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Das italienische Kino feiert sich selbst

15 Jahre lang hatte kein italienischer Film mehr den Goldenen Löwen von Venedig gewonnen. Der Regisseur Gianfranco Rosi konnte dieser Durststrecke nun ein Ende bereiten. Für seine Dokumentation "Sacro GRA" sammelte er Geschichten derer, die an der römischen Ringautobahn Grande Raccordo Anulare leben.

Von Josef Schnelle |
    Vor der Verkündigung des Titels des Preisträgerfilms machte Jurypräsident Bernardo Bertolucci eine winzige Kunstpause und zwinkerte kurz, als wolle er sagen: Hab ich das nicht gut gemacht. Lange hatte kein italienischer Film mehr den Goldenen Löwen von Venedig gewonnen. Großer Jubel unter den einheimischen Kinoliebhabern für die scheinbare Rückkehr des italienischen Films in die Weltliga. "Sacro GRA" von Gianfranco Rosi ist ein Dokumentarfilm über die römische Ringautobahn Grande Raccordo Anulare, abgekürzt eben GRA. Mit einem Kleinbus bereiste der Regisseur diese Straße und sammelte Geschichten bedeutender und weniger bedeutender Menschen, die am Rand der italienischen Hauptstadt leben. Natürlich bekam dabei eher kurioses Personal den Vorzug: eine transsexuelle Prostituierte, ein Privatgelehrter, der mit einem Hörgerät die Palmen nach Schädlingen absucht und dabei über den Zustand Italiens sinniert. In der Badewanne Zigarren rauchend und auf dem Dach seines kleinen Schlösschens Gymnastik betreibend zeigt der Film einen italienischen Granden alten Stils, der inmitten eines hässlichen Neubauviertels lebt. Ein ordentlicher Film mit viel Lokalkolorit, der es jedoch nicht schafft, ein zusammenhängendes Gesellschaftsporträt zu erzeugen. Unter den drei italienischen Filmen war "Sacro GRA" gewiss der preiswürdigste. Mit der Entscheidung für diesen Film würdigte die Jury auch die starke Präsenz von Dokumentarfilmen in diesem Jahr mit insgesamt vier im Hauptprogramm, darunter ein viel diskutierter Film über die Femen-Bewegung in der Ukraine und ein anderer über die große Lüge des wegen Dopings gefallenen Radstars Lance Armstrong im Augenblick seines Scheiterns. Direkt um den Goldenen Löwen konkurrierte allerdings nur noch der Amerikaner Errol Morris mit "The Unknown Known", ein politisch brisantes Zwiegespräch mit Donald Rumsfeld. Abseits aller Ämter zeigt sich der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister und Architekt des unseligen Irak-Krieges aufgeräumt. Immer ist - meint Morris- von Obsession die Rede. Er sei zwar ein obsessiver Mensch, aber eigentlich doch sehr kontrolliert und von all seinen Memos, durch die der Film blättert, beziehe sich nur ein verschwindend geringer Teil auf den Irak.

    "The Unknown Known" berührt ein Grundproblem des Dokumentarfilms. Donald Rumsfeld weiß sehr genau, dass er sich vor der Kamera von Errol Morris selbst inszenieren kann. Und so ist er manchmal selbstironisch, einmal scheint er sogar echt berührt zu sein. Morris spielt mit, macht die Selbstinszenierung sogar zum Thema und so entsteht ein spannendes Porträt eines konservativen Superhirns, das sehr ernsthaft für den Goldenen Löwen in Frage gekommen wäre. Die Deutschen konnten diesmal mit ihrer Präsenz auf dem Lido sehr zufrieden sein. Edgar Reitz zeigte in einer Spezialvorführung außer Konkurrenz seine vierstündige Weiterführung der Heimat-Serie "Die andere Heimat. Geschichte einer Sehnsucht". Rick Ostermann präsentierte in der Reihe Orizzonti "Wolfskinder". Sogar in der Autorenreihe "Giornate degli Autori" war mit Jackie Baiers "Julia" ein ungewöhnlicher deutscher Dokumentarfilm vertreten. Das I-Tüpfelchen war aber natürlich Philip Grönings Wettbewerbsbeitrags. Und der konnte sich sogar freuen über den Spezialpreis der Jury für "Die Frau des Polizisten".

    Der Spezialpreis der Jury ist zwar so etwas wie ein Trostpreis und wird meist für eher technische Leistungen vergeben. Aber immerhin wurde der Film damit doch noch für die ungewöhnliche Form seiner Geschichte über die zerstörerischen Folgen familiärer Gewalt belohnt. Er bekam die Auszeichnung von Bernardo Bertolucci, der die kurze Preisverleihungszeremonie vergnügt vom Rollstuhl aus dirigierte. Geschichten von zerfallenden, krankmachenden und gewaltbeherrschten Familien waren in vielen Filmen Thema. Besonders düster erzählte so etwas der griechische Regisseur Alexandros Avranas, der als bester Regisseur mit dem Silbernen Löwen und einem Preis für seinen Hauptdarsteller Themis Panou geehrt wurde.

    Das freudige Geburtstagslied täuscht. Am selben Tag noch springt die elfjährige Angeliki vom Balkon und es kommt heraus, dass der Patriarchenvater seine Töchter an seine Freunde vermietet hat. Von der stillen Verschwörung des Schweigens erzählt dieser kaum erträgliche Film ebenso wie von der moralischen Krise Griechenlands.