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"Das ist keine Staatsführung mehr"

Das iranische Regime stecke in einer Situation der Ausweglosigkeit, sagt Bahman Nirumand. Der Schriftsteller und Publizist ist in Teheran geboren worden und lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Aber auch die Opposition drohe zu zersplittern.

Bahman Nirumand im Gespräch mit Silvia Engels |
    Silvia Engels: Gestern feierten gläubige Schiiten das Aschura-Fest. Das ist für Vertreter der schiitischen Glaubensrichtung des Islam eines der wichtigsten religiösen Feste. Die Opposition im Iran nutzte die Feierlichkeiten zu weiteren Protesten gegen die Regierung von Präsident Ahmadinedschad. Auswärtigen Journalisten war es nicht erlaubt zu berichten und deswegen gehen die Meldungen über das Geschehen auseinander. Sicher scheint aber zu sein, dass es Tote unter den Demonstranten gab. Mitgehört hat in Berlin Bahman Nirumand. Er ist in Teheran geboren, er hat wechselweise in Deutschland und im Iran gelebt. Zunächst protestierte er gegen die Willkür des Schah-Regimes und musste fliehen. Nach der islamischen Revolution 1979 kehrte er zurück, aber es dauerte nur wenige Jahre, bis er als Kritiker erneut aus dem Iran ausreisen musste. Mittlerweile lebt er in Deutschland. Guten Morgen, Herr Nirumand.

    Bahman Nirumand: Guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Auch Sie haben nach wie vor Kontakte in den Iran. Was haben Sie über die Proteste in der Nacht gehört?

    Nirumand: Es ist eindeutig klar, dass die gestrigen Proteste einen qualitativen Sprung bedeuten. Die Radikalität, mit der die Protestierenden aufgetreten sind, die ist unvergleichlich stärker als bei den früheren Demonstrationen und insofern ist das eine Entwicklung, die dramatisch in einem rasenden Tempo sozusagen voranschreitet. Es ist schwierig zu sagen, wie das jetzt ausgehen wird, wie es weitergehen wird. Jedenfalls steckt, glaube ich, das Regime in einem Dilemma. Auf der einen Seite sind sie nicht mehr in der Lage, nach meiner Auffassung, Garaus zu machen und einfach ein Massaker anzurichten, obwohl es doch erheblich viele Tote gegeben haben soll, aber so einen richtigen Einsatz der Militärs wagen sie nicht, weil es möglicherweise innerhalb des Militärs dann zu einer Spaltung kommen würde. Nachgeben können sie auch nicht, denn dafür ist es längst zu spät. Das ist eine Situation der Ausweglosigkeit, in der das iranische Regime steckt.

    Engels: Dann schauen wir auf den Stand des Machtkampfes innerhalb der iranischen Führung. Das war ja auch schon vor einigen Monaten zu beobachten, dass innerhalb des Establishments durchaus verschiedene Ansichten offenbar über den Kurs bestanden. Was hören Sie? Ist dort nach wie vor ein Machtkampf hinter den Kulissen zu beobachten?

    Nirumand: Ja. Dieser Machtkampf hat ja schon vor den Wahlen im Juni begonnen und hat sich jetzt fortgesetzt, und zwar so weit, dass dieses Establishment, diese Führung eigentlich zerbrochen ist. Es gibt keine eindeutige Führung mehr. Wenn man bedenkt, dass Staatspräsidenten, Parlamentspräsidenten, Parlamentsabgeordnete, Personen, die an Schlüsselpositionen saßen, heute sich in der Opposition befinden, wenn man sich vorstellt, dass ein Staatspräsident wie Khatami nicht einmal seine Rede zu Ende führen kann, weil er gestört wird, weil die Hisbollah angreift – er musste am Sonntag seine Rede beenden und den Raum verlassen -, das ist keine Staatsführung mehr. Die Radikalität, mit der Ahmadinedschad jetzt auch gestern wieder aufgetreten ist, das ist wie ein Schrei im Wald.

    Engels: Herr Nirumand, dann schauen wir allerdings auch auf die andere Seite, denn wir haben möglicherweise ja auch auf Oppositionsseite diese Radikalisierung, die Sie schon angesprochen haben. Im Vergleich zu den Protesten im Juni gehen jetzt wohl nicht mehr Hunderttausende auf die Straße, aber die, die auf die Straße gehen, die sind auch möglicherweise bereit, sich sowohl Gewalt auszusetzen, aber auch Gewalt auszuüben. Droht die Zersplitterung der Opposition?

    Nirumand: Ja, das ist auch eine große Gefahr, denn wie Sie wissen: Mussawi, der ehemalige Ministerpräsident und unterlegene Kandidat bei den Wahlen, Mirhossein Mussawi, und auch der andere Kandidat, der unterlegen ist, Karubi, die hatten die Führung und die haben immer wieder betont, dass sie im Rahmen der Gesetze, im Rahmen der Verfassung operieren, dass sie eigentlich nur für Reformen eintreten und freie Wahlen wollen, und sie haben Forderungen gestellt, die in den Rahmen der Verfassung passen. Aber bei der gestrigen Demonstration haben wir eindeutig gesehen, dass die Richtung über das System hinausgeht, dass die Proteste sich direkt gegen den Revolutionsführer Chamenei richten und dass man ein anderes System haben will.

    Engels: Was erwarten Sie in den nächsten Tagen?

    Nirumand: Man wird wahrscheinlich versuchen, innerhalb der Opposition einen Konsens zu finden. Ob das gelingt, weiß man nicht. Auf der anderen Seite wird sich die Staatsführung, so weit es sie noch gibt, überlegen müssen, wie sie mit dieser neuen Situation fertig wird. Es ist eine sehr schwierige Situation im Iran entstanden, sowohl jetzt innerhalb der Opposition als auch innerhalb der Staatsführung, und deswegen muss man sehen, wie das weitergeht. Niemand kann das, glaube ich, so genau voraussagen. Zudem kommen noch die internationalen Fragen, die außenpolitischen Fragen, die ebenfalls in eine Sackgasse geraten sind. Deswegen ist es jetzt sehr schwierig, über den Iran ein eindeutiges Urteil fällen zu können.

    Engels: Wir sprachen mit Bahman Nirumand. Er ist Publizist und Kritiker des Regimes in Teheran, selber dort geboren. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen.

    Nirumand: Gerne.