"Ja, das stimmt. Natürlich ist es heute etwas ganz anderes als Anfang der 60er Jahre oder Anfang der 70er Jahre. Das liegt an verschiedenen Dingen. Als ich anfing, mich damit zu beschäftigen, also Anfang der 80er Jahre, war es zum Beispiel so, dass einerseits auf der Seite der Wissenschaft diese ganze Geschichte komplett unbekannt war, obwohl sie zur Geschichte der Moderne dazu gehört, und auf der Seite der Politik, also der radikalen Linken, gab es einige Leute, die diese Geschichte kannten; sie haben sie aber völlig abgetrennt von der Geschichte der Kunst oder Geschichte der Moderne nach dem 2.Weltkrieg. Nun sieht es so aus, als ob sich genau dieses jetzt ändert, indem man die Situationisten zu einem Teil der Geschichte der Kunst oder der Moderne hinzu rechnet. Und dann begegnet man natürlich wieder einem neuen Problem, das heisst, man muss sich fragen, ob nicht die Geschichte der Situationisten auf diese Weise auch wieder historisiert, also als etwas Festhegendes, Festes in die Vergangenheit verdrängt wird. Und dann vielleicht falsche Versuche gemacht werden, das zu erneuern oder wieder zu beleben oder sich vorzustellen, also ganz direkt positivistische Versuche wie: Man wiederholt einfach diese wenigen Ansätze von Kunst, die die Situationisten gemacht haben. Oder aber: man erklärt es umgekehrt aufgrund dieser Unmöglichkeit, das zu wiederholen, dann auch für obsolet und zu einer Sache der Vergangenheit, die für Historiker interessant ist, aber im Grunde keine Bedeutung mehr hat."
Gibt es dennoch fruchtbare Perspektiven, die Arbeit der Situationistischen Internationale für die heutige Situation aufzugreifen, lassen sich Ansatzpunkte für subversive Positionen in unserer Zeit daraus gewinnen? Der Herausgeber:
"Das hängt natürhch auch mit der Frage, ob es überhaupt eine linke Kritik gibt und wo diese linke Kritik steht und warum sie da, wo sie nach geblieben ist, so schwach ist - also diese Fragen hängen damit natürlich eng zusammen. Im Hinblickauf die Situationisten muss man sich natürlich fragen, wie weitgehend in ihren Konzepten, etwa dem Begriff des Spektakels, nicht selbst eine Konstruktion vorliegt, die so nicht gedacht werden kann, die ein hermetisches Bild von der Gesellschaft entwirft, ein heroisches Bild von der Position der Kritik, und dann eben die Geschichte oder den Erfolg innerhalb der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft verpasst und sich in diesem Misserfolg oder diesem Scheitern Recht gibt. Das also als eine Bestätigung der eigenen Analyse wertet."
Der Untertitel des Buches, "Die Situationisten zwischen Politik und Kunst", verweist auf ein vermutlich unlösbares Spannungsverhältnis, das der Bewegung innewohnte. Liegt hierin auch ein Grund für das Scheitern der Situationisten, oder ist es gerade ihre Stärke, dass sie nicht auf einen der beiden Pole festzulegen sind? Dazu Ohrt:
"Die Situationisten waren gegen beide Pole, gegen beide Teile dieser Spannung, sie waren gegen die Politik und gegen die Kunst. Und insofern sind sie natürlich zwischen beidem. Ich würde sagen, sie sind deswegen schlechte Politiker gewesen, in dem sie sich zu weit von der Kunst verabschiedet haben; und von Seiten der Kunst werden sie nicht richtig gesehen, weil es im Bereich der Kunst einen zu orthodoxen oder zu schwerfälligenPolitik-Begriff gibt."
Während eine Reihe von Autoren stark auf die Überwindung der Kunst abhebt, die die Situationisten letztlich ausmache, nimmt Ohrt eine andere Position dazu ein, unterstreicht gerade den ästhetischen Charakter der situationistischen Aktivität:
"Ja, gegen das Selbstverständnis der Situationisten natürlich. Natürlich werden die Situationisten zurecht von Leuten vereinnahmt, die an so etwas glauben wie die Überwindung der Kunst. Für solche Vorstellungen über Kunst und Gesellschaft und die Geschichte gibt die Situationistische Internationale natürlich sehr gute Beispiele; aber ich glaube eben nicht, dass das möglich ist, und ich versuche nachzuweisen, dass die anti-künstlerische Haltung und auch insbesondere das Lebenswerk von Guy Debord als ein ästhetisches Produkt lesbar ist, dass es also eine ganz klare Ästhetik hat."
Die Beiträge in dem Buch "Das grosse Spiel" verzichten auf die so häufigen Elogen, auf die Beschwörung der grossen alten Zeit, stattdessen versuchen aus verschiedenen Perspektiven eine kritische Lesart der Situationistischen Internationale herzustellen. So liefert etwa Odile Passot eine feministische Interpretation des jungen Debord, Stephen Hastings-King untersucht aus neomarxistischer Sicht die Beziehungen der Situationistischen Internationale zur stärker politisch motivierten Gruppe "Socialisme ou Barbarie". Bereits 1979 verfasste Gilles Dauvé seine kulturtheoretisch fundamentierte "Kritik der Situationistischen Internationale", die hier erstmalig auf deutsch erscheint und einige zentrale Schwachpunkte der situationistischen Praxis herausstellt. Geht es hier um eine Neubewertung, eine "Re-Lecture" des situationistischen Projekts, also letztlich doch um eine Historisierung? Ohrt:
"Mir geht es darum, die Geschichte der Situationistischen Internationale, ihre Ideen, ihre Praxis nicht zu historisieren, sondern kennenzulernen und ihre Schwächen zu erkennen; es handelt sich um einen Versuch, der immer noch notwendig ist, geht darum, einen Weg zwischen Kunst und Politik zu finden. Dieses Problem ist immer noch offen, ungelöst, und da muss man natürlich nach Beispielen suchen, wo das in der Geschichte versucht wurde oder wie diese Versuche zu Ende geführt wurden und eben eindeutige Lösungen gefunden wurden. Und dafür steht die Situationistische Internationale. Und dann geht es natüruch darum, Texte zu finden, die dafür Ansatzpunkte liefern, wie das im Detail passiert ist oder was dort im Detail passiert ist."
Man spricht häufig vom Scheitern der Situationisten ebenso wie bei Dada oder beim Surrealismus. Ist das ein naturgemäßes Ingredienz von AvantgardeBewegungen? Ihr notwendiges Scheitern? Dazu Ohrt:
"Ich weiß nich. So lange die Gesellschaft so strukturiert ist, wie sie ist, müssen Avantgardebewegungen scheitern; die Frage ist, wie man damit umgeht, ob man das Scheitern mystifiziert oder ob man sich über die Bedingungen des Scheiterns keine Klarheit verschaffen will."