Der Friedhof von Taranto ist ein besonders trostloser Ort, heruntergekommen, zugepflastert mit Mausoleen und betonierten Grabanlagen. Auffällig: Selbst am Nachmittag ist auf diesem riesigen Areal keine Menschenseele, kein Besucher, nur ein mürrischer Wärter, der wissen will, was man hier zu suchen hat.
Daniela Spera von der Umweltorganisation "Legamjonici" kennt das schon und sagt: "Wir wollen uns nur ein bisschen umsehen." "Aber keine Fotos", antwortet der Friedhofswärter und lässt die junge Frau durch. Daniela Spera geht es nicht um die Toten. Sagen wir, nicht in erster Linie. Hier, am Zentralfriedhof von Taranto kann sie besonders gut zeigen, warum so viele Menschen in der Nachbarschaft des Stahlwerks krank werden und sterben.
Studien belegen vermehrte Erkrankungen
Ein roter Film liegt auf den Gräbern. Deshalb keine Fotos. Der Staub ist hartnäckig und ätzt sich in das Gestein. Man muss richtig am Marmor kratzen, um die hartnäckige Staubschicht zu entfernen. "Der Friedhof liegt direkt an der Halde, wo die ILVA die Mineralien lagert, die später verwendet werden, um den Stahl herzustellen, das sind die Rohstoffe." Eisenerz, Kalkstein, Koks. Umweltschützer werfen dem Stahlerzeuger ILVA vor, die sogenannten Mineralienparks nicht ausreichend zu schützen. So verteilt sich der Eisenstaub ungehindert in den angrenzenden Vierteln und ergibt zusammen mit den Emissionen, die aus den rot-weiß gestreiften Kaminen des Werks kommen, eine tödliche Mischung.
Mehrere Studien ergeben: In der Umgebung des Stahlwerks ILVA leiden die Menschen überdurchschnittlich häufig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen - vor allem Kinder - , bösartigen Tumoren und Leukämie. Besonders betroffen: die Bewohner des Viertels Tamburi. Hier haben die Häuser die gleiche rötliche Färbung wie am Friedhof. Viele haben ihre Fassaden gleich rot gestrichen, weil sie es leid sind, die Wände jedes Jahr neu zu tünchen. "Sie haben alle Hoffnung verloren. Auch weil es in jeder Familie hier in Tamburi einen Kranken gibt, jede Familie hat einen nahen Verwandten verloren. Sie haben resigniert, auch weil der italienische Staat seine Bürger nicht schützt. Er greift nur ein, um Gesetze zu verabschieden, die die Privatwirtschaft schützen."
Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Der italienische Staat muss sich deshalb nun vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verantworten. Die Anklage: Italien habe das Leben und die Gesundheit der Bürger Tarantos nicht ausreichend geschützt. In Taranto läuft parallel ein Prozess gegen die ehemaligen Besitzer des Stahlwerks und Lokalpolitiker. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung, schwere Umweltverschmutzung. Der Mediziner Michele Conversano vom staatlichen Gesundheitsdienst tritt als Sachverständiger in diesem Prozess auf. "Dass die Industrie überdurchschnittlich viele Todes- und Krankheitsfälle ausgelöst hat in der Bevölkerung, die in der Nähe wohnt, steht außer Frage. Dafür brauchen wir keine weiteren Studien."
Der Mediziner ist zuversichtlich, dass unter verschärften Auflagen auch in Zukunft in Taranto Stahl produziert werden kann. Umweltschützerin Daniela Spera kämpft da auf verlorenem Posten. Sie ist für die Schließung des Werks. Gegen den massiven Widerstand von Politik, Bevölkerung und Gewerkschaften.
"Das wäre der Verlust von 15.000 Arbeitsplätzen, der sich natürlich auf die Region auswirken würde. 15.000 Familien würden von einem Tag auf den anderen ohne Arbeit dastehen", sagt Giuseppe Massafra vom örtlichen Gewerkschaftsbund CGIL. Der Stahlriese ILVA ist der mit Abstand größte private Arbeitgeber in Süditalien. Wird ILVA stillgelegt, stürzt eine Region in die Depression.