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Das gläserne Siegel

Octavio Paz hat einmal über die Romane seines mexikanischen Kollegen Carlos Fuentes gesagt, jeder von ihnen zeige sich "als Hieroglyphe; gleichzeitig ist er die unsichtbar bewegende Handlung, der hartnäckige Versuch, diese Hieroglyphe zu entziffern. Jedes Zeichen gibt ein weiteres Zeichen ... und immer so weiter von Roman zu Roman von Gestalt zu Gestalt. Fuentes fragt diese Zeichen aus und die Zeichen fragen ihn aus: Der Autor ist selbst ein Zeichen." Für den Leser der meisten der vielen Romane von Carlos Fuentes bedeutet das, ständig auf der Hut sein zu müssen vor Überraschungen, da mit jedem neuen Kapitel auch neue Rätsel entstehen können. Insofern eignet sich Fuentes schlecht zur Bettlektüre. Man muß mitdenken, sich Geschehen und Figuren gleichzeitig vorstellen und sie deuten, man wird von mäandernden Handlungssträngen geleitet und ist ebenso gezwungen, sie neu zu ordnen. Kurz gesagt: wer einen Roman von Fuentes aufschlägt, hat nicht nur Vergnügen sondern auch ein Stück Arbeit vor sich.

Martin Grzimek |
    Auch das jüngste Werk Das gläserne Siegel stellt diese Anforderung, obwohl die Disposition gleich mit dem ersten Kapitel eine in der Literatur recht vertraute Geschichte erwarten läßt: Ein 93jähriger Stardirigent erinnert sich auf seinem Altersruhesitz in Salzburg angesichts eines gläsernen Siegels an seine nie zur Erfüllung gelangte Liebe zu einer mexikanischen Sopranistin, der er in seinem langen Leben nur ganze drei Mal begegnet ist. Jede dieser Begegnungen war mit der Aufführung der Legendenoper La damnation de Faust von Hector Berlioz verbunden. Die erste fand am 28. Dezember 1940 im Covent Garden in London statt. Gabriel Atlan-Ferrara, dem nach Fuentes eigener Aussage der von ihm verehrte Sergio Celibidache Pate steht, probte inmitten des deutschen Luftkriegs gegen England "Fausts Verdammnis", wie um mit dieser diabolischen Musik gegen den Bombenterror und den Wahnsinn des Krieges anzukämpfen. "Singen Sie", schreit der Maestro seinen Chor an, "bis die Bomben Satans schweigen, ich werde keine Ruhe geben, bis ich das höre, verstanden?" Da fällt ihm inmitten der Chormitglieder eine junge Frau auf. Ihre roten Haare leuchten aus der Menge der Sänger heraus, diese "Frau mit der elektrisierenden Mähne und der samtig-klaren Stimme". Sie gehört Inés Rosenzweig, die sich Jahre später Inez Prada nennen und wie Gabriel Atlan-Ferrara weltberühmt sein wird. Er verbringt mit ihr einen Tag an der Küste in Dorset, spürt Bewunderung und Liebe in sich aufsteigen und verläßt sie dennoch ohne Abschied: der Künstler in ihm entscheidet sich für die Liebe zur Kunst. Aber er nimmt ein Geschenk von Inés mit, jenes gläserne Siegel, das ihn von nun an immer an diese Frau erinnern wird. Neun Jahre später treffen die beiden ein zweites Mal zusammen, diesmal in Mexico-City. Inez Prada singt nun die Marguerite in Berlioz' Oper. Verlangen und Liebe der beiden Berühmtheiten zueinander haben sich nicht verflüchtigt, doch erneut entscheidet sich der Maestro gegen die schöne Sopranisten und sieht sie nach der Aufführung nicht wieder.

    1967 dann begegnen sie sich ein letztes Mal, nun in den unruhigen Zeiten der Studentenrevolte. Nochmals steht im Covent Garden Berlioz' Faust auf dem Programm in einer provozierenden Aufführung, die auch das Verhältnis zwischen dem Dirigenten und der Sopranistin zu symbolisieren scheint: Marguerite, das Faustsche Gretchen, hält ein blutendes Kind in den Armen, während sie vom Chor der seligen Geister in den Himmel aufgenommen wird. Nach dieser Aufführung, die Fuentes wie eine Vision beschreibt, so daß man sich als Leser nicht sicher sein kann, auf welcher Ebene der Realität man sich befindet, verläßt der Maestro Inez für immer, obwohl sie ihn in Gedanken ebenso wie die berliozsche Musik bis an sein Lebensende begleiten wird.

    Für sich genommen gäbe dieser Plot des Romans nicht mehr als den Stoff für eine längere Erzählung her, wenn Fuentes nicht - und das ist sein verstörender Kunstgriff - zwischen die ans Triviale, fast Kitschige grenzenden Begegnungsepisoden der beiden Protagonisten jeweils versetzt drei Kapitel geschoben hätte, die etwas völlig anderes zu erzählen scheinen: die Geschichte der Menschwerdung in prähistorischer Zeit. Hier zieht der Fabulierer Fuentes alle Register seines Könnens, wenn er die Ur-Menschen "a-nel" und "ne-el" in Urwald, Steppe und Eiszeit aufeinandertreffen läßt, ihnen Sprache gibt und bildliche Vorstellung, die Mittel der Verständigung und der Kontemplation, die allmähliche Bewusstwerdung der Individualität, der Gemeinschaft, von Liebe und Schuld, Gesetz und Verbrechen. Von solchen vorzeitlichen Imaginationen wie von mythischen Bildern umrahmt erscheinen die Episoden um den Dirigenten und die Sängerin, als hätte man sie zuvor auf den Fotoseiten einer Klatschillustrierten betrachtet, in einem neuen, einem rätselhaften Licht. Wer in Fuentes' letztem umfangreichen, vor zwei Jahren erschienen Roman "Die Jahre mit Laura Díaz" ein Zuviel an bei diesem Autor ungewohntem, teils nüchternem Realismus verspürte und sich lieber von der Magie südamerikanischer Gesten und vieldeutiger Visionen betören lassen möchte, der findet im gläsernen Siegel eben jene Welt literarischer Hieroglyphen und Zeichen, die man gemeinhin als künstlerische Phantasie bezeichnet und die - wie ihr Schöpfer - um so rätselhafter zu werden scheinen, je länger man sie betrachtet.