern und in ihrer ganzen Haltung der gleiche Ausdruck von Scham. (…) Das Rollbrett ratterte, knatterte und klapperte über die unebenen Pflastersteine. Die Autos hielten an, manchmal auch die Straßenbahn.
Und wenn er auf der anderen Seite ankam, neigte sich der Torso vor, die beiden behandschuhten Hände stützten sich auf dem Gehsteig ab, die starke Schultermuskulatur spannte sich, und als wäre es eine Übung am Reck, schwang er sich leicht und elegant hinauf und vermochte seinen Rumpf sogar in der Schwebe zu halten. In diesem Moment musste man das Rollbrett unter die Stümpfe schieben.
Kristof versuchte, diesen Vorgang aus einem gewissen Abstand zu beobachten. Wenn er dem Mann folgte, schwankend zwischen Anteilnahme, Neugier und Befremdung, sah er sich hoffnungslos in seine eigenen Empfindungen verstrickt. In dieser Gegend waren solche Gestalten häufig anzutreffen. Den größten Schrecken verbreitete für ihn die "Brandwunde auf zwei Beinen". Eine elegante, vermutlich jüngere Dame.
Unter ihrem riesigen Hut ringelte sich keine Locke, kein einziges Haar hervor. Die tief heruntergezogene Krempe verdeckte die Stirn fast, hielt die Stelle ihres Gesichts im Schatten.
An der Stirn eine unwahrscheinliche Einbuchtung. Als wäre der Übergang zwischen Schädelknochen und Stirnknochen eingebrochen, unter irgendeiner Einwirkung (…) An ihrem Gesicht Narben, Schnitte, grob geschwollene Nähte. Keine Nase, keine Lippen, nur ein Spalt und zwei dunkle Löcher am Nasenansatz. (…) Ihr Atem ging pfeifend. (…) Wenn wir irgendwo zusammen anstehen mussten, tat ich, als hätte ich anderswo dringend etwas zu erledigen. Aus der Nähe ertrug ich dieses breiige Pfeifen nicht. Als würde mir von seinem Druck das Trommelfell platzen, obwohl mir doch das Herz brach, aber das durfte ich mir nicht eingestehen, was soll man mit fremden Schmerz anfangen.
Die Anziehungskraft, die von diesen erbarmungswürdigen Gestalten auf Kristof ausgeht, lässt in ihm eine Zwangsvorstellung entstehen, wenn er den Mann sieht, denkt er immer:
Mein Vater wäre ungefähr gleich alt gewesen, wäre er wenigstens in dieser Form am Leben geblieben.
Und:
Wenn ich ihn sah, konnte ich nicht anders, ich musste ihn mir als meinen Vater vorstellen.
Die Frau, diese "Brandwunde auf zwei Beinen", hätte seine Mutter sein können. Erstaunlicherweise geht selbst von solchen Gestalten, denen unsereiner nicht im Traum begegnen möchte, noch eine Art von Faszination aus. Selbst diese Schreckensbeschreibungen sind, wohl nicht nur in ihrem Zusammenhang gesehen, magisch aufgeladen. Es mag die Sehnsucht nach den verlorenen Eltern da mitschwingen, nach ihrer auf ewig verlorenen Liebe, die hier das fremde Leiden durchdringt.
Und es ist die Sprache von Nadas. Ein Geflecht aus Wahrnehmungen und Empfindungen, untrennbar ineinander verschlungen, zugleich in einem Rahmen zwischen Weit- und Weltläufigkeit eingespannt und mit einer geradezu atemberaubenden Präzision beschrieben. Ethnologen würden hier von "dichter Beschreibung" sprechen. Man darf auch, etwas schlichter, Poesie dazu sagen. Die ungarische Kritikerin Victória Radics hat das Verfahren der "Parallelgeschichten" sehr treffend Mikro-Realismus genannt. An diesem Punkt trifft sich Nadas mit seinem großen Vorgänger Proust, der ebenfalls eine "verlorene Zeit" und eine verlorene Welt aus der sinnlichen Wahrnehmung re-konstruieren (und dann reflektieren) konnte.
Marcel Reich-Ranicki, unser alter Literaturpapst, hatte einst, auf dem Höhepunkt seiner Macht, ex cathedra und kühn verkündet, dass ein jeder Roman über fünfhundert Seiten Umfang misslingen müsse. Er hat Recht gehabt. Natürlich ist es unmöglich, einen dann derartig umfangreichen Stoff so zu bändigen, dass sich der einst von Adorno gern zitierte deutsche "Oberlehrer" daran ergötzen kann. Der traditionelle Roman stößt zuweilen an seine (sicher nicht einmal engen) Grenzen. Nur, wo steht geschrieben, dass wir diese Beschränkungen der Tradition akzeptieren müssen. Die größten Romane des 20. Jahrhunderts sind alle schon darüber hinweggegangen, ohne um den Beifall der Traditionswächter zu buhlen. Ob Musils "Mann ohne Eigenschaften", ob Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit", oder auch Peter Nadas’ "Buch der Erinnerung". Immer sind aus diesen oft "dichten" Beschreibungen und ebenso kühnen Reflexionen neue Welten, jenseits etablierter Harmoniebedürfnisse, entstanden.
Das Motto aus dem Johannes-Evangelium (2.21), das dem "Buch der Erinnerung" vorangestellt war, könnte auch für die "Parallelgeschichten" gelten: "Er aber redete vom Tempel seines Leibes". Und der Vorspruch zeigt die direkte Beziehung:
'Buch der Erinnerung' ist ein Roman; ich habe damit nicht meine eigenen Memoiren geschrieben. Es war meine Absicht, Erinnerungen zu schreiben, ein wenig wie Plutarch, parallele Erinnerungen verschiedener Personen zu verschiedenen Zeiten, und die verschiedenen Personen wären alle ich, ohne daß ich es wirklich wäre.
Diese Orientierung an der "Schönheit meiner Regelwidrigkeit" hat Nadas jetzt auf höherer Stufenleiter weitergeführt. Das Ergebnis: ein Monumentalroman, der sich jeder Eingrenzung entzieht und sich souverän seine eigenen Gesetze gibt. Der Mikro-Realismus schafft die Dichte, pathetisch gesagt: das Leben. Plutarchs Parallelen schaffen die Weite, anders gesagt: die Welt. Die vielen Ichs, die sich hier tummeln, schaffen die vielen Geschichten, in den verschiedensten Formen, vom Krimi bis zum Familienroman, von der Abenteuergeschichte bis zum Kriegsbericht.
In der Beschreibung von Kristofs Besuch auf der Margareteninsel, seinerzeit einem verbotenen Schwulentreff, mit gelegentlichen Razzien (heute wird für "Gayfriendlyhotels" geworben), zittert noch immer die Spannung durch, unter der damals dieser junge Mann lebte. Sein Anpirschen, bange, ängstlich, die vorsichtige Distanz zu den fast unwirklichen Gestalten, etwa des "Riesen" und seines "Gehilfen", das drängende Verlangen, und schließlich das erhoffte, befürchtete Erlebnis, dann eine panische Flucht. Dieses Glanzstück des Romans hält jeden Vergleich, auch den mit einem Jean Genet aus.
Mag sein, dass Nadas ein Erotomane ist. Eine der großen Nebenfiguren der "Parallelgeschichten", Madzar, ein Architekt, auch er, wie viele der Männer in diesem Buch, bisexuell ist in eine verheiratete Frau verliebt.
Je weniger er es sich vorstellte, umso mehr bestärkte er sich darin, dass er diese Frau begehren musste. Er empfand es als skandalös, dass die Natur den Mann mit einem solchen Glied ausgestattet hat. Als hätten anspruchsvolle Götter das durch Schleimhäute empfindliche, rohe Innere seines Körpers nach außen gestülpt, ein inneres Organ entblößt, das keine an den anderen Teilen des Körpers messbare Ästhetik besaß.
Er vermochte nur zu denken, dass er auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, den einzigen greifbaren Wegweiser der Schöpfung in der Erektion finden würde.
Aber Nadas, anders als Henry Miller, der ähnlich dachte, wird darüber nicht zum Mystiker der Sexualität. "Nicht die Sexualität ist bei Nadas mystisch, auch nicht die Erotik, sondern die Sinneswahrnehmung." schreibt die ungarische Kritikerin Viktoria Radics. Und zwar deshalb, weil sie ans Unendliche stößt. Die Wahrnehmung, so hatte Nadas in seiner faszinierend toll-entsetzlichen Geschichte "Der eigene Tod" schon geschrieben, geht über die Zeitlichkeit hinaus und ist nicht an die Räumlichkeit gebunden. Der Wärmestrom, der sich durch die "Parallelgeschichten" zieht, und die Tausende und Abertausende von Einzelheiten durchströmt und mit seiner Energie auflädt, dieser Strom entspringt dieser Sinnlichkeit. Er hält sich nicht an den Grenzen auf, von Mann und Frau, von Blick oder Fick, von einem derben Hieb oder einem zärtlichen Griff. Er durchströmt alles Geschehen und jede der Figuren.
Auch, natürlich, den wohl längsten Begattungsakt der Weltliteratur. Agóst und Gyöngyvér. Vier Tage dauert dieser Akt an. Er wird mit der Präzision eines pathologischen Untersuchungsberichts in allen anatomischen Details, und zwar auf weit über hundert Seiten beschrieben und später immer wieder, auf vielen Seiten, von den beiden unmittelbar Beteiligten und einer zeitweiligen Zuschauerin in Erinnerung gerufen, weiter erzählt, gewichtet und bewertet, ohne, das ist das Wunderbare daran, dadurch an erotischer Spannung zu verlieren. Harold Brodkeys "Unschuld", auch ca. fünfzig Seiten lang, erscheint dagegen als unbeholfener Schnellschuss. Um eine solche Genauigkeit zu erreichen, hier ließen sich übrigens die Unterschiede zwischen Erotik, Sexualität und Pornographie mühelos entwickeln, hat Nadas ganze Bibliotheken konsultiert und die dann noch offenen Fragen von Medizinern klären lassen. Auch die sachliche Genauigkeit dient noch der Lust, genauer: ihrem Aufschub.
Das vermeintliche Übergewicht, das dieser orgiastischen Beschreibung an Ort und Stelle zuzukommen scheint, relativiert sich im Fortgang immer mehr. Je mehr nämlich die poetische Energie der "Parallelgeschichten" überhaupt erkennbar wird. "Er sah keinen Sinn in dieser ganzen Fickerei", dachte Àgost, während er an der "Wärme seiner Haut" die Brüste Gyöngyvérs spürte. Das heißt, auch die Akteure erfahren, was sie in Aktion erlebt haben, erst im Nachhinein. Wie die Leser. Das Buch wirkt nach. Wie der alte Gefängniswärter. Auch eine dieser unvergesslichen Gestalt. Er suchte, allein auf dem Land lebend, schon etwas verwirrt, nur noch seine Ruhe. Vergeblich.
Die Stimme seiner Mutter schluchzte in seinem Ohr auf. Das ist nichts für dich, mein Junge. (…) Klar war es nichts für ihn, aber woher zum Teufel wollte seine Mutter wissen, was dann für ihn war.
Die Unterhose warf er zu der schmutzigen Wäsche. Er suchte in der Nacktheit eigentlich die verlorene Ruhe, nur hätte er das Gewicht seines Körpers von seiner Seele ablösen müssen.
Parallelen schneiden sich bekanntlich im Unendlichen. Nadas’ Parallelelgeschichten treffen sich bereits hier, in dieser Intention: das Gewicht des Körpers von der Seele abzulösen.
Peter Nadas: "Parallelgeschichten". Roman.
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Rowohlt Verlag, Reinbek, 2012, 1728 Seiten, 39,95 €
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Der Begleitband "Peter Nadas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten", herausgegeben, stellt keinen akademischen Begleitschutz für ein unvergleichliches Exempel von sogenannter Literatenliteratur dar. Im Gegenteil. Natürlich lassen die einzelnen der "Parallelgeschichten" fast problemlos einzeln lesen und verstehen. Schwierig ist nur, angesichts des riesigen Umfangs von fast zweitausend Seiten fast unvermeidlich, der Zusammenhang des Unternehmens zu erkennen und nachzuvollziehen. Da helfen die Ausführungen der Übersetzerin Christina Viragh schon einmal ein ganzes Stückchen weiter.
Viktoria Radics’ Beitrag "Statt einer Kritik", also etwas, das die Amerikaner "close reading" nennen, das heißt eine so genaue Lektüre, in der dann bereits die Deutung durchscheint, diese
Lektüre der Parallelgeschichten, alles andere als eine akademische Trockenübung, bietet eine Vielzahl von unverzichtbaren, teils verdeckten, teils versteckten Informationen und schließt damit Zusammenhänge auf, die das unübersichtliche Ganze dieses weiten Feldes sehr viel übersichtlicher werden lässt. Die "Parallelgeschichten" können solche Lesehilfe gut vertragen.
Daniel Graf & Delf Schmidt (Hg.): Péter Nádas lesen.
Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten, 239 Seiten, 16,95 €