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Das Kreuz mit dem Halbmond

Was hinter Moschee-Mauern in Deutschland gepredigt wird, erregt manches Mal Misstrauen in Deutschland. Am Bosporus ist es genau umgekehrt. Deutschsprachige Christen in der Türkei stehen vielfach unter staatlicher Beobachtung - manche Kirchengemeinden werden behandelt wie Staatsfeinde. Um so mehr hoffen die etwa 100.000 Christen im Lande auf eine Annäherung der Türkei an die Europäische Union und den Beitritt in ferner Zukunft.

Von Ulrich Gineiger und Gunnar Köhne; Redakteurin am Mikrofon: Barbara Schmidt-Mattern | 16.09.2006
    Als im Februar dieses Jahres ein katholischer Priester in einer kleinen Stadt an der türkischen Schwarzmeerküste erschossen wurde, hielt man das zunächst für die Tat eines verwirrten 16-Jährigen, der infolge des Karikaturen-Streits wohl durchgedreht sei. Als aber Anfang Juli wieder ein Mord an einem Geistlichen geschah, war von Christenphobie in der Türkei die Rede. Wie gereizt die Stimmung ist, zeigen auch die harschen Reaktionen der Türken auf die jüngste Kritik von Papst Benedikt dem XVI. am Propheten Mohammed.
    Die winzige Minderheit von heute gerade mal 100.000Christen hat es noch nie leicht gehabt in der Türkei. Schon zu Zeiten des Osmanischen Reiches mussten sie dem Sultan gegenüber absolut loyal sein und waren im Alltag zahllosen Schikanen ausgesetzt.

    Heute macht vor allem die fehlende Rechtssicherheit den christlichen Gemeinden zu schaffen. Manche katholische Kirche ist im Stadtplan von Istanbul nur als Wasserentnahmestelle gekennzeichnet, und bis vor kurzem rangierten viele deutsche Priester nur als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Erst die Annäherung der Türkei an die Europäische Union hat den Druck auf den Staat erhöht: Beim Umgang mit religiösen Minderheiten kommt inzwischen endlich Bewegung in die festgefahrenen Strukturen, doch in vielen Fragen bleibt Ankara starr und unerbittlich.

    Das zwingt die Christen in der Türkei zu einem ständigen Spagat. Besuch in einem Dominikaner-Kloster in Istanbul.



    Allein unter Moslems - Das Dominikanerkloster in Istanbul
    Richard Nennstiel bewegt sich im Menschengewimmel der Istanbuler Flaniermeile Isticlal mit der Selbstverständlichkeit eines Zeitgenossen, der hier sein zweites Zuhause hat. In dieser zentralen Straße Istanbuls vermischt sich historisch Gewachsenes mit neuen, westlichen Einflüssen - Modeläden, Bäckereien, Fachgeschäfte für Musikinstrumente, ein deutsches Buchgeschäft, daneben die Niederlassung einer amerikanisch-protestantischen Glaubensgemeinschaft.

    Die Kirche St. Antoan ist baulich vom Rand der Straße zurückgesetzt ist. Plakate in mehreren Sprachen weisen die Zeiten der Gottesdienste aus - und belegen damit, dass dieses Gotteshaus noch von Christen genutzt wird. Das sei keine Selbstverständlichkeit , meint Pater Richard:

    "Kirchen, die nicht mehr in Funktion sind, fallen offiziell dem türkischen Staat zu. Um das zu verhindern, wechseln manche Gemeinde, und die Gottesdienste finden immer in andere Kirchen statt, so dass man dem Staat gegenüber beweisen kann, dass die Kirche noch immer betrieben wird."

    An der Fassade eines alten Wohnhauses in der Nähe der Kapuzinerkirche prangt in etwa acht Metern Höhe die überlebensgroße Figur einer Madonna. Sie wirkt nicht etwa wie ein Fremdkörper, sondern fügt sich wie gewachsen in das Gesamtbild der quicklebendigen Isticlal-

    "Die Mitbrüder haben beobachtet, dass in die Kirche immer wieder muslimische Frauen kommen. Und da Maria auch im Koran vorkommt, wenden sich eben viele Musliminnen - oder einige - an Maria, um ihre Gebete zu sprechen."

    Ausgerechnet an dieser Stelle, die Gemeinsamkeit zwischen Moslems und Christen symbolisiert, haben Glaubenseiferer einer amerikanisch-protestantischen Sekte für einen Eklat gesorgt: Sie verteilten Bibeln an Moslems. Die Folgen dieses Missionierungsversuchs, berichtet Richard Nennstiel, haben die Dominikaner bis heute auszubaden. In welcher Weise, wird er später im Dominikanerkloster demonstrieren.

    Das Kloster des Dominikanerordens in Istanbul liegt seit dem Jahr 1490 neben dem Galata-Turm, das heißt am südlichen Ende der Flaniermeile. Das Innere des Klosters hat die Ausstrahlung eines mediterranen Landhauses aus dem 19. Jahrhundert. Ein Klostergarten mit Orangenbäumen und Rosen, ein Speisesaal mit Gewölbe, einer altmodischen Uhr, die zum Essen ruft
    - die Patres, ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus halb Europa, sind bester Laune. Ein italienischer Pater will die Köchin foppen, die nebenan in der Küche das Essen vorbereitet. Sobald das Glöckchen erklingt, muss sie ihre Arbeit unterbrechen und im Speisesaal nachsehen, ob jemand etwas wünscht. "Jetzt werden Sie gleich sehen, wie jemand seinen Zorn sprühen lässt", sagt er und greift willkürlich zu dem Glöckchen

    Tatsächlich erscheint in der Tür eine ältere Türkin mit Kopftuch und grimmiger Miene. Sie scheint sprungbereit und wirft einen strafenden Blick in die Runde, - tatsächlich bleibt dem Gast verborgen, ob hier wirklich dicke Luft herrscht oder nur ein spielerisches Ritual zwischen Köchin und Patres abläuft. Jedenfalls tischt die Köchin liebevoll auf: scharf gewürztes Hühnchen, Spaghetti, Salat und türkische Nachspeisen.

    Dann ist der Speisesaal plötzlich leer, die Köchin verschwindet mit dem Geschirr in der Küche, wir hören ihre Stimme und das Geklapper. Pater Richard Nennstiel nimmt Platz auf einer Sitzgarnitur neben dem großen Fernseher. "Wir haben 900 Satellitenkanäle in Istanbul", sagt er leise und schaltet die Fernbedienung ein. Dann zappt der Pater durch die Programme. Hier gibt es fast nur Porno- oder Missionskanäle, sagt er leise mit einem skeptischen Blick Richtung Küchentür. Ein halbnacktes Mädchen erscheint auf dem Schirm, eilig zappt der Pater weiter, doch das Mädchen ist auch auf den anderen Kanälen präsent. Besser, die Köchin bleibt jetzt in der Küche.

    Endlich landet der Pater bei jenem Programm, das er angepeilt hatte. Während die Geräusche in der Küche verkünden, dass die Köchin bei der Arbeit ist, sehen wir einen in hellgrauem Anzug gestikulierenden Prediger mit einer Bibel in der Hand. Es handelt sich um einen Prediger einer angloamerikanischen Sekte - eben jener Glaubensgemeinschaft, die auf der Flaniermeile der Isticlal Bibeln verteilt hatten und damit das friedliche Miteinander von Moslems und Christen empfindlich gestört hatten

    Pater Richard: "Verteilen von Bibeln beziehungsweise das offene Missionieren ist ja in der Türkei und in allen Islamischen Ländern verboten."

    Reporter: "Und das hatte Folgen für Sie?"

    Pater Richard: "Folgen, dadurch, das die Polizei hier war und gefragt hat, wieso hier Christen Bibeln verteilen, wo sie doch wissen müssten, dass das in der Türkei verboten ist? Man musste ihnen klar machen, dass das eine evangelikale Gruppe aus den Staaten ist und nichts mit der katholischen Kirche zu tun hat."

    Wie ist das zu erklären - einerseits die verbindliche Zusage des türkischen Staates auf freie Religionsausübung, andererseits die hochsensible Reaktion auf den Missionierungsversuch durch die Sekte? Pater Richard kennt die geschichtlichen Hintergründe:

    "Das Empfinden ist, die Türkei ist ein einheitlicher Staat. Und sie hat große Angst und Befürchtungen, dass diese Einheit aufgebrochen wird. Sie empfindet jede Einmischung von außen - und für die Türkei ist eben auch die Missionierung oder das Dasein von Christen in der Türkei eine Bedrohung für die Einheit der Türkei."


    Istanbul darf man wohl getrost einen der ältesten Schmelztiegel der Welt nennen. Immer schon ein Zentrum mehrerer Weltreligionen war Istanbul immer auch ein begehrter Sitz der Mächtigen. Griechen, Römer, Osmanen - sie alle kamen, kämpften und siegten, einer nach dem anderen. Die Griechen waren die ersten: 660 vor Christus gründeten sie die Kolonie Byzanz. Umbenannt in Konstantinopel stieg die Metropole 395 nach Christus zur Hauptstadt des Oströmischen, also Byzantinischen Reiches auf. Die eigentliche Blütezeit der Stadt folgte im 6. Jahrhundert unter Kaiser Justinian I.. Er stärkte die orthodoxe Reichskirche, indem er den Patriarchen von Konstantinopel so viel Macht verlieh, dass sie in der Hierarchie direkt unter dem Bischof von Rom standen. 1453 kamen schließlich die Osmanen. Und sie blieben. Genauso wie die Christen. Nur sind sie im Laufe der Jahrhunderte durch ständige Diskriminierung zur Minderheit geschrumpft. 99 Prozent der Türken sind heute Muslime. Und das ist gut so, meint Ankara, und verbietet deshalb jeden christlichen Missionseifer.

    Gern gesehen ist indes das soziale und wohltätige Engagement der Gemeinden - zumal es im chronisch unterversorgten Gesundheitssystem der Türkei eine wichtige Lücke schließt. Das Spital der Barmherzigen Schwestern mitten in Istanbul genießt bei den Türken einen hervorragenden Ruf als modernes Privatkrankenhaus. Nur eines ist auch hier tabu: das Missionieren.


    Gesund werden im Sankt Georgs Spital
    Morgens früh um sechs in Galata. Durch das geöffnete Fenster eines frisch gestrichenen gelbfarbenen Gebäudes hallt das "Vater Unser" auf Türkisch hinaus in die steil abfallenden Gassen des alten Genuesen-Viertels von Istanbul. Die Barmherzigen Schwestern halten Morgenandacht in einem schlichten, mit Kreuz und Ikone zur Kapelle umgestalteten Raum. Zehn Frauen jeden Alters, angezogen in dunkelgrauer Ordenstracht, sitzen auf Holzstühlen im Kreis und stärken sich im Gebet für die Aufgaben des Tages.
    Die zehn Barmherzigen Schwestern aus Graz betreiben eines der ältesten Krankenhäuser der Stadt: das Österreichische St-Georgs-Spital, gegründet 1872 als Cholerastation auf ausdrücklichen Wunsch des Sultans, heute ein modernes Krankenhaus mit nur 35 Betten, aber ausgestattet mit fast allen medizinischen Abteilungen, von der Augen- bis zur Zahnheilkunde. Der Backsteinbau, der vor sechs Jahren eine moderne Erweiterung bekam, ist Teil eines kleinen österreichischen Ensembles unter dem Schutzheiligen Georg: Dazu gehören neben dem Krankenhaus auch die St-Georgs-Kirche und das gegenüber gelegene Gymnasium St. Georg, bis heute eine der besten Schulen Istanbuls.
    Die Oberin Schwester Heliodora macht sich auf den frühmorgendlichen Rundgang durch ihr Krankenhaus. Die Flure sind frisch gebohnert, auf Rollwagen wird das Frühstücksgeschirr leise aus den Krankenzimmern geschoben.
    "Wir haben oben groß dran geschrieben: Der Dienst am Menschen ist heilig. Das steht so auch im Koran. Der heilige Vinzenz hat gesagt: Wenn Sie mitten im Gebet sind und sie werden zu einem Kranken gerufen, so verlassen Sie das Gebet, denn sie werden Gott wieder finden im Angesicht des Kranken. Und auch im Koran ist so etwas Ähnliches. Zu uns kommen ja 90 Prozent Muslime. Und die meisten von ihnen sind ja so gottverbunden, und es kommt mir so vor, dass wir uns da immer wieder finden. Auch in der Früh, wenn wir unser Gebet beginnen und der Muezzin lädt die Menschen gleichzeitig zum Gebet, dann empfinde ich innerlich immer wieder ein Glücksgefühl, weil wir uns da ja wiedertreffen im Gebet vor unserem Herrn."
    Seit 20 Jahren leitet Schwester Heliodora das Krankenhaus St. Georg. Keine leichte Aufgabe: Denn in der Türkei ist das Missionieren unter Strafe verboten. Für ausländische Krankenschwestern gilt außerdem ein Berufsverbot. So bleiben die geistlichen Schwestern im Hintergrund, beaufsichtigen die weltlichen, helfen beim Betten machen und Putzen und kümmern sich um die Verwaltung.
    Auf einer Wartebank im Flur ist ein alter Mann eingenickt: sein Gesicht braun gegerbt, er trägt abgetragene, aber sauber geflickte Kleidung. Ein alter Bekannter, flüstert die Schwester, ein Obdachloser, der gerne hier seine Zeit verbringt, auch um Deutsch zu sprechen. 25 Jahre lang hatte er als Gastarbeiter in der deutschen Chemiewirtschaft gearbeitet, bevor er den Halt verlor und auf den Straßen Istanbuls landete:
    Dienst am Menschen - das bedeutet für die Schwestern vom St-Georgs-Krankenhaus, vor allem für die Ärmsten da zu sein. Ihr Haus ist das einzige, in dem die in Istanbul gestrandeten Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten kostenlos behandelt werden. Die Nächstenliebe der Schwestern hat sich unter den Ärmsten der Stadt herumgesprochen.
    Schwester Irene sitzt in der auf Brusthöhe verglasten Aufnahme und zählt Lirascheine. Sie muss jedes Mal entscheiden, ob einem Patienten "indirim", ein Kostennachlass, gewährt wird. Bei der Entscheidung über die Bedürftigkeit lässt sie sich von ihren türkischen Angestellten beraten:
    "Wenn sie glauben, die sind wirklich bedürftig - und die haben einen besseren Blick, die kennen ihre eigenen Leute -, dann fragen wir uns, wieviel Prozent kann man machen. Letztlich entscheiden wir. Denn der Betrieb kostet auch nicht wenig."
    Die Barmherzigkeit schlägt aufs Budget. Die Schwestern kommen mit zusätzlichen Kirchenspenden aus Deutschland und Österreich so gerade über die Runden, doch für neue medizinische Geräte fehlt ihnen das Geld.
    Schwester Heliodora betritt auf ihrem Rundgang das Zimmer eines siebenjährigen Mädchens, das an den Mandeln operiert worden ist. Die Mutter steht vor dem Bett und streicht ihrer Tochter über die Haare:
    "Es ist sehr schön hier, mit den staatlichen Krankenhäusern gar nicht zu vergleichen. Ich bin froh, dass wir mit unserer einfachen Versicherung hierher kommen können."

    Ein junge Krankenschwester mit kurzen, blondierten Haaren tritt hinzu:
    "Hier wird dem Patienten viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Hier steht das Geld verdienen nicht so im Vordergrund wie bei den anderen Privatkrankenhäusern. Die Krankenschwestern kümmern sich hier nicht allein um die medizinische Versorgung des Patienten, sondern um sein allgemeines Wohlbefinden: um sein Essen, seine Hygiene und sein Zimmer."

    Mit dem Fahrstuhl hinauf in den Ordenstrakt des Krankenhauses. Jede der zehn Schwestern besitzt soviel Platz wie ihre Patienten: nämlich ein Zimmer mit Nasszelle. Dazu ein Ess-Saal und die Kapelle. Hat dieses Missionskrankenhaus in der muslimischen Türkei eine Zukunft? Bei dieser Frage macht die Oberin ein noch sorgenvolleres Gesicht als sonst:
    "In Österreich, leider Gottes, wie überhaupt im Westen, gibt es bald keine Eintritte mehr, keine jungen Schwestern. Aber weil wir weltweit tätig sind, bekommen wir glücklicherweise Verstärkung aus Afrika und Asien. Wir haben im Krankenhaus schon Verstärkung bekommen von einer Schwester aus der Tschechei und eine Schwester aus Polen, so dass wir sagen können, es gibt jugendliche Schwestern, die unser Werk weiterführen können. Positiv ist auch, dass unsere Betriebsgenehmigung von den Behörden erneuert wurde. Wenn es der liebe Gott will, dass wir weiter bestehen, so werden wir es bestimmt."


    Distanziert bis argwöhnisch begegnet der türkische Staat den christlichen Gemeinden im Lande, ganz gleich, ob es sich um Protestanten, Katholiken, Griechisch-Orthodoxe, Assyrer, Armenier oder eine der vielen anderen Konfessionen handelt. Hinzu kommt die unaufgearbeitete Vergangenheit, vor allem der Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 und '16. Erst danach, nämlich 1923, wurde im Vertrag von Lausanne allen nicht-muslimischen Gruppen in der Türkei ein Minderheitenschutz garantiert. Aber der Effekt blieb relativ gering. Ganz anders auf der persönlichen, zwischenmenschlichen Ebene: Vielen Muslimen gefällt zum Beispiel die gelebte Nächstenliebe der Christen, die in der Diaspora besonders ausgeprägt ist. Unter anderem kümmern sich die Pfarrgemeinden um jene deutschen Frauen, die einen Türken geheiratet haben, und auf Wunsch des Mannes die deutsche gegen die türkische Staatsbürgerschaft getauscht haben.

    Scheitert die Ehe aber, sind die Frauen völlig auf sich gestellt. Ohne deutschen Pass bleibt ihnen die Einreise nach Deutschland verwehrt. Elke Tekin, eine gebürtige Rheinländerin, ist schließlich bei den Barmherzigen Schwestern gestrandet.


    Elke und ihre Schwestern - Letzte Zuflucht hinter Klostermauern
    Die Türen zu den einzelnen Wohnzellen stehen offen, dennoch vertreibt kein Luftzug die Hitze des Spätsommers aus den Gängen. Es ist früher Nachmittag. Der Ton eines Fernsehers schallt durch das Haus, gelegentlich hört man das Schlurchen von Schritten. Das Zimmer mit der Nummer 6 ist mit dem Namensschild versehen: "Tekin" steht auf einer Tontafel. Elke Tekin war deutsche Staatsbürgerin und ist Ende 50. Kurze Haare, lebendiger, manchmal etwas trotziger Blick, Ironie in den Augen. Elke selbst kann nach einem Schlaganfall kaum noch sprechen. Ihre Augen sind dennoch voller Temperament und Lebenswillen. Sie kann von Glück sagen, dass sie noch am Leben ist. Elke kramt aus einer Schublade ein Foto hervor, das sie als junges Mädchen zeigt.

    Damals, in jungen Jahren, hatte sie sich in einen Türken verliebt. Es folgte die glücklichste Zeit ihres Lebens - und zugleich ihr Leidensweg. Die Geschichte von Elke ist auch eine Geschichte der Sozialarbeit der christlichen Gemeinden in Istanbul - und schließlich auch die von Annemarie Medovic, einer in Istanbul geborenen Österreicherin, die als Mitglied der Pfarrgemeinde den Fall Elke betreut. Sie kennt Elkes Leben fast wie ihr eigenes - ihre Jugend in Deutschland, ihre Liebe zu einem Türken, ihre Heirat, das Leben bei ihren Schwiegereltern, brachte ihren VW Käfer in die Ehe ein und erlebte die glücklichste Zeit ihres Lebens. Mit ihrem Auto war sie bei den türkischen Nachbarn bekannt und bestaunt. Sie kann sich noch an die Reaktion erinnern, wenn sie durch die Dörfer fuhr, meint sie und schubst ihre Freundin an: Sag! Erzähl du die Geschichte!


    "Ach so, die Leute haben gestaunt wegen des VW Käfers. Sie war im Mittelpunkt. Dein Schwiegervater hat dich ja auch auf sein Polizeirevier mitgenommen, nicht wahr?"

    "Natürlich!"

    "Er war Oberkommissar, und da hat er sie vorgestellt als meine Schwiegertochter. Schaut, wen ich hier habe. Das ist eine Errungenschaft - eine Deutsche, die mit seinem Sohn hierher gekommen ist."

    "Waren das die glücklichsten Jahre ihres Lebens?"

    "Ja, ja."

    "Wie lange ging die Ehe gut?"

    "Sagen wir so, bis der kulturelle Unterschied zum Tragen gekommen ist."

    Nachdem die Ehe gescheitert war, zog sie sich zurück, vereinsamte, lebte in einem Schuppen bei Bandama in der Nähe von Istanbul , Hielt sich mit Nebenjobs knapp über Wasser. Es ging dennoch bergab mit ihrer Gesundheit

    "Dann hast du erzählt, du hast gemerkt, dass du Ziehen am Bein hattest. Und dann ist die Elke aufgewacht - stimmt das? - wollte duschen gehen, und dann war ihr komisch, und unter der Dusche-– pamm, hat sie es hingeworfen."

    Sie wurde mit einem schweren Schlaganfall - das ist jetzt etwa neun Jahre her - in ein Armen-Krankenhaus eingeliefert. Ein Arzt wurde auf sie aufmerksam und rief das Auswärtige Amt an - vergeblich. Elke hatte ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren, damit war ihr auch die Heimkehr nach Deutschland verbaut. Sie war am Ende. Der Arzt rief schließlich in der katholischen Pfarrei in Istanbul an. Dort wurde Annemarie Medovic auf den Fall aufmerksam. Die Einweisung in das Pflegeheim La Paix wurde organisiert, ihre Unterkunft durch Spendengelder sichergestellt. Doch ihr Zustand blieb kritisch, bis vor etwa einem Jahr ihr Lebenswille wieder erwachte.

    Elke fischt ein weiteres Kuvert mit Fotos aus der Schublade - in der Art, in der man eine wertvolle Schmuckschatulle öffnet. Sie weist auf ein Bild, welches das Ufer des Bosporus zeigt - neben dem Fluss vor einer Moschee ein Gartenlokal, daneben eine Kirche. Die frühere Rheinländerin kommt ins Schwärmen. Einmal in der Woche leistet sie sich den Luxus, mit ihrer Freundin Annemarie Medovic genau diese Stelle aufzusuchen , weil er sie an ihre verlorene Heimat erinnert.

    "Wenn nicht die Moscheen wären, sonst könnte man glauben, man ist am Rhein."

    Wie wäre es mit einem Abstecher dorthin? Und zwar gleich. Bei dem Vorschlag leuchten ihre Augen. Zehn Minuten später sitzt Elke auf dem Beifahrersitz, um dem Fahrer den Weg zu zeigen. Denn ihr Orientierungssinn ist absolut intakt, meint ihre Freundin Annemarie Medovic. Würden wir den Hauptverkehrsstraßen folgen, wir stünden eine kleine Ewigkeit in den berüchtigten Staus. Daher dirigiert Elke den Fahrer über die Schleichwege durch die Metropole. Sie kann nicht mehr sprechen. Also benutzt sie ihre Hände - und das funktioniert: Elke hält die ganze Zeit die linke Hand erhoben - etwa wie ein segnender Priester. Geht der Weg nach links oder rechts, senkt sie die Hand - scheinbar huldvoll - in die angesagte Richtung. Der Fahrer folgt wortlos, Seine Mimik zeigt Respekt. Nach 20 Minuten sind wir da.

    Stadtteil Ortakoi, am Ufer des Bosporus, wo die südliche der beiden Hauptbrücken nach Asien führt. Die Ähnlichkeit mit dem Rhein ist an dieser Stelle tatsächlich verblüffend - wäre da nicht der Gebetsruf aus der Moschee, die Illusion wäre annähernd perfekt. Das Ufer Asiens mag von hier nur um die 3000 Meter entfernt liegen, dahinter erhebt sich eine sanfte, grüne Hügellandschaft und alter Baubestand.

    Die Menschen sitzen unter schattigen Bäumen in einem Cafe, man trinkt Tee, isst Kuchen. Es ist ein friedlicher Ort, der die Illusion von Nestwärme vermittelt. Wie lange war sie nicht mehr am Rhein?

    "Lange, lange her - über 30 Jahre!"

    "Heimat ist da, wo jemand da ist, der einen gerne hat."

    Es ist in jedem Augenblick spürbar - ihre Mimik, ihre Körpersprache - für Elke ist es keine Selbstverständlichkeit, hier zu sitzen. Dieser Platz am Ufer des Bosporus - er steht für ihr zweites, neu gewonnenes Leben.
    Während die Lichtstrahlen der Sonne in den Ästen der Bäume spielen, lehnt sich Elke Tekin zurück und blickt auf den gewaltigen Fluss, an dessen jenseitigem Ufer Asien beginnt. Sie will in diesem Moment nicht sprechen, lächelt nur still in sich hinein und genießt den Frieden des Augenblicks; ein Lebensgefühl , das ihr vor Jahrzehnten abhanden kam. Nach Hause - nach Deutschland –-will sie nun nicht mehr.


    1923 rief Mustafa Kemal in Ankara die Republik aus. Atatürk ist auch der Vater des türkischen Laizismus, der Trennung von Staat und Religion, die 1937 in der Verfassung verankert wurde. Die starre Trennung zählt zusammen mit dem Nationalstaatsgedanken zu den wichtigsten Grundsätzen des Kemalismus. Dessen Vertreter in Militär und Verwaltung betrachten alles Religiöse bis heute als Bedrohung für den Nationalstaat, außer sie kontrollieren die Religion selbst. Das hat zu einem merkwürdigen Widerspruch geführt: Die Religion mischt sich zwar nicht in die Politik ein, die Politik aber wohl in die Religion. Was Jahrzehnte lang gut ging, wird nun mit der wachsenden Annäherung der Türkei an die Europäische Union zu einem immer größeren Problem. Wo man ein Kopftuch tragen darf und wo nicht, ob man als katholischer Priester arbeiten darf oder nicht, all das bestimmt der türkische Staat. Vielen Türken und erst recht den religiösen Minderheiten geht das inzwischen zu weit. Sie empfinden Religionsfreiheit in der Türkei als Summe von Verboten. Doch gerade die Atatürk-treuen Nationalisten, die an diesem Prinzip festhalten wollen, sind im Aufwind. Das seit letztem Jahr deutlich abgekühlte Verhältnis zur EU spielt den Kemalisten heute in die Hände. Die pro-europäischen Reformkräfte im Lande haben derweil das Nachsehen.

    Der Publizist und Islamwissenschaftler Günter Seufert lebt seit gut zehn Jahren in Istanbul. Mit ihm dort ein Interview zu führen, ist indes schwieriger als gedacht.


    Interview mit Hürden - Ein Gespräch in Istanbul mit dem Islamkenner Günter Seufert
    Wer sich treiben lässt ins Gassengewimmel des Vergnügungsviertels Beyoglu, der findet - je weiter er eintaucht - Ruhe und Beschaulichkeit zwischen abenteuerlich schiefen Wohnbauten und verschachtelten Häusern, dazwischen eine Kirche in victorianischem Baustil aus hellgrauem Stein, umspielt vom hellen Grün der Laubbäume. Das Forum dieser Kirche wäre ein Ort, in dem wir uns in Ruhe unterhalten und unser Gespräch aufzeichnen könnten. Günter Seufert ist der ehemalige Leiter der Istanbul-Abteilung der deutsch-morgenländischen Gesellschaft sowie freier Publizist. Ein junger Inder, der sich als Mitarbeiter der Kirchenverwaltung vorstellt, sieht das Mikrofon und bittet uns, die Kirche zu verlassen. Am besten das gesamte Grundstück.
    Wir werden einen anderen Ort für unser Gespräch finden, meint Günter Seufert und geht voran. Ganz in der Nähe liegt der Orden der tanzenden Derwische, eine Religionsgemeinschaft, die in der Türkei nur als Kulturverein auftreten darf. Dort gibt es einen kleinen, ruhigen Platz vor einem Museum.

    Doch dort erleben wir dasselbe Spiel. Günter Seufert redet freundlich auf den Mann ein. "Ich bin ein Zeitungsmitarbeiter", sagt er, "kann ich hier mit einem Freund aus Deutschland, nur auf einer Bank sitzend, sprechen?" "Nein", sagt der Pförtner. "Das Museum ist geschlossen." "Aber die Tür ist doch offen", meint Seufert. "Es ist geschlossen", sagt der Pförtner.

    Entnervt gibt Peter Seufert auf. Dies ist nicht mehr das Istanbul, das er kennt. Die Menschen sind nervös, egal, wo wir die Aufnahmen machen wollen. Man fürchtet, dass da etwas in die Öffentlichkeit gespielt wird, was sich als Zündstoff erweisen könnte. Wir gehen zurück Richtung Isticlal, ein Eckhaus mit der Aufschrift "Deutsches Caffee". Die Inhaberin ist eine Türkin, die in Deutschland gelebt hat. Es ist eine umtriebige und laute Stelle. Wir setzen uns ins Freie, Passanten hasten vorbei. Günter Seufert, von ihm erwarten wir Aufschluss, warum etwa macht es der türkische Staat den Kirchen so schwer, einen Status rechtlicher Sicherheit zu erlangen? Das, meint Günter Seufert, hängt mit dem Gefüge des einst osmanischen Staates zusammen.

    "Irgendjemand hatte Eigentumsrechte- zum Beispiel an einer Stiftung - und hat davon eine Koranstiftung betrieben. Das heißt, es war eine Mischung aus einer Bürokratisierung der Religion und freier gesellschaftlicher Organisation der Religion, die aber privatrechtlich und eigentumsrechtlich geregelt war. Die Gründung der Republik hat die Religion total verstaatlicht, total bürokratisiert, insofern, als die muslimische Religion betroffen ist. Das heißt, heute ist alle öffentliche Äußerung des Islam staatlich vorgeformt."

    Die Islamische Religion wurde also verstaatlicht, andere wie die christliche dagegen erhielten nur die Zusage, ihre Religion in Freiheit ausleben zu können. Was aber seit 80 Jahren fehlt, sei ein rechtlicher Status, der den Gemeinden gegenüber dem Staat Sicherheit bieten könnte. Doch eben das fordert die EU in den Beitrittsverhandlungen. Was stellt der Christ dar aus der Sicht des türkischen Staates?

    "Wir erleben in diesem Prozess eine Politisierung von religiöser Identität, in der der religiös andere, der Christ letzten Endes nicht als Mitreligiöser wahrgenommen wird. Niemand, mit dem man im interreligiösen Dialog verkehren könnte, mit dem man gemeinsame ethische Anschauungen teilen, könnte, sondern die Masse, der Staat vor allem erlebt ihn als potenziellen Agenten des nach wie vor feindlichen Westens."
    Ob dieses Feindbild nicht zu überdenken wäre – angesichts der gewünschten Aufnahme in die Europäische Union? Günter Seufert lehnt sich zurück und atmet tief durch.

    "Man will trotzdem in die EU. Ja, man darf die Türkei genauso wenig wie Deutschland oder die Europäische Union nicht als einen Akteur verstehen. Sondern so, wie in Deutschland Leute da sind, die für den Beitritt der Türkei sind und die ihre Gründe haben, wirtschaftliche, strategische, kulturelle. Wir haben genauso Kräfte, die gegen den Beitritt der Türkei sind - das ist die Diskussion, die die Türkei im Moment wohl am meisten bewegt, wo soll es hingehen mit uns - EU, ja oder nein?"

    Gegenüber unserem Standort, aus der Endstation der Tunnelbahn, quillt nun erneut eine Menschenmasse und verteilt sich auf der Flaniermeile. Wie vielschichtig das Erscheinungsbild der Menschen ist in dieser Stadt, wird in solchen Momenten deutlich - Männer in grauen Jacken, langen Bärten und mit scheuen Blicken. Eine junge Frau mit Kopftuch und Stöckelschuhen - sie läuft im Stechschritt. Ein alter, zerlumpter Mann, der Passanten neugierig mustert. Der Anzugträger mit Laptop. Studenten in Jeans, die aussehen wie junge Leute aus irgend einer beliebigen europäischen Metropole. So gegensätzlich wie dieses Erscheinungsbild, meint Günter Seufert, ist die Auffassung der Menschen in der Türkei zum Beitritt in die EU.


    Nach vier Jahrzehnten Schlange stehen hat die Türkei Ende 2004 den Zuschlag erhalten für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Europäischen Union. Derzeit ist allerdings fraglicher denn je, ob das 72-Millionen-Volk jemals EU-Mitglied sein wird. Der Ton ist in letzter Zeit schärfer geworden zwischen Brüssel und Ankara. Aber es gibt Lichtblicke. Diese Woche hat die türkische Regierung zumindest in Aussicht gestellt, die seit 30 Jahren geschlossene Priesterschule für orthodoxe Christen in Istanbul wieder zu eröffnen. 2004, so sagen die Kritiker heute, da war der Reformeifer der Türken indes viel ausgeprägter. Und die EU gab damals das Tempo vor: Die Unterdrückung der Christen müsse ein Ende haben, so die unmissverständliche Forderung aus Brüssel. Und Ankara statuierte ein Exempel.

    Tatort Antalya, 14.ßßß deutsche Dauergäste haben sich in der Region niedergelassen. Und viele von ihnen kommen regelmäßig in die Gemeinde Sankt Nikolaus. Auf türkischem Boden ist sie die erste christliche Kirche, die offiziell anerkannt ist, wenn auch nur als Verein. Eine Erfolgsgeschichte der kleinen Schritte, von der türkischen Mittelmeerküste.


    Christen als Pioniere - Sankt Nikolaus in Antalya, die erste offiziell anerkannte Kirche auf türkischem Boden
    "Nun jauchzet dem Herrn alle Welt, kommt her zu seinem Dienst euch stellt." In Antalya, Straße 1295, Hausnummer 29 wird laut und vernehmlich Gott gelobt. Der Gottesdienstraum diente einst als Internetcafe. Seit drei Jahren kommt hier jeden Sonntag um 11 Uhr die deutschsprachige Gemeinde von Antalya zusammen. "St-Nikolaus-Kirche" steht unübersehbar draußen neben der hölzernen Eingangstür, in die ein großes, fensternes Kreuz eingelassen ist. Rund 20 Besucher haben sich auf den gepolsterten Stühlen niedergelassen. Am Ende des Raumes ein roter Vorhang, in dessen Mitte der Gekreuzigte hängt. Der Holzaltar steht auf einem türkischen Kilim, und am Predigtpult prangt eine St-Nikolaus-Ikone aus Ton. Dahinter steht in gestärktem, weißen Talar Prälat Rainer Korten und predigt über die Suche nach Gott, wie es im Evangelium des Johannes, Kapitel 6. gelehrt wird.
    Die resolute Haltung, mit der Korten seine Gemeinde zur Glaubensfestigkeit aufruft, hat dem 64-jährigen Geistlichen auch vor den türkischen Behörden zu einem historischen Erfolg verholfen: St. Nikolaus ist die erste Neugründung einer christlichen Gemeinde in der Türkei der Neuzeit, Genehmigung durch den türkischen Staat unter der Nummer 07.019.119. Und Rainer Korten ist der erste deutsche Pfarrer, der mit einer offiziellen Arbeitserlaubnis als Seelsorger einreisen durfte. Der politische Druck aus Berlin und Brüssel haben das möglich gemacht, erinnert sich Korten nach dem Gottesdienst:
    "Ja, das war im Jahre 2003 als ich hier herkam. Damals stand ja die Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen der EU mit der Türkei unmittelbar zuvor. Und das war der Versuch, dann eben zu sagen: Wenn in Deutschland über 1000 Imame tätig sind, dann muss es doch, liebe Türkei, wohl auch möglich sein, dass die Dauerresidenten und Touristen, die ja auch euch hier wesentlich stützen, wenn sie es möchten, als Christen ihren Glauben leben und zusammenkommen können."
    Nach dem Gottesdienst gibt es im Pfarrgarten, einem von Blumenrabatten gesäumten Kieshof, Apfelkuchen und deutschen Filterkaffee. Hohe Mauern trennen das Kirchengrundstück von den Nachbarn. Inge Notz sucht mit ihrer Kaffeetasse unter einem großen Gartenschirm Schutz vor der brennenden Sonne. Der fröhlich wirkenden, braungebrannten Frau sind die 77 Lebensjahre nicht anzusehen. Vor 13 Jahren ließ sich Notz mit ihrem Mann in Antalya nieder. Ein Arzt in München hatte ihrem an Blutkrebs erkrankten Mann wärmeres Klima empfohlen. In Antalya lebte er dann noch ganze fünf Jahre länger, als es ihm deutsche Ärzte vorhergesagt hatten. Inge Motz ist nach dem Tod ihres Mannes an der türkischen Riviera geblieben - dankbar, dass es in der Stadt die deutsche Gemeinde gibt:
    "Ich komme jeden Sonntag herunter, die 20 Kilometer. Dann noch alle 14 Tage dienstags zum Sprechtag. Da kommt man zusammen und spricht über irgendein Thema. Ich bin früher wenig in die Kirche gegangen. Weihnachten, Ostern oder wegen der Kinder. Aber nach deren Konfirmation ist man dann nicht mehr so oft gegangen. Aber hier in der Fremde... Und vielleicht hat es auch mit dem Alter zu tun."
    Inge Motz ist evangelisch, doch das darf keine Rolle spielen in der St-Nikolaus-Kirche. Pfarrer Kortens Gottesdienste sind ökumenisch - eingeladen ist jeder Christ, ob katholisch, protestantisch, freikirchlich oder einfach nur neugierig. Das weiß auch die ansonsten strenge Deutsche Bischofskonferenz, die die Gemeindearbeit in Antalya weitgehend finanziert. Rechtlich organisiert ist die Gemeinde als Verein St. Nikolaus - und beim Stichwort "Verein" schlägt Pfarrer Korten die Hände über seinem schlohweißen Haupthaar zusammen.
    "Hier einen Verein zu gründen, da muss man sehr gesunde Nerven haben. Mit einer solchen Fülle von Vorschriften, ein so langwieriger Prozess, der eines demokratischen Staates eigentlich unwürdig ist. Und wenn ich bloß ein Telefon anmelden will, brauche ich vom Vorstand fünf Unterschriften, dass ich das überhaupt darf."
    Pfarrer Korten und Waltraud Kartca steigen die Treppe über dem Altarraum hinauf. Sie führt zur Bücherei der Gemeinde. 5000 Bücher, aus Deutschland gespendet und ehrenamtlich verwaltet von der resoluten Dame im Kurzhaarschnitt. Sachbücher, besonders Rezeptsammlungen aus deutscher Küche, seien sehr beliebt, berichtet Frau Kartca und zeigt auf den farbigen Bildband "Deutsche Blechkuchen".
    "Es bedeutet mir einfach, den deutschsprachigen Mitbewohner hier die Möglichkeit zu bieten, an Literatur heranzukommen. Und es bedeutet mir darüber so eine Art Kontaktstelle für Deutsche."

    Mit anerkennendem Lächeln hört Pfarrer Korten der Bibliothekarin zu. Als Seelsorger weiß er gut, warum Angebote wie eine Bücherei bei den Deutschen in Antalya auf so großes Echo stoßen. Die meisten deutschen Dauergäste in Antalya sind im Rentenalter, manche haben alle Brücken in die Heimat hinter sich abgebrochen:
    "Ich habe jetzt gerade wieder eine Frau, die sagt, ich weiß nicht mehr, wie lange ich das noch durchhalte, nicht weil es ihr in der Türkei nicht gefiele, sondern wegen der Vereinsamung. Das ist ein Problem. Das zweite ist die Unruhe vieler Menschen, die merken, das Leben geht zu Ende und die sagen: Und? War das jetzt alles? Kommt da noch etwas?"
    Wieder zurück im Garten streicht eine räudige Katze zutraulich um die hellen Hosenbeine des Geistlichen. Fünf Monate musste Korten zuletzt auf die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung warten, neunmal sprach er dafür bei der Fremdenpolizei vor. Doch dann hellt sich Kortens empörtes Gesicht wieder auf:
    "Ich muss sagen, ich bin sehr gern hier in der Türkei, weil ich feststelle, dass hier noch viele gesellschaftliche Bereiche natürlich und gesund sind. Die Gemeinschaftskultur, Familienkultur und manches mehr. Hier sehe ich, wie vieles auch im täglichen Leben vom Islam beeinflusst ist - positiv beeinflusst ist, wobei es sicher auch Negatives gibt. Aber das verhindert doch, das alles in lauter Beliebigkeiten zerfällt."
    Pfarrer Korten schließt die Kirchentür hinter sich zu. Beim Gehen winkt er einem Nachbarn der Kirche zu. Vergangene Ostern bekam die Gemeinde von einem Blumenhändler aus ihrer Gasse 700 Gerbera für den Osterschmuck geschenkt. Zwei Häuser von der Nikolaus-Kiche entfernt sitzt ein älterer Herr vor einem Textilgeschäft und liest Zeitung. Beim Stichwort "Deutsche Kirche" blinzelt er lächelnd in die Mittagssonne:
    "Eine schöne Sache, dass es bei uns nebenan eine Kirche gibt. Die kommen zum Beten zusammen und manche kaufen nachher auch schon mal bei mir ein. Ich kenne den Pfarrer und die Damen von der Bibliothek. Nein, wirklich nett."