„Der Bundestag spricht Bundeskanzler Willy Brandt das Misstrauen aus und wählt als seinen Nachfolger den Abgeordneten Dr. Rainer Barzel zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland“, erklärte der CDU-Abgeordnete und frühere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger im Namen der CDU/CSU-Fraktion. Am 24. April 1972 brachte die Opposition den Antrag gemäß Artikel 67 des Grundgesetzes in den Bundestag ein; ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
„Dies ist ja das erste Mal, dass hier im Bundestag von der verfassungsmäßigen Möglichkeit des sogenannten konstruktiven Misstrauensvotums Gebrauch gemacht wird", reagierte darauf Willy Brandt, den die Opposition anderthalb Jahre vor Ablauf der Legislaturperiode und den nächsten Bundestagswahlen stürzen wollte.
„Man hat es als konstruktiv deshalb bezeichnet, weil nicht nur gesagt werden soll, der Bundeskanzler soll weg, sondern zugleich gesagt werden muss, wir möchten den Kandidaten X als neuen Bundeskanzler sehen.“
Vorwurf der schlechten Regierungsarbeit
Die Opposition begründete das Misstrauensvotum mit der schlechten Regierungsarbeit der sozialliberalen Koalition. SPD und FDP hätten die "gesunden Staatsfinanzen zerrüttet", die Inflation angeheizt und die „soziale Marktwirtschaft in ernste Gefahr“ gebracht.
Im Zentrum der Kritik aber stand die neue Ostpolitik. Die Regierung Brandt/Scheel hatte Verträge mit Polen und der Sowjetunion geschlossen und dabei die bestehenden Grenzen in Europa anerkannt, um für Entspannung zwischen Ost und West zu sorgen. Die Opposition sah darin den „Ausverkauf deutscher Interessen".
"Wir sind jetzt der Meinung, dass 30 Monate dieser Regierung auf jeden Fall genug sind", so der CDU-Abgeordnete und frühere Außenminister Gerhard Schröder.
Barzel rechnete fest mit weiteren Überläufern
Die Opposition hoffte auf einen Regierungswechsel, weil die ohnehin knappe sozialliberale Mehrheit geschrumpft war. Mehrere SPD- und FDP-Abgeordnete waren aus Protest gegen die neue Ostpolitik zur Union gewechselt, und die Opposition unter Führung des Parteivorsitzenden Rainer Barzel rechnete fest mit weiteren Überläufern aus dem Regierungslager. Der FDP-Vorsitzende, Außenminister Walter Scheel, kritisierte das Vorgehen.
„Sie hoffen auf Mitglieder dieses Hauses, deren Nervenkraft und Charakterstärke nicht ausreicht, in einer schweren Stunde zu ihrer Partei zu stehen oder ihr Mandat zurückzugeben."
Am 27. April debattierte der Bundestag über das Misstrauensvotum. Willy Brandt lehnte es ab, einen Parteiwechsel als etwas Ehrenrühriges anzusehen, aber:
„Wenn die Antragstellenden Zusagen erhalten haben von Abgeordneten, die nicht ihrer Fraktion angehören, warum stehen dann diese nicht wenigstens auf? (Beifall) Warum bekennen sie sich nicht vor dem deutschen Volk?“
Barzel erhielt nur 247 Stimmen
Nach mehreren Stunden beendete Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel die Aussprache und rief zur geheimen Abstimmung auf. Um Rainer Barzel zum Bundeskanzler zu wählen, hätten 249 Abgeordnete für ihn stimmen müssen, doch er erhielt nur 247 Stimmen.
"Ich stelle fest, dass der von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Abgeordnete
Dr. Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht erreicht hat.“
Das konstruktive Misstrauensvotum war gescheitert, Rainer Barzel musste seine Niederlage eingestehen.
Dr. Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht erreicht hat.“
Das konstruktive Misstrauensvotum war gescheitert, Rainer Barzel musste seine Niederlage eingestehen.
„Ich habe immer gesagt, dass Neuwahlen der sympathischste Weg wären, aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass wir heute Morgen eine Abstimmung nicht gewonnen haben.“
So kam Willy Brandt zwei Jahre später zu Fall
Willy Brandt blieb Bundeskanzler. Gerüchte kamen auf, Abgeordnete seien bestochen worden, nicht für Rainer Barzel zu stimmen. Jahrzehnte später deuteten Stasi-Akten darauf hin, dass zwei CDU-Abgeordnete Geld vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit angenommen hätten, damit die sozialliberale Koalition ihre Entspannungspolitik fortsetzen konnte.
Die Mutmaßungen ließen sich jedoch nicht zweifelsfrei belegen. Doch welche Ironie der Geschichte: Zwei Jahre später trat Willy Brandt als Bundeskanzler zurück, weil einer seiner engsten Mitarbeiter als DDR-Spion enttarnt worden war.