Ein vierzehnjähriger Eigenbrötler, der sich zum Menschenfeind stilisiert, ist nicht gerade ein Sympathieträger, in dessen Gedankenwelt man gerne eintauchen würde. So fühlt man sich vom Protagonisten dieses Romans erst einmal eher abgeschreckt als zur Lektüre verlockt. Da er auch die Funktion des Ich-Erzählers übernimmt, drängt sich irgendwo im Hinterkopf die Frage auf: Was will dieses verwöhnte, verbohrte Papasöhnchen namens Lorenzo denn von mir? Einer, der sich eine Woche lang in einem dunklen Keller versteckt und meint:
Wie gut es mir ging. Wenn man mir Essen und Wasser gebracht hätte, wäre ich für den Rest meines Lebens hier geblieben. Und mir wurde klar, dass es für mich eine Gnade des Himmels gewesen wäre, in Isolationshaft im Gefängnis zu landen.
Lorenzo ist der wohlbehütete Sohn einer römischen Mittelstandsfamilie. Er hat eine überfürsorgliche Mutter, einen viel beschäftigten Vater und eine Großmutter, die im Sterbebett liegt. Außerhalb des Familienkreises hat er sich schon immer fehl am Platz gefühlt. Er sagt, was erstmals selbstgefällig klingt: anders als alle anderen. In der Grundschule mochte er mit seinen Schulkameraden möglichst wenig zu tun haben. Höchstens mühte er sich, seinen besorgten Eltern zuliebe, so zu tun, als wäre er "normal". Ob der Psychologe, der ihm eine narzisstische Störung und einen Mangel an Empathie attestierte, doch etwa Recht hatte? Am ersten Tag im Gymnasium, teilt uns der Ich-Erzähler mit, sei er vor den Hunderten von Schülern und ihrem Halbstarken-Getue erschrocken gewesen. Mit ihnen umzugehen habe er durch einen Dokumentarfilm gelernt, in dem von der Mimikry einer tropischen Fliege die Rede war, die Wespen imitiert.
Sie hat einen gelb-schwarzen gestreiften Hinterleib, Fühler und hervorstehende Augen und sogar einen falschen Stachel. Sie tut nichts, sie ist harmlos. Doch als Wespe verkleidet wird sie von den Vögeln, den Eidechsen, sogar den Menschen gefürchtet.
Daraufhin übernimmt Lorenzo die Strategie der Fliege: Er kleidet und benimmt sich wie die Schüler, die er für die Gefährlichsten hält, wird aber das Gefühl nicht los, anders zu sein. Warum er seinen Eltern erzählt hat, dass er von Schulfreunden in die Skiferien nach Cortina eingeladen wurde, weiß er selber nicht. Der Leser ahnt es zwar: Weil er wohl gerne eingeladen worden wäre. Aber Lorenzo will es weder sich selbst noch seinen Eltern eingestehen; also beschließt er, die Woche Skiferien im Keller zu verbringen. Allmählich wird klar, dass der vierzehnjährige Eigenbrötler weder ein Misanthrop noch ein Narzisst ist. Er hat bloß Angst, eine verdammte Angst – was uns letztlich für ihn einnimmt.
Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, dass Ammaniti die psychischen Verkrustungen und Schutzschichten seiner Hauptfigur erst nach und nach abschält. Mit "Du und Ich" legt er einen Entwicklungsroman vor, in dem äußerlich wenig geschieht, dafür ein Erdbeben im Inneren des jungen Helden. Der zweite Vorzug besteht in einer ebenso graduellen Erhöhung der emotionalen Erzähltemperatur: Ist der Punkt erreicht, an dem die kritische Vernunft ein Zuviel an Sentimentalität beklagen würde, ist der Leser bereits in Herzenswärme eingebettet. Das reicht nicht zum Meisterwerk. Zu einer erquicklichen Lektüre und einem psychologisch durchdringenden Teenager-Porträt aber schon.
Was Lorenzos seelisches Gerüst aus dem Lot und die Handlung in Gang bringt, ist das Erscheinen Olivias, Lorenzos Halbschwester. Eine leidlich undurchsichtige Figur, über deren Vergangenheit wir nur das Wenige erfahren, was Lorenzo weiß. Dass sie wunderschön ist, 23 Jahre alt, aus der Schule rausgeflogen, von zuhause ausgerissen, mit einem Typen durchgebrannt, und dass sie ihrem gemeinsamen Vater Sorgen bereitet. Zwei Jahren zuvor haben sich die Geschwister flüchtig gesehen, ohne miteinander zu reden. An die gemeinsamen Urlaube ihrer Kindheit hat Lorenzo keine Erinnerung. Nun schneit Olivia unerwartet im Keller herein, in dem er sich eingerichtet hat, und bittet, nein: sie fordert ihn, ihr Asyl zu gewähren. Anfangs wehrt sich der Bruder vehement dagegen, muss dann aber klein beigeben, weil Olivia droht, ihn zu verpetzen.
Was Lorenzo nicht weiß: Olivia ist heroinabhängig und gerade auf Entzug. Bis die Entzugserscheinungen sich bemerkbar machen und immer heftiger werden. Und da geschieht das Wunder. Der Eigenbrötler, der zunächst versucht, Abstand zu halten, seine Schwester zu ignorieren, sich sogar mit ihr prügelt, fängt ersichtlich an, sich um sie Sorgen zu machen. Als sie dann röchelnd auf dem Boden zusammensackt, bricht in Lorenzo ein Sturm los.
Jemand muss ihr helfen.
Jemand muss herkommen. Sonst stirbt sie.
"Ich bitte euch... ich bitte euch...helft mir", flehte ich die Wände an.
Und dann sah ich sie daliegen.
Zwischen dem Geld auf dem Boden, allein und verzweifelt.
In mir brach irgendetwas auf. Der Riese, der mich an seine steinerne Brust gedrückt hielt, ließ mich frei.
Der Riese ist die Metapher, mit der Lorenzo bislang seine Angst verkleidet hat. Vor dem Anblick der Hilflosigkeit eines anderen, fällt sie plötzlich von ihm ab. Er nimmt seine Schwester in die Arme, hebt sie vom Boden hoch, drückt sie an sich und weint. Er tut dann alles, um sie zu heilen. Und als sie so weit genesen ist, dass sie mit ihm im Keller tanzen kann, ist er selbst geheilt. Ein Ich, das endlich ein Du erkennt.
Es wäre ein schönes, rührendes, erbauliches Ende. Aber der Autor hat der Haupthandlung ein Vor- und ein Nachspiel hinzugefügt, in denen Lorenzo zehn Jahre älter ist. Im ersten sehen wir ihn in Cividale del Friuli ankommen, im zweiten besucht er das Leichenschauhaus der Stadt. Da liegt die Leiche seiner Schwester. Olivia Cuni sei am 9. Januar 2010 an einer Überdosis gestorben, teilt uns eine lapidare Kurzmeldung auf der letzten Seite mit. Ein Schluss wie eine kalte Dusche, der den Leser in die Realität entlässt. Der Tod ist immer wahrscheinlicher als jedes Happy End.
Niccolò Ammaniti: "Du und Ich", Piper Verlag
Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann; (Originaltitel: "Io e te")
160 Seiten, Gebunden, € 14,99
Wie gut es mir ging. Wenn man mir Essen und Wasser gebracht hätte, wäre ich für den Rest meines Lebens hier geblieben. Und mir wurde klar, dass es für mich eine Gnade des Himmels gewesen wäre, in Isolationshaft im Gefängnis zu landen.
Lorenzo ist der wohlbehütete Sohn einer römischen Mittelstandsfamilie. Er hat eine überfürsorgliche Mutter, einen viel beschäftigten Vater und eine Großmutter, die im Sterbebett liegt. Außerhalb des Familienkreises hat er sich schon immer fehl am Platz gefühlt. Er sagt, was erstmals selbstgefällig klingt: anders als alle anderen. In der Grundschule mochte er mit seinen Schulkameraden möglichst wenig zu tun haben. Höchstens mühte er sich, seinen besorgten Eltern zuliebe, so zu tun, als wäre er "normal". Ob der Psychologe, der ihm eine narzisstische Störung und einen Mangel an Empathie attestierte, doch etwa Recht hatte? Am ersten Tag im Gymnasium, teilt uns der Ich-Erzähler mit, sei er vor den Hunderten von Schülern und ihrem Halbstarken-Getue erschrocken gewesen. Mit ihnen umzugehen habe er durch einen Dokumentarfilm gelernt, in dem von der Mimikry einer tropischen Fliege die Rede war, die Wespen imitiert.
Sie hat einen gelb-schwarzen gestreiften Hinterleib, Fühler und hervorstehende Augen und sogar einen falschen Stachel. Sie tut nichts, sie ist harmlos. Doch als Wespe verkleidet wird sie von den Vögeln, den Eidechsen, sogar den Menschen gefürchtet.
Daraufhin übernimmt Lorenzo die Strategie der Fliege: Er kleidet und benimmt sich wie die Schüler, die er für die Gefährlichsten hält, wird aber das Gefühl nicht los, anders zu sein. Warum er seinen Eltern erzählt hat, dass er von Schulfreunden in die Skiferien nach Cortina eingeladen wurde, weiß er selber nicht. Der Leser ahnt es zwar: Weil er wohl gerne eingeladen worden wäre. Aber Lorenzo will es weder sich selbst noch seinen Eltern eingestehen; also beschließt er, die Woche Skiferien im Keller zu verbringen. Allmählich wird klar, dass der vierzehnjährige Eigenbrötler weder ein Misanthrop noch ein Narzisst ist. Er hat bloß Angst, eine verdammte Angst – was uns letztlich für ihn einnimmt.
Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, dass Ammaniti die psychischen Verkrustungen und Schutzschichten seiner Hauptfigur erst nach und nach abschält. Mit "Du und Ich" legt er einen Entwicklungsroman vor, in dem äußerlich wenig geschieht, dafür ein Erdbeben im Inneren des jungen Helden. Der zweite Vorzug besteht in einer ebenso graduellen Erhöhung der emotionalen Erzähltemperatur: Ist der Punkt erreicht, an dem die kritische Vernunft ein Zuviel an Sentimentalität beklagen würde, ist der Leser bereits in Herzenswärme eingebettet. Das reicht nicht zum Meisterwerk. Zu einer erquicklichen Lektüre und einem psychologisch durchdringenden Teenager-Porträt aber schon.
Was Lorenzos seelisches Gerüst aus dem Lot und die Handlung in Gang bringt, ist das Erscheinen Olivias, Lorenzos Halbschwester. Eine leidlich undurchsichtige Figur, über deren Vergangenheit wir nur das Wenige erfahren, was Lorenzo weiß. Dass sie wunderschön ist, 23 Jahre alt, aus der Schule rausgeflogen, von zuhause ausgerissen, mit einem Typen durchgebrannt, und dass sie ihrem gemeinsamen Vater Sorgen bereitet. Zwei Jahren zuvor haben sich die Geschwister flüchtig gesehen, ohne miteinander zu reden. An die gemeinsamen Urlaube ihrer Kindheit hat Lorenzo keine Erinnerung. Nun schneit Olivia unerwartet im Keller herein, in dem er sich eingerichtet hat, und bittet, nein: sie fordert ihn, ihr Asyl zu gewähren. Anfangs wehrt sich der Bruder vehement dagegen, muss dann aber klein beigeben, weil Olivia droht, ihn zu verpetzen.
Was Lorenzo nicht weiß: Olivia ist heroinabhängig und gerade auf Entzug. Bis die Entzugserscheinungen sich bemerkbar machen und immer heftiger werden. Und da geschieht das Wunder. Der Eigenbrötler, der zunächst versucht, Abstand zu halten, seine Schwester zu ignorieren, sich sogar mit ihr prügelt, fängt ersichtlich an, sich um sie Sorgen zu machen. Als sie dann röchelnd auf dem Boden zusammensackt, bricht in Lorenzo ein Sturm los.
Jemand muss ihr helfen.
Jemand muss herkommen. Sonst stirbt sie.
"Ich bitte euch... ich bitte euch...helft mir", flehte ich die Wände an.
Und dann sah ich sie daliegen.
Zwischen dem Geld auf dem Boden, allein und verzweifelt.
In mir brach irgendetwas auf. Der Riese, der mich an seine steinerne Brust gedrückt hielt, ließ mich frei.
Der Riese ist die Metapher, mit der Lorenzo bislang seine Angst verkleidet hat. Vor dem Anblick der Hilflosigkeit eines anderen, fällt sie plötzlich von ihm ab. Er nimmt seine Schwester in die Arme, hebt sie vom Boden hoch, drückt sie an sich und weint. Er tut dann alles, um sie zu heilen. Und als sie so weit genesen ist, dass sie mit ihm im Keller tanzen kann, ist er selbst geheilt. Ein Ich, das endlich ein Du erkennt.
Es wäre ein schönes, rührendes, erbauliches Ende. Aber der Autor hat der Haupthandlung ein Vor- und ein Nachspiel hinzugefügt, in denen Lorenzo zehn Jahre älter ist. Im ersten sehen wir ihn in Cividale del Friuli ankommen, im zweiten besucht er das Leichenschauhaus der Stadt. Da liegt die Leiche seiner Schwester. Olivia Cuni sei am 9. Januar 2010 an einer Überdosis gestorben, teilt uns eine lapidare Kurzmeldung auf der letzten Seite mit. Ein Schluss wie eine kalte Dusche, der den Leser in die Realität entlässt. Der Tod ist immer wahrscheinlicher als jedes Happy End.
Niccolò Ammaniti: "Du und Ich", Piper Verlag
Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann; (Originaltitel: "Io e te")
160 Seiten, Gebunden, € 14,99