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Das konsumistische Manifest

Als sich 1989 mit der Grenzöffnung zwischen West- und OstDeutschland das Ende der Blocksituation anbahnte, glaubte man, das Sprechen der Geschichte selbst zu vernehmen. Vor allem aber schien es mit dem Sprechen der Geschichte auch wieder eine Vernunft in dieser Geschichte zu geben. Zumindest im Nachhinein wirkte die atomare Abschreckungsstrategie und mit dieser die ganze Nachkriegspolitik wie ein gutes Stück ideologischer Vernunft. Fast konnte man den Eindruck haben, dass wie einst angesichts der französischen Revolution der idealistische Weltgeist sein Wirken auf einen freien Weltstaat hin doch noch nicht eingestellt hatte. Viel intellektuelle Arbeit wurde darauf verwendet, die Urszene aller kulturpessimistischen und existentialistischen Positionen des 20. Jahrhunderts, nämlich die Erfahrungen des zweiten Weltkriegs und des nationalsozialistischen Genozids, durch ein neues historisches Großereignis in den Hintergrund treten zu lassen. Trotz der weltweiten Zunahme von gewalttätigen Konflikten waren die 90er Jahre von einer optimistischen postmodernen Vernunft gekennzeichnet. Man könnte sagen - von einer leicht schizoiden.

Leander Scholz |
    Das hat sich mit dem Datum des 11. Septembers 200l grundlegend geändert. Wer jetzt nicht von Vernunft- auf Kriegsgeschichte umstellt, so der neue intellektuelle Ton, hat das unerwartete Zurückmelden der dunklen Seite der Geschichte verpasst. So wie die Wende von 1989 in ihrer optimistischen Rezeption der französischen Revolution korrespondierte, scheinen die Anschläge vom 11. September in ihrer intellektuellen Wirkung dem vergleichbar, was das Erdbeben von Lissabon für die Aufklärung war. Man rechnet wieder mit dem Bösen. Man stellt sich die Frage der Theodizee. Das Konsumistische Manifest von Norbert Bolz verblüfft deshalb allein schon durch seinen Titel - hätte man es bisher doch nicht für nötig gehalten, dass die Konsumökonomie eines Manifestes bedarf. Aber was der Titel in polemischer Bezugnahme auf ein anderes berühmtes Manifest, nämlich das kommunistische, verspricht, ist tatsächlich eine weit ausholende Rechtfertigung dessen, was man gemeinhin "Spätkapitalismus" nennt. Während das Eindringen der Ökonomie noch in die intimsten Verhältnisse in kulturkritischen Ansätzen meist als eine sublime Verschärfung und Totalisierung der Herrschaft der Finanzströme verstanden wird, ist Norbert Bolz bemüht, die zivilisierende Wirkung dieser lebensweltlichen Durchdringung hervorzuheben.

    Seine These lautet kurz zusammengefasst, dass der Konsum all die Befriedigungsprobleme löst, die keine Religion, kein Humanismus, keine Rechtsordnung, geschweige denn ein Krieg je vollständig bewerkstelligen konnte. Der Konsum gewährt zwar keine Befriedigung, wie man weiß, sondern produziert im Gegenteil immer neue unstillbare Bedürfnisse, wie man in vielen Analysen zum Fetischcharakter der Ware nachlesen kann. Aber der Kampf um Anerkennung, der in der existentialistischen Lesart Hegels der Motor der Geschichte ist, wird im Konsum, so Bolz, eben solchen Bedürfnissen zugeführt, die wiederum nur in erneutem Konsum zu befriedigen sind. Diese Bedürfnissteigerung führt zwar einerseits in eine Paradoxie der Bedürfniserfüllung, macht es aber anderseits gerade deswegen möglich, von realer Bedürfnisbefriedigung und der damit verbundenen Konflikte abzusehen.

    Mit Bolz könnte man sagen, die Geschichte läuft nicht wie Hegel und auch noch Marx sie begreifen wollten auf einen Zustand der Freiheit hinaus, sondern auf das immer Neue des Konsums, der, weil er nur ein Versprechen ist und immer neue Versprechen erzeugt, tatsächlich die beste Bedürfnisbefriedigung des Menschen darstellt. Die Geschichte endet also nicht mit dem Konsumismus. Sie läuft darin einfach leer.

    Der Titel Das konsumistische Manifest ist deshalb nicht nur eine bloße Anspielung auf den Kritiker der politischen Ökonomie, sondern nimmt sich zum provokanten Programm, Marx gegen den Strich zu lesen. Das heißt ganz konkret, dass die konsumistische Bedürfnissteigerung als die einzig "selig" machende begriffen wird. Und dass in diesem Zusammenhang wie schon bei Marx religiöse Vokabeln fallen - Marx sprach von den "theologischen Mucken" der Ware, ist kein Zufall. Denn Bolz sieht im Konsumismus eine Art atheistische Religion, die im Unterschied zu transzendenten Religionen eine "diesseitige Tiefe" ermögliche. Diese "Tiefe" und ihre "Stärke" auszuloten, dazu ist Bolz angetreten.

    Ausgangspunkt seiner These ist die Frage, welche Parteien sich in den Anschlägen vom 11. September eigentlich gegenüberstehen. Die in den politischen Diskursen häufig geführte Rede, dass sich zwei Wertesysteme im Konflikt befinden, nämlich ein demokratisches und ein vormodernes fundamentalistisches, weist Bolz mit Recht zurück. Auch die eilige Übertragung von Samuel Hunting-tons These vom clash of civilizations auf den 11. September sieht Bolz nicht als hinreichend an. Im Gegensatz zu der Annahme, es handele sich um religiöse, kulturelle oder Wertedifferenzen, rückt Bolz mit der Frage nach dem Konsum zunächst die ökonomische Perspektive ins Zentrum. In Anlehnung an die liberalistische Tradition der Freihandelslehre sieht er Entstehungsbedingungen für Gewalt überall dort gegeben, wo die Substitution von Konflikten durch ökonomische Verhältnisse nicht gelungen ist. Und zwar in dem Sinne - wer Kaufmann sein kann, hat es nicht mehr nötig, Krieger zu sein.

    Im Hintergrund dieser Zivilisationsthese stehen Autoren wie Norbert Elias, Max Weber und vor allem Albert 0. Hirschmann, der in zahlreichen Publikationen die Konzeption des entstehenden Kapitalismus in der Neuzeit analysiert hat. Allerdings spricht Hirschmann nicht davon, dass diese Substitution jemals gelungen sei, sondern dass den Kapitalismus sehr früh als Regulation der menschlichen Leidenschaften gedacht und gerechtfertigt wurde. Die Aufmerksamkeit gilt dabei dem negativen Menschenbild der Frührenaissance, das der Idee dieser Substitution überhaupt erst ihre Überzeugungskraft verleiht.

    Norbert Bolz schließt sich insofern diesem Menschenbild an, als er das Religionsbedürfnis für eine unumgängliche anthropologische Konstante hält. Die Frage ist dann nur noch, welche Art der Religion einen auf Dauer auch glücklich machen kann. Für seine Analyse des Konsumismus als gelungene Religion des Diesseits greift Bolz auf Walter Benjamin zurück, der im Kapitalismus eine Kultreligion sah, die einen ursprünglichen Verschuldungszusammenhang immer weiter perpetuiere. Benjamins Analyse von Geldscheinen als Heiligenbilder führt Bolz - natürlich in umgekehrter Weise und affirmativ - weiter, indem er alle Figuren des modernen Lebens in den befriedenden Kult des Konsums einschreibt. Ausgespart bleiben dabei wie selbstverständlich die zwangsläufigen Opfer dieses Kults. Und alles in allem läuft seine These auf die allgemeine Empfehlung hinaus, dass der Zugang zum Konsum die Lösung der Konflikte darstelle, die sich hinter dem 11. September verbergen. Darin werden ihm sicherlich alle die zustimmen, die ein Interesse an der Idee eines selbstregulierenden Marktes haben und an den Verheißungen der Gaben, die eine globalisierte Weltwirtschaft für alle Menschen verspricht. Das Konsumistische Manifest von Norbert Bolz bietet daher keine überzeugende Analyse der gegenwärtigen Konfliktlinien, sondern liest sich eher wie eine priesterliche Manifestation desjenigen Kultes, der eigentlich Gegenstand der Analyse sein sollte. Insofern weist der Titel des Buches nicht nur auf einen guten Einfall für den Verkauf hin, sondern vielmehr auf die Glaubwürdigkeitskrise, in der sich die gegenwärtigen Konsumversprechen befinden. Mit dem "konsumistischen Manifest" von Norbert Bolz scheint das philosophische Denken selbst im Bereich der Public Relations angekommen zu sein und bestätigt eine ganz andere These, nach der auch die Geisteswissenschaft nur ein Segment der umfassenden modernen Unterhaltungsindustrie darstellt.