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Das Kino im Kopf

Ein Hörspiel ist großes Kino im Kopf. Oder sagen wir besser: kann großes Kino im Kopf sein. Bilder entstehen in uns, bewegte Bilder, die unsere Fantasie nicht einengen - im Gegenteil: Sie befördern unsere Fantasie, ja sie machen sie sogar zum Bündnisgenossen in einem Abenteuer, das in jedem Kopf einmalig ist und einzigartig.

Von Siggi Seuß |
    Diese Stimme.

    Helmut Qualtinger: Ach, ach! Dame! Das ist für den Herrn Künstler einerlei! Damenstimme. Männerstimme. Altes Weib. Kleines Kind. Er macht alles vollkommen nach. Er hat ein breites Register! Er ruft diesen oder jenen an. Improvisiert. Eine kleine Übung, der Situation entsprechend. Wie es ihm gerade einfällt.

    " Stimmen, die auch bleiben. Also, Qualtinger wird immer bleiben, weil der hat großartige Hörbücher gemacht. Der Kinski hat unheimlich viel Schmarren gemacht. Der wird vollkommen überschätzt. "Ich bin so wild nach deinem roten Erdbeermund!" Aber es gibt auch ein paar Stimmen, die man wiederentdecken kann, wo man sagt: "Mensch, der war aber gut, der war aber wirklich gut!" "

    sagt Rufus Beck, der Stimmzauberer - einer, der es wissen muss. Allein im Herbst werden über ein halbes Dutzend neue Hörbücher mit seiner Stimme erscheinen oder sind bereits erschienen: Philip Pullmans "Der goldene Kompass", Steven und Lucy Hawkings "Der geheime Schlüssel zum Universum", zwei Geschichten zu Sempés "Der kleine Nick", Gullivers Reisen, Frank Cottrell Boyce' "Millionen", nicht zu vergessen: der dritte Teil von Terry Pratchetts "Nomen-Trilogie" und im Dezember der siebte und letzte Harry-Potter-Band. - Eins seiner Lieblingsbücher des Jahres: Anthony McCartens "Superhero".

    " Es gibt ein sehr schönes Hörbuch, was ich - ich produziere die ja meistens auch - "Superhero" von Anthony McCarten - großer Schriftsteller. Er ist in Deutschland noch ein bisschen unbekannt. Aber meines Erachtens hat er absolut die Qualitäten auch von John Irving. Vielleicht nicht so in der Thematik und im Umfang, aber ganz, ganz großartige Bücher hat er geschrieben. "

    " Aufblende. Donald Delpe. Vierzehn. Magerer Junge, Schultern dürr wie Kleiderbügel. Schräger Vogel. Keine Augenbrauen, keine Haare. Gesicht wie eine Pellkartoffel. Stapft mit Schuhen Größe 46 durch Watford, in den Nordostser hinein, ein Regenschirmkiller direkt aus Sibirien. Strickmütze tief in die Stirn gezogen, Stöpsel in den Ohren, iPod voll aufgedreht, ist er unterwegs durch die wolkenverhangene Stadt. Wut ist seine Standardeinstellung. Wehmut auch. Die meiste Zeit blickt er zu Boden. Eine Sonnenblume im Regen. "

    " "Superhero" ist die Geschichte eines 14-jährigen Jungen, der an Leukämie erkrankt ist, und das ganze Hörbuch - oder das Buch - ist in einer Filmsprache geschrieben. Wie ein Filmmanuskript. Das Besondere an diesem Buch ist, dass es eben - es hat ne unheimlich rasante Sprache. Ist auch - man könnte sagen, ne Jugendsprache. Das Besondere an dieser Geschichte ist einfach, dass - wie dieser Junge sich verändert. Man weiß, dass er dem Tode geweiht ist. Und dann fängt eine Geschichte an mit einem Arzt, einem Psychiater in diesem Hospital. Und dieser Junge ist eine Jungfrau. Er hat noch nie mit einem Mädchen geschlafen und das einzige, was er sich wünscht: Er will nicht als Jungfrau sterben. Das ist schon die Geschichte. "

    Das neueste Mammutprojekt des Hörspielregisseurs Walter Adler - nach dem 24-stündigen Fantasyepos "Otherland". Eben produzierte der WDR das zwölfstündige Hörspiel "Der Orientzyklus" nach Karl Mays Reiseerzählungen. Und schon wieder hören wir - als einen von 140 Sprechern - Rufus Beck. Eben begegnet er als spleeniger britischer Lord, Sir David Lindsay erstmals Kara Ben Nemsi und zwar in einem Kaffeehaus im arabischen Maskat. Beck:

    " Der Walter Adler, der hat in der letzten Zeit sich auf Großprojekte spezialisiert. Man könnte so sagen: Der Edgar Reitz des Hörspiels. Das ist auch sehr reizvoll, weil Sie können sich mit einem großen Roman über ne lange Zeit auseinandersetzen und es ist eine eigene Kunstform. Ich selber bin eigentlich nicht so ein Fan von Hörspielen. Ich höre mir lieber Lesungen an. "

    Karl Mays orientalische Reiseerzählungen von "Durch die Wüste", bis zum "Schut" kennen Generationen alter und junger Leser. Nun macht die besondere Atmosphäre des Hörspiels die Geschichte zu einem jener Hörabenteuer, bei denen man die Jalousien herablässt, die Türen verriegelt und das Notstromaggregat bereitstellt. Anders kann man das Unternehmen auch nicht bewältigen. Nur eine leichte Unaufmerksamkeit und man würde sich bereits im Gewimmel der Gassen von Maskat oder Mekka verirren. Die lebendigen Dialoge, Sylvester Groths glaubwürdiger, ernster - leicht gehetzter - Erzählton als Kara Ben Nemsi, die quirlige Gegenrede seines Alter Ego Hadschi Halef Omar (Matthias Koeberlin), die spannungsfördernde Musik von Pierre Oser und die überaus reichhaltige Kulisse authentisch klingender Geräusche. Man wird genötigt, sich treiben zu lassen - um bedauerlicherweise gelegentlich verloren zu gehen in einem Universum von Stimmen. Bis einen eine vertraute Person wieder an der Hand nimmt und durch den Trubel irgendeines Bazars oder irgendeines Kampfgetümmels führt.

    Ein Hörspiel ist großes Kino im Kopf. Oder sagen wir besser: kann großes Kino im Kopf sein. Bilder entstehen in uns, bewegte Bilder, die unsere Fantasie nicht einengen - im Gegenteil: Sie befördern unsere Fantasie, ja sie machen sie sogar zum Bündnisgenossen in einem Abenteuer, das in jedem Kopf einmalig ist und einzigartig.

    Kann man aber in einem solch orientalischen Zauberwerk den biografischen Hintergrund des großen Illusionisten Karl May berücksichtigen? Und kann man der moralischen Tümelei und dem gelegentlich penetrant hehren Selbstbild des Ich-Erzählers entgegentreten? - Ja. Zum einen dient als Textgrundlage die von Hans Wollschläger und Hermann Wiedenroth herausgegebene historisch-kritische Ausgabe. Und die beruht auf Karl Mays Originalfassung und nicht auf den zusätzlich ideologisierenden Bearbeitungen. Außerdem schafft Walter Adler mit einer Art Kontrast-Montage Raum für biografische Nähe: Jeder Teil beginnt mit Gerichtsszenen, in denen die zahlreichen Konfrontationen des jungen May mit der Staatsgewalt offenkundig werden - Diebstähle, Betrügereien, Hochstapelei, Landstreicherei.

    Wie verständlich wird einem da Karl Mays Wunsch, sich ein für allemal von der schnöden Wirklichkeit seiner bitterarmen und später: seiner spießigen Welt wegzuträumen und die sächsische Landschaft in die Prärie oder in die Wüste zu schicken! Er erfindet sich ein neues Leben.

    Auge in Auge, oder besser Ohr an Ohr mit solchen Mammutgeschichten: Wann wollen wir sie denn hören, die Hörbücher und Hörspiele? - In einer Zeit, in der Hörbuchverlage immer mehr und immer längere Werke unters Volk bringen? Allein "Harry Potter und der Halbblutprinz" - das waren schon 22 Scheiben und 1.346 Hörminuten. Walter Adlers Mammuthörspiel "Otherland" dauerte insgesamt 24 Stunden.

    Beck " Ich kenne sehr wenige Menschen, die sich so in den Ohrensessel setzen. "

    So hammer ja angefangen in den 60-ern, 70-ern.

    Beck: " Mit Radio. "

    Radio.

    Beck: " Na gut, weil man's nicht mitnehmen konnte. "

    Donnerstagabend, Krimitermin, Kerzen an ...

    " ... Weinflasche hin ... "

    Abendessen beendet, noch mal gerülpst - und dann 20 Uhr Krimitermin, eine Stunde.

    " Ja, genau. Das ist vorbei. Weil die Leute nicht mehr über ihre Zeit verfügen können. "

    Zuerst gab's das Hörspiel. Und dann kam das Hörbuch. Noch vor zwölf, dreizehn Jahren, war es eine kleine feine Auswahl an Büchern, die von bekannten Schauspielern gelesen wurden.

    " Der Boom, kann man schon sagen, begann mit Harry Potter. Wenn da vorher einer 5.000 Hörbücher verkauft hat, dann sind die nackig auf dem Tisch rumgesprungen. "
    Rufus Beck hat - das kann man, ohne mit der Wimper zu zucken, behaupten - mit den Harry-Potter-Lesungen einen Stein ins Rollen gebracht. Alle Potter-Romane hat Beck gelesen. Das Hörbuch zum letzten Abenteuer des Zauberlehrlings soll bereits im Dezember erscheinen. - Inzwischen scheint fast zu jedem Roman ein Hörbuch zu existieren und man fragt sich zum einen: Wann, um Himmels Willen, und von wem sollen all die Hörbücher gehört werden? Schließlich sind hierzulande die Fernstrecken von A nach B wirklich nicht so lange wie in den USA, wo man schon mal einen 24-Teiler in den Player einlegen kann, wenn man mit dem Pkw von New York nach Memphis unterwegs ist und sich zu langweilen droht. Sind also unsere Highways zu kurz fürs Hörbuch?

    " Da widerspreche ich. Sie gucken, die Leute, Serien, gucken und die sagen: "O.K., jetzt guck ich ne halbe Stunde und nächste Woche ne halbe Stunde. Die beste Möglichkeiten Hörbücher zu hören sind für mich persönlich - sind im Auto. Im Auto - das Schöne ist im Auto. Da rennt man nicht aufs Klo. Da geht man nicht an Kühlschrank. Oder Sie gehen mit dem Hund spazieren. Und Sie machen's auf dem MP3-Player. Also, so mach ich das. Ich höre die Sachen, ich hab die CDs, dann konvertier ich die und dann geh ich mit dem Hund ne Stunde spazieren - der freut sich. Der Hund freut sich über die Hörbücher, weil der is' ne halbe Stunde länger draußen. "

    Manchmal hat man auch den leisen Verdacht, das Nebenerwerbsgebaren unterforderter Schauspieler spiele bei der einen oder anderen Produktion eine gewisse Rolle oder der Versuch eines Verlags mit einem bekannten Autorennamen - nicht Interpretennamen! - eine schnelle Mark zu verdienen. Eins jedenfalls ist sicher: So schlecht sortiert wie Hörbücher sind Musik-CDs nicht.

    " Da fehlt dem Buchhandel, dem Fachhandel - hat sich noch überhaupt nicht organisiert mit den Hörbüchern. Das ist Kraut und Rüben. Das Entscheidende beim Hörbuch ist doch, dass es interpretiert wird! Sonst kann's doch jeder selber lesen. Der Interpret ist ganz, ganz wichtig. Genauso wichtig wie der Autor. Wenn der Interpret nicht gut ist, kann man das Buch, Hörbuch in den Abfallkorb treten. Ich hoffe, ich glaube immer, dass Qualität sich auf Dauer durchsetzt. Es gibt viel Müll auf dem Markt, unglaublich viel Müll! Nur: Wie kann man das Publikum davor schützen? "

    Der Himmel war, wie immer in dieser Geschichte, klar und voller Licht.

    Stefan Merki ist, zum Beispiel, ein guter Interpret, in einer Geschichte von Roberto Piumini: "Matti und der Großvater". Der geliebte Großvater des Siebenjährigen ist eben gestorben. Und trotzdem machen sich Enkel und alter Mann auf zu einem allerletzten Spaziergang. Im Buch führten uns die magisch-realistischen Bilder von Quint Buchholz am Fluss entlang, durchs Sonnenblumenfeld, über den Pinienhain zum Meer. Klar und voller Licht - das Leben und die toskanische Landschaft, durch die Matti und der Großvater wandern. In der ungewöhnlichen Hörbuchfassung - es ist ein musikalisches Märchen mit Kompositionen von Stefan Blum -, in der Hörbuchfassung erzählt Stefan Merki die Geschichte dieses Spaziergangs, bei dem Großvater immer kleiner wird.

    "Großvater", sagte er auf einmal. "Ja, Matti?" "Ich muss dir was sagen." "Musst du oder willst du?" "Ich will." "Dann sag's." Matti sagte nichts. "Willst du's mir nicht mehr sagen?" "Doch, ich sag's dir." "Gut." "Du wirst immer kleiner", sagte Matti leise. "Soll das heißen, dass ich wieder jung werde?" "Nein, klein an Zentimetern. An Körpergröße. Du wirst immer kleiner, bleibst aber der Großvater." "Ah, sehr gut! Deshalb also fühle ich mich so leicht", sagte der Großvater.

    Die Bilder entstehen im Kopf, ihre Farben, ihre Lebendigkeit, ihre Tiefe. Wie sich die Landschaft im Augenblick des Erzählens in unserer Fantasie ausbreitet, so schwebt unter den Worten ein unaufdringliches filigranes Gebilde aus Tönen, Saxophon- und Celloklänge. Kopfkino eben. Und Großvater wird vor unseren Augen und Ohren immer kleiner, bis er zuletzt in Mattis Haar sitzt.

    Es ist, als schritten wir durch Worte und Bilder der eigenen Geschichte. Großvater und Enkel gehen auf eine Reise, auf eine Art Seelenwanderung, wie sie wohl zuallererst Kinder begreifen können. Alles, was die beiden auf dieser letzten gemeinsamen Erkundung erleben, gewinnt eine neue Bedeutung: Nähe und Ferne, die Dimensionen der Wahrnehmung, das Maß der Zeit. - Wie können wir uns das Sterben eines nahen Menschen tröstlicher erklären, als durch die Vorstellung, man würde ihn am Ende der gemeinsamen Reise in sich aufnehmen? "Ein Junge ist ein wunderbarer Ort zum Wohnen", meint Großvater, als er in Matti Platz genommen hat.

    Roberto Piumini, Stefan Merki und Stefan Blum malen die prägenden Augenblicke in der Begegnung eines jungen und eines alten Menschen so eindringlich, dass man als Leser und als Hörer nichts anderes ausrufen möchte als: "Genauso muss es sein! Klar und voller Licht."

    Aber, wissen Sie: Hörbücher sind auch unheimliche - ist auch ne tolle Möglichkeit, um in ein Genre oder einen Autor hineinzuhören. Und dann muss man sich orientieren: "Ach, der liest das, der ist gut!" Und dann entdeckt man etwas. Bei einer Lesung nimmt mich der Interpret an der Hand und führt mich durch einen Wald der Geschichte. Ich weiß noch gar nicht, wo's hinführt.

    Mandy: 11. Februar. Liebe Tracey! Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, warum ich auf Deine Anzeige antworte. Brieffreundschaften sind eigentlich nicht mein Ding. Aber es ist Sonntag, todlangweilig, und ich denke: "Das is' mal was anderes!" - Ahemm - und was jetzt? - Eins tu ich jedenfalls nicht: Ich werde mich nicht über mein Sternzeichen, meine Lieblingsgruppe, mein Lieblingsessen und den üblichen Mist auslassen. Wenn Du das willst, dann mach Dir nicht die Mühe, auf meinen Brief hier zu antworten, okay? Denn so bin ich nicht. Also, ich werde Dir einfach schreiben, was mir so durch den Kopf schießt.

    "Liebe Mandy, liebe Tracey" kann man eigentlich als klassische Hörbuchproduktion bezeichnen. Keine Musik. Keine Geräusche. Zwei Sprecherinnen. Zwei Stunden und 50 Minuten ununterbrochene Rede. Beste Voraussetzung für Langeweile? - Keineswegs. Erstens, weil die Geschichte von Anfang bis Ende stimmig ist, ja, man kann sagen: gebaut mit einem enormen stabilen und dazu noch ästhetischen Spannungsbogen. Zweitens, weil die Sätze ohne Einschränkung glaubwürdig wirken. Drittens, weil die Gedanken subtil Lebenswelten junger Menschen widerspiegeln. Viertens, weil der australische Schriftsteller John Marsden ein exzellenter Menschenkenner ist und diese Empathie im Unterton spürbar wird. Und fünftens, weil die beiden Sprecherinnen in ihre Rolle schlüpfen, als gehörten sie zu ihnen: Anna Thalbach und Anna Carlsson lesen den Briefroman, der bei uns bereits 1995 erschienen ist, aber bis heute nichts an Aktualität verloren hat.

    Tracey: 18. Februar. Liebe Mandy! Danke für den Brief. Du schreibst so toll! Viel besser als ich das kann. Ich hab die Anzeige zum Spaß aufgegeben, als so ne Art Test. Und Deine Antwort war die einzig gute. Du hast gefragt, ob ich irgendwelche Tiere hab, ich meine, ob Haustiere bei uns leben. Ich hab ein Pferd, zwei Hunde und eine Katze. Das Pferd heißt Kissy, die Hunde Dillon und Matt und die Katze Katie.

    Fast könnte man glauben, hier hätten sich zwei gleiche Seelen gefunden, die sich zwar nicht über Sternzeichen und Boygroups verständigen, aber auch nicht unbedingt mehr als über die kleinen und manchmal vielleicht etwas größeren Sorgen des Alltags von 16-jährigen Teenies aus geordneten Familienverhältnissen. Doch Brief für Brief werden die Botschaften intimer, vertrauter und gleichzeitig suspekter. Ist Tracey wirklich die, für die sie sich ausgibt?

    Mandy: 4. Juni. Trace, ich bin kein Sherlock Holmes, aber ich will die Sache klarkriegen. Vor langer Zeit hast du mal geschrieben, deine Eltern sind seit 25 Jahren verheiratet. Jetzt heißt es, dein Vater ist nach deiner Geburt gestorben. Irgendetwas stimmt hier nicht. Bitte antworte mir. Mandy

    Eine überraschender Bruch der Vertrauensbasis hält die beiden Mädchen nicht davon ab, den Briefkontakt fortzusetzen. Selbst als die ausgesprochenen Wahrheiten für beide immer schmerzhafter werden. Man könnte fast daran glauben, nichts könne die tiefe Vertrautheit von Mandy und Tracey erschüttern, wenn nicht kurz vor dem einjährigen Jubiläum der Brieffreundschaft etwas Rätselhaftes geschehen würde - etwas, das das Gemüt von uns Lesern bzw. Hörern auf eine Weise berührt, ja aufrührt, wie es selten geschieht, wenn man sich in eine fiktive Geschichte vertieft hat. Mehr soll dazu nicht verraten werden.

    Damit wir uns am Ende der Sendung - trotz Erschütterung - wieder halbwegs aufrichten können, sollten wir Johnny Hübner zu Wort kommen lassen, den einsamen Wolf von der Geschichtenrettungszentrale 35 Süd. Er kennt sich aus mit Lesern, die in Büchern gefangen gehalten werden, weil sie nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können oder wollen.

    "Johnny Hübner greift ein". Hörspiel für Kinder von Hartmut El Kurdi.

    In der letzten Woche war viel los gewesen in der Geschichtenrettungszentrale. Gestern, zum Beispiel, hatte ich einen neunjährigen Jungen aus einer Rittergeschichte, einen Buchhalter aus einem Liebesroman und eine todesmutige Kindergärtnerin aus einem ziemlich unappetitlichen Zombieabenteuer gerettet. Keine schlechte Bilanz für einen Arbeitstag. (Fliege brummt) Nur heute Abend schien einfach nichts zu passieren.

    Hat Johnny Hübner (alias Jürgen Holtz) den Klienten in einer Geschichte eingekreist und droht für diesen allerhöchste Gefahr für Leib und Leben, dann greift der Geschichtenrettungsdektektiv zu, mit seiner schärfsten Waffe, dem hundertköpfigen, 24 Stunden einsatzfähigen Geschichtenretterrhythmusritualchor:

    Raus aus dem Buch! Raus aus dem Buch! Raus aus dem Buch! Raus aus dem Buch!

    Johnny: Stopp! Jetzt passiert's!

    Ach ja, worum es in Hartmut El Kurdis Hörspiel "Johnny Hübner greift ein" überhaupt geht? Es geht um Olga, die wieder mal unter der Bettdecke liest und sich dabei in einem Buch verliert, in einer verdammt fiesen Geschichte um einen verdammt fiesen Piraten - natürlich Harry Rowohlt alias Käptn Braunbart:

    Los, Männer! Schmeißt die kleine Laus über Bord und den widerlichen Smutje gleich hinterher!

    Mannschaft: Alles klar, Käptn! Zu Befehl, Käptn!

    Olga: Au! Lasst los! Das tut weh!

    Mannschaft: Und eins und zwei und -

    Es geht um Fantasie, um diese wunderbare Lust zu Lesen, um Abenteuer, Spannung, natürlich um Lebensgefahr. Es geht um Gerechtigkeit und Witz und Schläue. Es geht um Mut. Es geht um ein buntes und ein graues Leben, es geht um Geräusche und um Stimmen. Es geht um Kino im Kopf. Auch wenn der Chef der Geschichtenrettungszentrale das anders sieht.

    Johnny: Was ist denn jetzt los?

    Chef: Die wollen das Mädchen grad in die Ostsee schmeißen! Wie viel Lebensgefahr brauchen Sie noch?

    Johnny: Nun warten Sie doch erstmal ab. Mit Verlaub: Ich mache diesen Job jetzt seit 20 Jahren. Ich weiß, wie man Leute sauber aus Geschichten rausholt. Also, lassen Sie mich einfach meine Arbeit machen. Guten Tach! - Idiot!

    Noch'n Schlusswort, Herr Beck?

    Beck: Es ist wunderbar! Da fährt man nicht ne Stunde und hört irgendwie ne blöde Dudelmusik. Und trotzdem nimmt man die Landschaft wahr. Multitasking - das kann man schon machen! Ich kann noch riechen, was es gibt. Ich kann die Landschaft genießen und Autofahren und kann dabei hören. Also, man ist ja nicht so eindimensional. Wir sind schon Menschen, die extrem viel können. Wenn man sie entsprechend auch belastet und ranführt an Stoffe.

    Also, rein ins Auto und Film ab! - Ach, nein: Der Ohrensessel ist viel schöner. Kerzen an. Licht aus.

    Beck (liest aus Superhero)" : Don sitzt auf der Baumschaukel hinter dem Haus und zeichnet an seinem Comicroman. Er ist voll in Fahrt. ... Er zeichnet so viele Einzelbilder in einem solchen Tempo, dass er das Gefühl hat, sie bewegen sich tatsächlich, mit 40 Bildern pro Sekunden; sie flackern durch sein Bewusstsein wie ein Film. Heute ist die Geschichte lebendig. "
    Schnitt zu MIRACLEMAN in einem KRANKENHAUSBETT:

    Und wer hätte das gedacht? Ich wurde krank. Irgend so ein Supervirus, Bakterien, die kein Mensch je gesehen hatte. Geheimnisvolle Krankheit. Die Ärzte waren sicher, dass es aus war mit mir. Ja, ein paar Sekunden lang ... EIN MONITOR ZEIGT HERZSTILLSTAND ... war es das auch. Es war aus mit mir. Doch dann ... HERZSCHLAG kehrt zurück - Bip - bip - bip - bip .. .


    Bibliographie:

    - Anthony McCarten: Superhero
    Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Allié-Kempf. Inszeniert und gelesen von Rufus Beck. Diogenes Verlag, Zürich 2007, 5 CD/343 Min., 29,90 Euro, ab 14

    - Karl May: Der Orientzyklus
    Hörspielbearbeitung und Regie von Walter Adler. Produktion WDR Köln, der hörverlag, München 2007, 12 CD/646 Min., 79,95 Euro, ab 12

    - Roberto Piumini: Matti und der Großvater
    Übersetzung von Maria Fehringer. Musikalische Erzählung für Kinder. Regie: Christiane Ohaus. Gelesen von Stefan Merki. Musik von Stefan Blum. Produktion: Radio Bremen. Süddeutsche Zeitung Edition, München 2007, 1 CD/75 Min., 12,90 Euro, ab 8

    - John Marsden: Liebe Tracey, liebe Mandy
    Aus dem Englischen von Heike Brandt. Gelesen von Anna Thalbach und Anna Carlsson. Hörfassung und Regie: Georg Gess. Beltz & Gelberg, Weinheim 2007, 2 CD/2 Std. 50 Min., 14,90 Euro, ab 13

    - Hartmut El Kurdi: Johnny Hübner greift ein
    Hörspiel mit Jürgen Holtz, Harry Rowohlt u.v.a. Regie: Wolfgang Rindfleisch. Produktion: DeutschlandRadio Kultur. Patmos Verlag, Düsseldorf 2007. 1 CD/47 Min., 12,95 Euro, ab 7

    Weitere Empfehlungen:

    - Zoran Drvenkar: Paula und die Leichtigkeit des Seins. Gelesen von Hannah Herzsprung und Zoran Drvenkar. Hörcompany Hamburg 2007, 1 CD, 12,90 Euro, ab 8

    - Goscinny/Sempé: Der kleine Nick freut sich auf Weihnachten. Gelesen von Rufus Beck. Diogenes Verlag, Zürich 2007, 1 CD, 14,90 Euro
    (ab November), ab 8

    - Tad Williams: Otherland. Der glücklichste tote Junge der Welt. Orlando Gardiners Geschichte. Gelesen von Matthias Koeberlin. der hörverlag, München 2007, 1 CD, 19,95 Euro, ab 14

    - Tahar Ben Jelloun: Papa, was ist der Islam? Hörspiel für Kinder, Der Audio Verlag, Berlin 2007, 1CD, 9,99 Euro, ab 12

    - Meg Rosoff: So lebe ich jetzt. Gelesen von Katja Riemann. Hörbuch Hamburg 2007, 4 CD, 19,95 Euro, ab 13

    - Derek Landy: Skulduggery Pleasant. Der Gentleman mit der Feuerhand. Gelesen von Rainer Strecker. Hörcompany, Hamburg 2007, 6 CD, 24,90 Euro, ab 12

    John Boyne: Der Junge im gestreiften Pyjama. Gelesen von Ulrich Matthes. Argon Verlag, Berlin 2007, 4 CD, 19,95 Euro, ab 12

    Frances H. Burnett: Der geheime Garten. Lesung mit Musik. Erzählt von Rosemarie Fendel. Ucello Verlag, Seefeld, 5 CD, 25,90 Euro, ab 10

    - Astrid Lindgren: Kalle Blomquist, Eva-Lotta und Rasmus. Hörspielklassiker von 1955, Oetinger Audio, Hamburg 2007, 2 CD, 13,95 Euro, ab 6
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