Archiv


"Das ist eine genauso schwere Aufgabe wie die Abschaffung der Folter"

"Man kann Sexualität nicht unterdrücken, man kann sie nur gestalten." Offene Worte vor der heute beginnenden Frühjahrsversammlung der Bischofskonferenz. Christian Weisner rüttelt am Gesprächstabu der Katholischen Kirche - und der Verjährungsfrist für Missbrauch.

    Bettina Klein: Unter dem Eindruck der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle an katholischen Einrichtungen kommen die deutschen Bischöfe heute in Freiburg zu ihrer diesjährigen Frühjahrsvollversammlung zusammen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat das Thema kurzfristig auf die Tagesordnung des Treffens gesetzt.
    Am Telefon begrüße ich nun Christian Weisner. Er ist Sprecher der katholischen Bewegung "Wir sind Kirche". Guten Morgen, Herr Weisner!

    Christian Weisner: Guten Morgen, Frau Klein.

    Klein: Geben Sie uns vielleicht zwei Beispiele. Was muss die Bischofskonferenz in den nächsten Tagen mindestens verkünden, damit Sie von einer angemessenen Reaktion, einem angemessenen Zeichen sprechen würden?

    Weisner: Ich glaube, was die Menschen jetzt alle sehr vermisst haben, das ist wirklich erst mal ein Wort des Bedauerns, der Entschuldigung gegenüber den Opfern, gegenüber den Opfern, die ja teilweise vor 20, 30, 40 Jahren Opfer gewesen sind und die das ganze Leben damit belastet führen. Und das Zweite ist: Es muss wirklich nach vorne geschaut werden. Es muss wirklich sich in der Prävention unendlich viel ändern und es muss natürlich den Opfern geglaubt werden. Ich denke, das sind so die ganz allerwichtigsten Dinge, die mir jetzt allzu sehr auf der Seele brennen.

    Klein: Kann die Deutsche Bischofskonferenz von jenen Konsequenzen lernen, die die Bischöfe in den USA vor einigen Jahren gezogen haben, und dort hieß es, personeller Neuanfang, eine Null-Toleranz-Strategie? Einmaliger unsittlicher Kontakt mit einem Minderjährigen bedeutet lebenslängliche Suspendierung für den Priester und Wiedergutmachungen in Millionenhöhe. Wäre das ein Vorbild?

    Weisner: Mit den Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe, ich denke, da sind die Vereinigten Staaten anders gespult als wir hier in Deutschland. Das kennen wir noch nicht. Ich denke, es geht vor allen Dingen aber wirklich um diese null Toleranz, das ist ganz richtig, denn es reicht eben nicht aus – und das ist ja der ganz große Vorwurf gegenüber den Bischöfen auch -, einen Priester nur von einer Aufgabe zur anderen Aufgabe zu versetzen und dann vor allen Dingen die neue Gemeinde vielleicht noch nicht mal darüber zu informieren. Unserer Ansicht nach reicht es aber auch nicht aus, so einen Priester nur aus der Kinder- und Jugendseelsorge zu nehmen, denn man stelle sich nur vor, der betreut nachher Menschen im Altersheim und die möchten bei ihrer Lebensbeichte noch einmal auf so ein Thema zu sprechen kommen. Da ist doch dieser Priester der denkbar ungünstigste Ansprechpartner.

    Klein: Welche strukturellen Veränderungen wären dafür notwendig?

    Weisner: Die strukturellen Veränderungen sind wirklich, die Priesterausbildung, wie das Erzbischof Thissen gesagt hat, ganz neu auszurichten, und es ist nicht so natürlich, dass es einen direkten Zusammenhang gibt, wer zölibatär lebt, verführt Kinder und Jugendliche. So ist es nicht, denn sexuellen Missbrauch, sexuelle Gewalt gibt es leider auch woanders, leider auch in der Familie. Aber die Katholische Kirche hat erst mal einen ganz besonders hohen moralischen Anspruch und die Einstellung zur Sexualität, denke ich, die muss sich in der Katholischen Kirche ändern. Wir sind in der Katholischen Kirche viel zu sehr mit Tabus behaftet und das verhindert, dass Menschen, dass junge Menschen sich gewissermaßen ihrer eigenen Sexualität bewusst werden können. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt in der Priesterausbildung und das ist dann langfristig hoffentlich, aber da brauchen wir auch die Rückendeckung vom Vatikan, dass die Katholische Kirche die Sexualität nicht nur negativ belastet, sondern auch als positive Kraft erlebt, denn erst dann kann man sie auch wirklich gestalten. Man kann Sexualität nicht unterdrücken, man kann sie nur gestalten.

    Klein: Nun ist in der Diskussion vonseiten kirchlicher Würdenträger ja dieser Zusammenhang immer wieder bestritten worden, also ein Zusammenhang mit dem Zölibat und mit der Haltung der Katholischen Kirche zur Sexualität. Denken Sie, dass Sie mit diesen Überlegungen da weiterkommen?

    Weisner: Die Bischöfe müssen etwas tun, denn ich sage mal, egal was nachher die Ursachen sein mögen, da gibt es sicher Leute, die das Thema sehr genau angeschaut haben. Ich denke hier nur in Deutschland an Dr. Wunibald Müller, der dann die Priester, die Täter geworden sind, betreut. Jeder Einzelfall ist schlimm, aber was wirklich schlimm ist – und das merken wir in den Vereinigten Staaten, in Irland, wo ich gerade am letzten Wochenende gewesen bin, jetzt wieder in der Schweiz, in Österreich -, überall in der ganzen Welt tritt das Thema auf und die Katholische Kirche, die ja eigentlich, ich sage mal, eine sehr zentralistische Organisation ist, die müsste von oben etwas dagegen tun, und da kommt viel zu wenig. Da ist das Bewusstsein noch gar nicht so angekommen, obwohl einzelne Diözesen aufgrund der erwähnten Entschädigungszahlungen in den Vereinigten Staaten ja bankrottgegangen sind.

    Klein: Immer wieder wird diese Problematik ja angesprochen, die Priesterämter in der Katholischen Kirche würden gerade für jene besonders anziehend wirken, die in ihrer sexuellen Entwicklung nicht ausgereift seien und die erhoffen, durch das Zölibat eine Auseinandersetzung damit zu umgehen. Ist es überhaupt möglich, das, was Therapeuten, Psychologen, Seelsorger immer wieder aus ihrer Praxis ansprechen, zu belegen?

    Weisner: Ich denke, das ist genau so und da brauchen wir diesen neuen Umgang dazu. Es ist wohl so: Wenn jemand so fixiert ist, in dieser sexuellen Entwicklung stecken geblieben ist, dann ist er gewissermaßen nicht zu heilen. Ich denke mal, dass man sich das vielleicht so vorstellen kann doch wie Alkoholkrankheit. Das heißt, dann muss jemand ganz abstinent leben, dann kann er nicht mehr einen geordneten Zugang zum Alkohol finden. Ich denke aber, wir sollten jetzt wirklich nach vorne schauen. Ich denke, der große Vorteil hier in Deutschland bei uns ist, dass es jetzt in diesem Fall Canisius-Kolleg nicht einen Bischof getroffen hat oder einen anderen, sondern es hat einen Orden getroffen, einen Orden, der eigentlich von der Geschichte her ein Reformorden ist. Da habe ich schon die Hoffnung, dass dieser Jesuitenorden, der ja auch weltweit vernetzt ist, dieses Thema noch einmal ganz neu anpackt. Aber das müssen wir machen! Die Kirchenvolksbewegung ist ja vor 15 Jahren auch anhand ähnlicher Fälle in Wien entstanden und es ist natürlich enttäuschend, wenn wir immer wieder Mahnwachen machen, immer wieder Appelle machen und die Bischöfe nichts tun. Da sollten jetzt die deutschen Bischöfe – das kann ich denen nur ganz dringend, wenn die sich heute in Freiburg treffen, raten – an den Jesuiten ein Beispiel nehmen.

    Klein: Auch die Bundesregierung hat sich jetzt eingeschaltet und fordert konkrete Festlegungen für eine lückenlose Aufklärung. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger etwa schlägt Ombudsleute vor und einen Runden Tisch aus Staats-, Kirchen- und Opfervertretern. Ist das der richtige Weg?

    Weisner: Ich denke, das ist ein guter Weg, denn dieser Weg hat ja zum Beispiel auch in der Frage der Heimkinder bei katholischen, aber auch evangelischen Heimen gefruchtet. Da ist dann doch ganz schnell auch eine Hotline geschaltet worden. Denn es kann nicht sein, wie es im Augenblick noch ist, dass in einzelnen Bistümern ein hoher Geistlicher am Telefon sitzt, wenn man so etwas melden will. Das andere, was auch ganz, ganz wichtig ist: Es gibt noch so viele Altfälle. Das heißt, dieser sexuelle Missbrauch, die sexuelle Gewalt, es ist kein Kavaliersdelikt, auch wenn es manchmal strafrechtlich eben nicht so schwer gewertet wird, aber für die Menschen ist es eine ganz, ganz große Belastung. Da kommen wir noch mal zu dem Thema Verjährung. Die Regierung sollte auch nachdenken, dass sie für diese Sachen die Verjährung aufhebt, denn oft wird den Menschen erst im späteren Leben klar, was für einen Schaden an ihrer Seele, an ihrer Persönlichkeit durch sexuelle Gewalt, durch Missbrauch und manchmal auch einfach durch den falschen Blick, durch das falsche Anfassen entstanden ist.

    Klein: Ist lückenlose Aufklärung überhaupt machbar? Bisher erleben wir, dass wöchentlich neue Vermutungen oder auch Tatsachen an die Öffentlichkeit kommen, und zwar, wie es scheint, eher zufällig.

    Weisner: Das ist im Augenblick, denke ich, aber erst mal eine Chance, denn es ist eine Chance vor allen Dingen für die Menschen, Männer und Frauen, die Opfer gewesen sind in früherer Zeit, die das selber schon verdrängt haben. Es ist für die eine Chance, das jetzt auszusprechen und damit eine große Last von ihrer Seele zu bekommen. Aber es ist nur dann eine Chance für die Kirche als Institution, wenn sie wirklich jetzt ganz intensiv an diese Sache herangeht, und es ist keine leichte Aufgabe. Ich glaube, das ist eine genauso schwere Aufgabe wie die Abschaffung der Folter und die Abschaffung der Hexenverbrennung, aber damals war es auch ein Jesuit, Friedrich Spee von Langenfeld, der dieses in mühsamer Arbeit, in Öffentlichkeitsarbeit damals geschafft hat. Ich denke, vor dieser großen Wende steht die Katholische Kirche.

    Klein: Die Einschätzung von Christian Weisner, Sprecher der katholischen Bewegung "Wir sind Kirche". Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Weisner.

    Weisner: Auf Wiederhören.