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"Das Kapital im 21. Jahrhundert"
Piketty, der Popstar der Wirtschaftswissenschaften

Von Thomas Fromm |
    Es gibt Titelseiten, die sagen mehr als viele wortreiche Rezensionen. Neulich auf der Businessweek zum Beispiel, da war Thomas Piketty zu sehen, und man konnte meinen, er sei ein Teeny-Idol, das Foto knallig aufgemacht, viel pink, Sternchen, ein comicartiger Kussmund auf der Wange, darunter in dicken Lettern: "Pikettymania". Bis zu diesem Zeitpunkt war der 43-Jährige für viele der "Karl Marx des 21. Jahrhunderts". Jetzt war er auch noch der Justin Bieber der Wirtschaftswissenschaften. Der Ökonom als Popstar, das hat man auch nicht jeden Tag. In seinem Buch mit dem Titel "Das Kapital im 21. Jahrhundert" geht es um die wachsenden Gräben zwischen Arm und Reich, darum, zu erklären, warum unsere Gesellschaft immer mehr Ungleichheit hervorbringt. Insofern: Ja, Piketty ist ein Stück weit Popkultur. Die Frage ist nur: Ist er eher Karl Marx? Oder doch eher Justin Bieber? Er selbst lässt diese Frage gerne offen, schreibt nur, was er NICHT sein will: ein Revolutionär.
    "Damit eines klar ist: Es ist nicht meine Absicht, im Namen der Arbeitnehmer gegen die Besitzenden zu Felde zu ziehen, sondern ich möchte jedermann helfen, genauer nachzudenken und sich ein eigenes Bild zu machen. Keine Frage: Die Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit hat eine große symbolische Bedeutung. Sie verstößt eklatant gegen die gängigen Vorstellungen von 'gerecht' und 'ungerecht', so dass es nicht verwunderlich ist, dass es manchmal zu physischer Gewalt kommt. (...) Gleichzeitig ist jedem klar: Wenn man die gesamte Produktion unter den Arbeitnehmern verteilte und keine Gewinne erzielt würden, wäre es schwer, Kapital zur Finanzierung neuer Investitionen anzuziehen."
    Das Manifest des Thomas Piketty ist eine Formel, und sie besteht aus zwei Buchstaben: r und g. Die rapide wachsenden Vermögen und ihre Renditen, das ist das r. Die Wirtschaft und ihre Arbeitseinkommen, das ist das g. G wie growth also: Wachstum. Die Formel aus r und g funktioniert nun so: r ist größer als g, denn die Löhne und Gehälter der Menschen steigen, wenn überhaupt, nur in begrenztem Maße, gerade so, wie es die allgemeine wirtschaftliche Situation erlaubt. Auf der anderen Seite wachsen die vererbten Vermögen, und zwar: quasi automatisch. Je größer der Besitz, desto leichter vermehrt er sich. Folge: Wer reich ist, bleibt reich - oder wird sogar noch reicher, und das gesellschaftliche Mittelfeld rutscht ab, weil die Menschen mit ihren Arbeitseinkommen hier nicht mithalten können. Wenn die Zahl der Vermögensmillionäre weltweit zunimmt, und zwar stark, dann hat das etwas zu bedeuten. Es geht Piketty also um eine zentrale Frage der Gerechtigkeit - und er konnte sich sicher sein, dass sie viele Menschen interessiert. So also wird aus einem ökonomischen 800-Seiten-Schinken ein Kassenschlager - kaum ein Wirtschaftsbuch hatte zuletzt Debatten provoziert wie dieses hier.
    "Die Ungleichung r > g sorgt dafür, dass Vermögen, die aus der Vergangenheit stammen, sich schneller rekapitalisieren, als Produktion und Löhne wachsen. In dieser Ungleichheit spricht sich ein fundamentaler Widerspruch aus. Je stärker sie ausfällt, umso mehr droht der Unternehmer sich in einen Rentier zu verwandeln und Macht über diejenigen zu gewinnen, die nichts als ihre Arbeit besitzen. Wenn es einmal da ist, reproduziert Kapital sich von selbst - und zwar schneller, als die Produktion wächst. Die Vergangenheit frisst die Zukunft."
    Piketty wäre wohl kaum auf die Titelseite der Businessweek gekommen, wenn er sich als reiner Wirtschaftswissenschaftler verkauft hätte. Er aber will alles sein: Ökonom, Soziologe, Historiker, Philosoph. Sogar Literaturwissenschaftler. Die Romane von Jane Austen und Honoré de Balzac dienen ihm als Quelle zur Bestimmung der Vermögensverteilung in Großbritannien und Frankreich um die Zeit von 1800.
    "Die Romanschriftsteller geben fortwährend Beträge in Francs oder Livres an, die sich auf die Einkünfte und Vermögen verschiedener Figuren beziehen. Sie tun das nicht, um uns mit Zahlen einzudecken, sondern weil diese Angaben dem Leser eine Vorstellung von genau definierten sozialen Stellungen und allseits bekannten Lebensstandards vermitteln."
    Die Finanzmittel als Chiffre für sozialen Status und Gewicht in der Gesellschaft. Grundbesitz und staatliche Schuldtitel vermehren sich - auch ohne dass Menschen morgens um sechs Uhr aufstehen müssen, um zur Arbeit zu gehen.
    "Manche Franzosen oder Briten, zum Beispiel die Romanhelden von Jane Austen, verfügten natürlich über mehrere Hundert Hektar Land, die einem Vermögen von mehreren zehn oder mehreren Hundert Millionen Euro entsprachen, während viele andere gar nichts besaßen."
    Piketty schreibt, dass sein "Buch von Menschen gelesen werden kann, die über keine fachspezifischen Kenntnisse verfügen". So hätte er es wohl gerne, denn ein Popstar, der nicht von vielen gelesen wird, ist kein Popstar. Aber ganz so einfach ist das nicht. Denn wer keine spezifischen Kenntnisse hat, wird wohl kaum über die Einleitung hinaus blättern, denn das Buch ist durchaus: fachspezifisch. Großzügig ausgekleidet mit Grafiken über Kapitalrenditen zwischen 1770 und 2010, das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in Frankreich in den Jahren 1820 bis 2010. Es ist für Feinschmecker gedacht, was uns der Franzose hier auftischt, und das ist eines der Probleme des Autors: Er will für eine breite Leserschaft schreiben und zugleich wissenschaftlich unangreifbar sein. Es ist schwierig, beides unter einen Hut zu bekommen. Offenbar hatte Piketty schon geahnt, was da auf ihn zukommt: Wer nach wissenschaftlichen Erklärungen für Ungleichheit sucht, begibt sich argumentativ in die Höhle des Löwen.
    Die "Financial Times" warf ihm methodische Fehler vor, in der Öffentlichkeit wurde die Frage diskutiert, ob der Autor sein großzügig aufbereitetes Zahlenmaterial systematisch verfälscht haben könnte. Andere monierten grundsätzlicher, Piketty habe hier mal eben Karl Marx auf die Befindlichkeiten des Zeitgeistes heruntergebrochen und gehe nun mit einer alten Kapitalismus-Weltformel hausieren, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die Ur-Fehler des Systems längst korrigiert wurden - etwa mit den Versorgungsansprüchen sozialer Marktwirtschaften. Geschadet hat all das dem Erfolg des Buches bislang kaum. Im Gegenteil.
    Die "ideale Einrichtung, um der endlosen Ungleichheitsspirale Einhalt zu gebieten und Kontrolle über die gegenwärtige Dynamik zurückzugewinnen", schreibt er, sei "eine globale progressive Kapitalsteuer", schreibt Piketty. Fordern kann man vieles, vor allem als Wissenschaftler. Dennoch hat Piketty ein wichtiges Buch vorgelegt, nämlich weil es eine der wichtigsten ökonomischen Fragen unserer Zeit behandelt. Und völlig egal, ob man Piketty nun eher für den Justin Bieber der Ökonomie hält oder für den Karl Marx unter den Pop-Stars: Er ist ein wichtiger Autor und sein Buch Pflichtlektüre, nicht nur für Wirtschaftswissenschaftler. Ein großes Lesevergnügen sind seine 800 Seiten allerdings nicht.
    Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert (Übersetzung: Ilse Utz, Stefan Lorenzer),
    C.H.Beck Verlag, 816 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-306-67131-9