O-Ton Horst-Eberhard Richter: "Man fühlt sich, ob man will oder nicht, ein Stück weit mitverantwortlich, dass auf dieser Welt so eine Brutalität im 21. Jahrhundert nicht mehr sein sollte."
Dina Netz: Und nur wenige haben diese Verantwortung so ernst genommen wie Horst-Eberhard Richter, der große Psychoanalytiker, der nicht nur ganz Deutschland, sondern gleich die gesamte westliche Welt therapierte. "Familie und seelische Krankheit", "Der Gotteskomplex", "Alle redeten vom Frieden", "Russen und Deutsche", "Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik", "Moral in Zeiten der Krise". So heißen nur einige der fast zahllosen Publikationen, die Horst-Eberhard Richter geschrieben hat. Der vielseitige Psychoanalytiker und Sozialphilosoph ist gestern gestorben. "Eltern, Kinder und Neurose". Das Buch mit dieser schlichten Aufzählung im Titel hat Horst-Eberhard Richter berühmt gemacht: Richter machte darin unbewusste Konflikte zwischen Eltern und Kind für kindliche Störungen verantwortlich. Es wurde ein internationaler Erfolg, gilt heute noch als Standardwerk und als wesentliche Ergänzung zu Sigmund Freuds Theorien zum Eltern-Kind-Verhältnis. Richters Arbeiten wurden danach zunehmend politisch, ab den 70er-Jahren beschäftigte er sich stark mit den Generationenkonflikten in Deutschland, die er als Reaktion auf die unterbliebene Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit deutete. Horst-Eberhard Richter, 1923 geboren, studierte Medizin, Philosophie und Psychologie, wurde 1962 auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychosomatik nach Gießen berufen, wo er parallel eine psychosomatische Klinik aufbaute. Bis zu seiner Emeritierung 1991 war er geschäftsführender Direktor dieses interdisziplinären Zentrums, 1992 bis 2002 leitete Richter das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Horst-Eberhard Richter war einer der Vordenker der Friedensbewegung – und vieles mehr. Er ist gestern im Alter von 88 Jahren gestorben. - Frage an den Publizisten Eike Gebhardt: Fangen wir mit dem an, womit auch Richter angefangen hat: Wie hat Horst-Eberhard Richter die Psychoanalyse weitergebracht?
Eike Gebhardt: Als Sie eben in der Einleitung sagten, dass erst später er die eigene Forschung und die eigene Beratung und Therapie politisch gewichtet hätte, dann ist das wahrscheinlich, wenn man es genau nimmt, nicht ganz akkurat, denn schon bei "Eltern, Kinder und Neurose" geht er davon aus – und das ist, heute würde man sagen, lange Zeit das Alleinstellungsmerkmal gewesen -, dass er nicht wie die Analytikerkollegen, wie die Therapeuten generell das Individuum mit Fehlern belastet sah und sagte, jetzt müssen wir mal diese Fehler reparieren und das Individuum dann wiederum in die krank machende Gesellschaft zurückschicken, sondern er sagte, vielleicht ist ja die Gesellschaft (und dazu zählten ausdrücklich auch schon die Eltern) selber der kranke Teil dieser Beziehung, das heißt, wir können das gar nicht verantworten im Grunde, indem wir immer wieder das Opfer korrigieren, dann aber dahin schicken, wo eben die Infektionen, wo die krankmachenden Keime sozusagen, die psychischen Keime liegen, das heißt, das wäre ja ein Teufelskreis. Die politische Dimension, dass er sagte, die Gesellschaft ist im Grunde selber krank, machte ihn zu einer Art Wahlverwandten mit dieser Anti-Psychiatrie-Bewegung, die ja in ganz Europa damals auftauchte – denken Sie an Ronald Laing, oder Basalia in Italien, oder Erich Wolf bei uns. Er hatte zwar mit dieser Bewegung direkt wenig zu tun, aber es war ein klarer Fall von Wahlverwandtschaft. Das heißt, er war sozusagen eine Art Universalgelehrter, er verfolgte nämlich einen interdisziplinären Ansatz, und ganz wichtig ist da zu betonen, dass er tatsächlich eine Synthese versuchte aus verschiedenen Ansätzen, einschließlich der Sozialwissenschaften, und das war ja, wogegen die orthodoxe freudsche Tradition ganz allergisch war: Sie wollten ja die soziale Komponente eigentlich auf die Familie beschränken. Und Richter weitete das aus zu allen möglichen sozialen Einflüssen, die unsere psychische Struktur prägen, und wenn wir dann ansetzen wollen, dass wir sagen, das sind vielleicht Krankheitsbilder, dann müssten wir uns mal genauer angucken, was eigentlich die Gesellschaft an diesen Individuen verbricht und ob wir nicht auch die Gesellschaft ändern müssen, und da setzt dann die explizite politische Orientierung ein.
Netz: Der damalige Bundespräsident Johannes Rau, der hat Richter mal "Analytiker und Therapeut des ganzen Landes" genannt, was ja schon ein ziemliches Kompliment ist. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, war das noch zu wenig. Was war er?
Gebhardt: Er war eine Ikone der Friedensbewegung, weil wenn man diesen Ansatz, den ich hier eben kurz skizziert habe, etwas ausweitet aufs Globale – und das lag ihm tatsächlich am Herzen – und wenn diese Art von Ikone sozusagen ein Vorbild, eine Art, Wissenschaftler würden sagen, ein Paradigma wäre, dann könnten wir wahrscheinlich einen anderen Stellenwert für diese ganzen Wissenschaften, die im Augenblick so abgehoben sind, mit einer konkreten Anwendung ins Auge fassen, und das ist, glaube ich, was gemeint war, als Richter aus dieser Ecke gepriesen worden war. Man muss aber dazu sagen, dass natürlich sein Engagement zum Beispiel gegen die Irak-Kriege – er ist ja zum Beispiel Mitgründer dieser "Ärzte gegen den Atomkrieg" gewesen -, man muss eigentlich immer dazu sagen, dass es sozusagen eine reine Psychoanalyse für ihn nie gegeben hat. Er hat immer verfolgt das, was sein philosophischer Kollege Habermas das Erkenntnisinteresse, was hinter allem steht, versucht, zu identifizieren, rauszukristallisieren, und das kam zum Beispiel durch, dass wir sozusagen den Verlust unserer inneren Orientierung (nämlich durch die Religion) versucht haben zu kompensieren, indem wir jetzt die Wissenschaft in diese Rolle gedrängt haben. Das hat uns aber sozusagen Allmachtsfantasien und Herrschaftsansprüche beschert "Nach dem Bilde Gottes, dem Schöpfer, dem Herrscher seid ihr geschaffen", und das ist sozusagen die Grundkrankheit, der wir nicht ins Auge schauen können. Diese Art von Blindheit, der versucht er, sozusagen das Wasser abzugraben oder den Nährboden wegzunehmen, und sagt, ohne eine permanente Selbstreflexion, das heißt auf unsere eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen, werden wir wahrscheinlich diese kranke Gesellschaft nicht langfristig heilen können, und er meinte tatsächlich nicht nur die deutsche, sondern die westliche Industriegesellschaft.
Netz: Eike Gebhardt erinnerte an Horst-Eberhard Richter, der gestern im Alter von 88 Jahren gestorben ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dina Netz: Und nur wenige haben diese Verantwortung so ernst genommen wie Horst-Eberhard Richter, der große Psychoanalytiker, der nicht nur ganz Deutschland, sondern gleich die gesamte westliche Welt therapierte. "Familie und seelische Krankheit", "Der Gotteskomplex", "Alle redeten vom Frieden", "Russen und Deutsche", "Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik", "Moral in Zeiten der Krise". So heißen nur einige der fast zahllosen Publikationen, die Horst-Eberhard Richter geschrieben hat. Der vielseitige Psychoanalytiker und Sozialphilosoph ist gestern gestorben. "Eltern, Kinder und Neurose". Das Buch mit dieser schlichten Aufzählung im Titel hat Horst-Eberhard Richter berühmt gemacht: Richter machte darin unbewusste Konflikte zwischen Eltern und Kind für kindliche Störungen verantwortlich. Es wurde ein internationaler Erfolg, gilt heute noch als Standardwerk und als wesentliche Ergänzung zu Sigmund Freuds Theorien zum Eltern-Kind-Verhältnis. Richters Arbeiten wurden danach zunehmend politisch, ab den 70er-Jahren beschäftigte er sich stark mit den Generationenkonflikten in Deutschland, die er als Reaktion auf die unterbliebene Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit deutete. Horst-Eberhard Richter, 1923 geboren, studierte Medizin, Philosophie und Psychologie, wurde 1962 auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychosomatik nach Gießen berufen, wo er parallel eine psychosomatische Klinik aufbaute. Bis zu seiner Emeritierung 1991 war er geschäftsführender Direktor dieses interdisziplinären Zentrums, 1992 bis 2002 leitete Richter das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Horst-Eberhard Richter war einer der Vordenker der Friedensbewegung – und vieles mehr. Er ist gestern im Alter von 88 Jahren gestorben. - Frage an den Publizisten Eike Gebhardt: Fangen wir mit dem an, womit auch Richter angefangen hat: Wie hat Horst-Eberhard Richter die Psychoanalyse weitergebracht?
Eike Gebhardt: Als Sie eben in der Einleitung sagten, dass erst später er die eigene Forschung und die eigene Beratung und Therapie politisch gewichtet hätte, dann ist das wahrscheinlich, wenn man es genau nimmt, nicht ganz akkurat, denn schon bei "Eltern, Kinder und Neurose" geht er davon aus – und das ist, heute würde man sagen, lange Zeit das Alleinstellungsmerkmal gewesen -, dass er nicht wie die Analytikerkollegen, wie die Therapeuten generell das Individuum mit Fehlern belastet sah und sagte, jetzt müssen wir mal diese Fehler reparieren und das Individuum dann wiederum in die krank machende Gesellschaft zurückschicken, sondern er sagte, vielleicht ist ja die Gesellschaft (und dazu zählten ausdrücklich auch schon die Eltern) selber der kranke Teil dieser Beziehung, das heißt, wir können das gar nicht verantworten im Grunde, indem wir immer wieder das Opfer korrigieren, dann aber dahin schicken, wo eben die Infektionen, wo die krankmachenden Keime sozusagen, die psychischen Keime liegen, das heißt, das wäre ja ein Teufelskreis. Die politische Dimension, dass er sagte, die Gesellschaft ist im Grunde selber krank, machte ihn zu einer Art Wahlverwandten mit dieser Anti-Psychiatrie-Bewegung, die ja in ganz Europa damals auftauchte – denken Sie an Ronald Laing, oder Basalia in Italien, oder Erich Wolf bei uns. Er hatte zwar mit dieser Bewegung direkt wenig zu tun, aber es war ein klarer Fall von Wahlverwandtschaft. Das heißt, er war sozusagen eine Art Universalgelehrter, er verfolgte nämlich einen interdisziplinären Ansatz, und ganz wichtig ist da zu betonen, dass er tatsächlich eine Synthese versuchte aus verschiedenen Ansätzen, einschließlich der Sozialwissenschaften, und das war ja, wogegen die orthodoxe freudsche Tradition ganz allergisch war: Sie wollten ja die soziale Komponente eigentlich auf die Familie beschränken. Und Richter weitete das aus zu allen möglichen sozialen Einflüssen, die unsere psychische Struktur prägen, und wenn wir dann ansetzen wollen, dass wir sagen, das sind vielleicht Krankheitsbilder, dann müssten wir uns mal genauer angucken, was eigentlich die Gesellschaft an diesen Individuen verbricht und ob wir nicht auch die Gesellschaft ändern müssen, und da setzt dann die explizite politische Orientierung ein.
Netz: Der damalige Bundespräsident Johannes Rau, der hat Richter mal "Analytiker und Therapeut des ganzen Landes" genannt, was ja schon ein ziemliches Kompliment ist. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, war das noch zu wenig. Was war er?
Gebhardt: Er war eine Ikone der Friedensbewegung, weil wenn man diesen Ansatz, den ich hier eben kurz skizziert habe, etwas ausweitet aufs Globale – und das lag ihm tatsächlich am Herzen – und wenn diese Art von Ikone sozusagen ein Vorbild, eine Art, Wissenschaftler würden sagen, ein Paradigma wäre, dann könnten wir wahrscheinlich einen anderen Stellenwert für diese ganzen Wissenschaften, die im Augenblick so abgehoben sind, mit einer konkreten Anwendung ins Auge fassen, und das ist, glaube ich, was gemeint war, als Richter aus dieser Ecke gepriesen worden war. Man muss aber dazu sagen, dass natürlich sein Engagement zum Beispiel gegen die Irak-Kriege – er ist ja zum Beispiel Mitgründer dieser "Ärzte gegen den Atomkrieg" gewesen -, man muss eigentlich immer dazu sagen, dass es sozusagen eine reine Psychoanalyse für ihn nie gegeben hat. Er hat immer verfolgt das, was sein philosophischer Kollege Habermas das Erkenntnisinteresse, was hinter allem steht, versucht, zu identifizieren, rauszukristallisieren, und das kam zum Beispiel durch, dass wir sozusagen den Verlust unserer inneren Orientierung (nämlich durch die Religion) versucht haben zu kompensieren, indem wir jetzt die Wissenschaft in diese Rolle gedrängt haben. Das hat uns aber sozusagen Allmachtsfantasien und Herrschaftsansprüche beschert "Nach dem Bilde Gottes, dem Schöpfer, dem Herrscher seid ihr geschaffen", und das ist sozusagen die Grundkrankheit, der wir nicht ins Auge schauen können. Diese Art von Blindheit, der versucht er, sozusagen das Wasser abzugraben oder den Nährboden wegzunehmen, und sagt, ohne eine permanente Selbstreflexion, das heißt auf unsere eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen, werden wir wahrscheinlich diese kranke Gesellschaft nicht langfristig heilen können, und er meinte tatsächlich nicht nur die deutsche, sondern die westliche Industriegesellschaft.
Netz: Eike Gebhardt erinnerte an Horst-Eberhard Richter, der gestern im Alter von 88 Jahren gestorben ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.