"Es waren Adventstage: Für nichts gab es einen rechten Moment."
Abbildung: Gepflegte Umgebung im Kulturhaus gegen 22.00 Uhr.
"Ein Mensch wird geboren, hat einen Wert. Der Wert wird ihm beschnitten. Er wird sich einen Kokon machen aus Wertgefühlen."
Diese Stimme ist unverwechselbar. Der Stil, der Jargon, die eigentümliche Verbindung von historischen, soziologischen, psychologischen und poetischen Begrifflichkeiten ebenfalls. Nur Alexander Kluge spricht und schreibt seit fast einem halben Jahrhundert so. Nur Alexander Kluge schafft es Marx wie Adorno, Heidegger wie Freud in einen belletristischen Zusammenhang zu stellen, der nie so ganz verrät, ob das Erkenntnisinteresse des Autors überwiegt oder seine heimliche Lust an der Zurschaustellung von Monstrositäten:
Abbildung: Theodor W. Adorno. "Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bild hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Dass das vergessen wird, ist der Triumph der Kultur, deren Misslingen." Adorno, Negative Dialektik, Seite 360. Dort auch der Begriff: "Verwilderte Selbsterhaltung".
"Ich vertraue der Ironie nicht. Ich habe große Lust und ich höre gerne Menschen, die ironisch sind, zu. Aber selber bringe ich sie noch ... sie hat einen Blick von oben! Und eigentlich haben die Poeten den Blick von innen. Die gucken von unten, von unter dem Tisch, was die Erwachsenen oben sprechen. Und das ist kein Blick von oben, keine Übersicht! Und zur Ironie fehlt mir die Übersicht."
Übersicht – in anderer Auslegung des Wortes – schenkte vor neun Jahren der Suhrkamp-Verlag seinem bedeutenden Hausautor Alexander Kluge in Form einer Gesamtausgabe: "Chronik der Gefühle" – das komplette belletristische Werk in zwei Bänden auf über 2000 Seiten. Kann man daraus ein Hörbuch kompilieren, das nicht zugleich alle Maßstäbe des Mediums sprengt? Karl Bruckmaier hat dies gewagt und als Regisseur und Bearbeiter 14 CDs ausgekoppelt. Experimentelle Musikfragmente, viele prominente Sprecher und die markante Stimme des Autors – der nicht nur liest, sondern auch im Interview das eigene Werk reflektiert – schaffen einen Hörraum, der so eigenartig ausfällt wie das Klugesche Lebenswerk insgesamt. Die aphoristische Sentenz ...
Wenn man sein Gewissen dressiert, so küsst es uns zugleich, indem es beißt.
... nimmt darin einen ebenso wichtigen Raum ein wie die historische Spekulation, zum Beispiel was die alliierten Nachkriegsmächte 1989 jenseits der Wiedervereinigung noch hätten tun können:
"Sie hätten zum Beispiel die DDR direkt nach Brüssel geben können! Als neues kapitalistisches Land, zweite Schweiz, viertes deutsch sprechendes Land ... hätte die Industrie dort erhalten. Und war gewollt von Thatcher, Mitterrand, Gorbatschow."
"Was vom Sozialismus bleibt, ist zumindest der ärztliche Dienst."
So spricht vielleicht kein Ironiker, aber doch ein Mensch, dem das Sarkastische nicht ganz fremd ist – ein Ton, der bei Alexander Kluge des Öfteren die geistige Welterkundung grundiert. So zum Beispiel in den "Basisgeschichten", einer jener CDs, die das weitläufige biografische Material des Klugeschen Kleinbürgeruniversums – halb erlebt und halb erfunden – als Panoptikum präsentiert. Hier eine Stelle über die Vorzüge dicker Matronen, gesehen aus der Perspektive des Kindes:
"Die starken Elefantenbeine waren für Kinder, die sie nicht nach modischen Jugendstandards betrachteten, etwas Brauchbares. Man konnte sich an diesen Säulen festhalten. Dahinter verstecken. Auf dem Schoß saß es sich wie auf einem Sessel. Der Bauch als Lehne, und der Hintern, ruhend im Nachmittagsschlaf neben dem daran gekuschelten Kind, wackelten ja keineswegs, sondern ruhte und heizte, wie es kein Kissen, keine Decke vermochte. An sich – einmal berücksichtigt – dass sie als Geschlechtswesen ohnehin niemand mehr dienten, war die Fülle etwas Praktisches. Mit dem einzigen Nachteil, dass die Gesamtschwere auf die Beweglichkeit drückte."
Wer sich angesichts der Hörbeispiele fragt, wo hier der rote Faden verlaufe, verkennt das Labyrinthische an Kluges Werk insgesamt. Man muss ihm schon folgen in den Irrgarten seiner Gedanken und spitzen Bemerkungen, seiner hellwachen Beobachtungen und unerhört frechen Fälschungen. So zum Beispiel auf der CD "Heidegger auf der Krim". Hier wird der deutsche Großphilosoph zum Kriegseinsatz nach Osten gebracht, um rettenswerte germanische Kulturgüter zu sichten. Tatsächlich aber passiert etwas anderes, ihm läuft bei einer Massenvernichtungsaktion ein Kind zu. Typisch Klugesche Setzung: Was macht der Intellektuelle nun mit seiner Aufgabe? Interpretiert er sie um? Denn um Rettung geht es ja jetzt noch viel dringender:
"Ich hatte zugefasst, als die Hand in meine Hand gelegt wurde. Ich hatte mich überraschen oder übertölpeln lassen. Ich empfand das, was ich in meiner Hand hielt, als mir anvertraut. (...) Ich weiß, dass ich, wenn ich in mich schaue, gefeit bin gegen Mitleid. Ich will nicht schützen. Ich will dieses Menschwesen besitzen."
"Was ist, wenn ich für fast nichts, was mich angeht, einstehe? Wenn für keine Fläche der Lebenszeit Risiko mehr bleibt, warum lebt dann einer?" – "Lassen wir die Illusion! Verzeihen Sie, wenn ich nicht in der Sprache Ihrer Wünsche rede, ich rede aus Erfahrung. Ich gehe davon aus, dass dieses Kind jüdischer Abstammung ist. Sie müssen also, lieber Heidegger, sagen können: Auch wenn sie eine Jüdin ist, werde ich mich mit meiner Existenz für sie einsetzen. Das heißt: Nicht nur mit meinem Leben, sondern mit meinem Rangkörper!"
"Natürlich ist die Idee von Heißenbüttel und mir, Dokumentarromane zu schreiben, eine gute Idee! Aber da merken Sie zum Beispiel, dass Planwirtschaft manchmal auch schiefgeht! Da ist zu viel Absicht drin."
Einwand stattgegeben. Manchmal wirken die Kluge-Texte grimmig wie eine Kanzelpredigt, der oft apokalyptische Geschichtston wie ein nie enden wollender Kassandraruf. Die Selbstkritik des Autors als gewünschter Teil der Hörbuchproduktion hebt das aber wieder auf ... zuweilen wartet man sogar gespannter auf den nächsten Interview-Einwurf als auf die kommende Textstelle.
"Also: Schulstunde und Schulpause. Und die Dramaturgie der Schulpause ist die Glücklichere. Die Leser wünschen nicht nur Kürze! Und die Lösung ist, dass Sie diese Konzentrate beibehalten, gleich neben den Konzentraten aber auch Dialoge, leichte Redeweise, andere Beispiele – das heißt also: Befreiung vom Sinnzwang – hinzufügen."
"Befreiung vom Sinnzwang" könnte allerdings kaum als Titel für dieses beeindruckende Hörkunst-Monumentalwerk herhalten. Hier wird über mehr als 13 Stunden in Abertausenden Partikeln Sinn gestiftet, der sich nur einer Konvention entzieht: der linearen Kausalität. Für die CDs gilt keine vorgeschriebene Reihenfolge, wohl aber ein Grundgebot: Zeit mitbringen! So nebenher hört sich das nicht weg, im Gegenteil. Die "Chronik der Gefühle" verlangt wie alle große Kunst ein Quäntchen Hingabe.
Alexander Kluge: "Chronik der Gefühle"
Bearbeitet von Karl Bruckmaier
Mit Alexander Kluge, Hannelore Hoger, Ilja Richter, Hanns Zischler u.v.a.
14 CD, Kunstmann Verlag, ca. 13 Stunden
Abbildung: Gepflegte Umgebung im Kulturhaus gegen 22.00 Uhr.
"Ein Mensch wird geboren, hat einen Wert. Der Wert wird ihm beschnitten. Er wird sich einen Kokon machen aus Wertgefühlen."
Diese Stimme ist unverwechselbar. Der Stil, der Jargon, die eigentümliche Verbindung von historischen, soziologischen, psychologischen und poetischen Begrifflichkeiten ebenfalls. Nur Alexander Kluge spricht und schreibt seit fast einem halben Jahrhundert so. Nur Alexander Kluge schafft es Marx wie Adorno, Heidegger wie Freud in einen belletristischen Zusammenhang zu stellen, der nie so ganz verrät, ob das Erkenntnisinteresse des Autors überwiegt oder seine heimliche Lust an der Zurschaustellung von Monstrositäten:
Abbildung: Theodor W. Adorno. "Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bild hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Dass das vergessen wird, ist der Triumph der Kultur, deren Misslingen." Adorno, Negative Dialektik, Seite 360. Dort auch der Begriff: "Verwilderte Selbsterhaltung".
"Ich vertraue der Ironie nicht. Ich habe große Lust und ich höre gerne Menschen, die ironisch sind, zu. Aber selber bringe ich sie noch ... sie hat einen Blick von oben! Und eigentlich haben die Poeten den Blick von innen. Die gucken von unten, von unter dem Tisch, was die Erwachsenen oben sprechen. Und das ist kein Blick von oben, keine Übersicht! Und zur Ironie fehlt mir die Übersicht."
Übersicht – in anderer Auslegung des Wortes – schenkte vor neun Jahren der Suhrkamp-Verlag seinem bedeutenden Hausautor Alexander Kluge in Form einer Gesamtausgabe: "Chronik der Gefühle" – das komplette belletristische Werk in zwei Bänden auf über 2000 Seiten. Kann man daraus ein Hörbuch kompilieren, das nicht zugleich alle Maßstäbe des Mediums sprengt? Karl Bruckmaier hat dies gewagt und als Regisseur und Bearbeiter 14 CDs ausgekoppelt. Experimentelle Musikfragmente, viele prominente Sprecher und die markante Stimme des Autors – der nicht nur liest, sondern auch im Interview das eigene Werk reflektiert – schaffen einen Hörraum, der so eigenartig ausfällt wie das Klugesche Lebenswerk insgesamt. Die aphoristische Sentenz ...
Wenn man sein Gewissen dressiert, so küsst es uns zugleich, indem es beißt.
... nimmt darin einen ebenso wichtigen Raum ein wie die historische Spekulation, zum Beispiel was die alliierten Nachkriegsmächte 1989 jenseits der Wiedervereinigung noch hätten tun können:
"Sie hätten zum Beispiel die DDR direkt nach Brüssel geben können! Als neues kapitalistisches Land, zweite Schweiz, viertes deutsch sprechendes Land ... hätte die Industrie dort erhalten. Und war gewollt von Thatcher, Mitterrand, Gorbatschow."
"Was vom Sozialismus bleibt, ist zumindest der ärztliche Dienst."
So spricht vielleicht kein Ironiker, aber doch ein Mensch, dem das Sarkastische nicht ganz fremd ist – ein Ton, der bei Alexander Kluge des Öfteren die geistige Welterkundung grundiert. So zum Beispiel in den "Basisgeschichten", einer jener CDs, die das weitläufige biografische Material des Klugeschen Kleinbürgeruniversums – halb erlebt und halb erfunden – als Panoptikum präsentiert. Hier eine Stelle über die Vorzüge dicker Matronen, gesehen aus der Perspektive des Kindes:
"Die starken Elefantenbeine waren für Kinder, die sie nicht nach modischen Jugendstandards betrachteten, etwas Brauchbares. Man konnte sich an diesen Säulen festhalten. Dahinter verstecken. Auf dem Schoß saß es sich wie auf einem Sessel. Der Bauch als Lehne, und der Hintern, ruhend im Nachmittagsschlaf neben dem daran gekuschelten Kind, wackelten ja keineswegs, sondern ruhte und heizte, wie es kein Kissen, keine Decke vermochte. An sich – einmal berücksichtigt – dass sie als Geschlechtswesen ohnehin niemand mehr dienten, war die Fülle etwas Praktisches. Mit dem einzigen Nachteil, dass die Gesamtschwere auf die Beweglichkeit drückte."
Wer sich angesichts der Hörbeispiele fragt, wo hier der rote Faden verlaufe, verkennt das Labyrinthische an Kluges Werk insgesamt. Man muss ihm schon folgen in den Irrgarten seiner Gedanken und spitzen Bemerkungen, seiner hellwachen Beobachtungen und unerhört frechen Fälschungen. So zum Beispiel auf der CD "Heidegger auf der Krim". Hier wird der deutsche Großphilosoph zum Kriegseinsatz nach Osten gebracht, um rettenswerte germanische Kulturgüter zu sichten. Tatsächlich aber passiert etwas anderes, ihm läuft bei einer Massenvernichtungsaktion ein Kind zu. Typisch Klugesche Setzung: Was macht der Intellektuelle nun mit seiner Aufgabe? Interpretiert er sie um? Denn um Rettung geht es ja jetzt noch viel dringender:
"Ich hatte zugefasst, als die Hand in meine Hand gelegt wurde. Ich hatte mich überraschen oder übertölpeln lassen. Ich empfand das, was ich in meiner Hand hielt, als mir anvertraut. (...) Ich weiß, dass ich, wenn ich in mich schaue, gefeit bin gegen Mitleid. Ich will nicht schützen. Ich will dieses Menschwesen besitzen."
"Was ist, wenn ich für fast nichts, was mich angeht, einstehe? Wenn für keine Fläche der Lebenszeit Risiko mehr bleibt, warum lebt dann einer?" – "Lassen wir die Illusion! Verzeihen Sie, wenn ich nicht in der Sprache Ihrer Wünsche rede, ich rede aus Erfahrung. Ich gehe davon aus, dass dieses Kind jüdischer Abstammung ist. Sie müssen also, lieber Heidegger, sagen können: Auch wenn sie eine Jüdin ist, werde ich mich mit meiner Existenz für sie einsetzen. Das heißt: Nicht nur mit meinem Leben, sondern mit meinem Rangkörper!"
"Natürlich ist die Idee von Heißenbüttel und mir, Dokumentarromane zu schreiben, eine gute Idee! Aber da merken Sie zum Beispiel, dass Planwirtschaft manchmal auch schiefgeht! Da ist zu viel Absicht drin."
Einwand stattgegeben. Manchmal wirken die Kluge-Texte grimmig wie eine Kanzelpredigt, der oft apokalyptische Geschichtston wie ein nie enden wollender Kassandraruf. Die Selbstkritik des Autors als gewünschter Teil der Hörbuchproduktion hebt das aber wieder auf ... zuweilen wartet man sogar gespannter auf den nächsten Interview-Einwurf als auf die kommende Textstelle.
"Also: Schulstunde und Schulpause. Und die Dramaturgie der Schulpause ist die Glücklichere. Die Leser wünschen nicht nur Kürze! Und die Lösung ist, dass Sie diese Konzentrate beibehalten, gleich neben den Konzentraten aber auch Dialoge, leichte Redeweise, andere Beispiele – das heißt also: Befreiung vom Sinnzwang – hinzufügen."
"Befreiung vom Sinnzwang" könnte allerdings kaum als Titel für dieses beeindruckende Hörkunst-Monumentalwerk herhalten. Hier wird über mehr als 13 Stunden in Abertausenden Partikeln Sinn gestiftet, der sich nur einer Konvention entzieht: der linearen Kausalität. Für die CDs gilt keine vorgeschriebene Reihenfolge, wohl aber ein Grundgebot: Zeit mitbringen! So nebenher hört sich das nicht weg, im Gegenteil. Die "Chronik der Gefühle" verlangt wie alle große Kunst ein Quäntchen Hingabe.
Alexander Kluge: "Chronik der Gefühle"
Bearbeitet von Karl Bruckmaier
Mit Alexander Kluge, Hannelore Hoger, Ilja Richter, Hanns Zischler u.v.a.
14 CD, Kunstmann Verlag, ca. 13 Stunden